dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Geschichte Russlands - Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution

Manfred Hildermeier

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2013

ISBN 9783406645525 , 1503 Seiten

2. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

49,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

Einleitung


Jedes Buch sollte sagen, was es will. Gesamtdarstellungen mit begrenztem Umfang sind um so eher dazu angehalten. Sie können in der Sache selten Neues bringen, ihr ‹Mehrwert› muss primär in der Interpretation und im Zugriff, in der Auswahl aus der Überfülle des Stoffes und in seiner Präsentation liegen. Dieser Genrecharakter öffnet das Tor, durch das der vielzitierte Zeitgeist mit den Errungenschaften oder auch nur Vorlieben einer Generation und einer bestimmten politisch-kulturellen Situation eintreten kann. Nicht nur neue Funde und Erkenntnisse geben periodisch – eigentlich jeder Generation – Anlass, historische Darstellungen neu zu schreiben, sondern auch ihre methodisch-erkenntnistheoretische Eigenart. Anders als in den Naturwissenschaften vollzieht sich geisteswissenschaftlicher Fortschritt nicht primär linear. Vielmehr bewegt er sich spiralförmig, kommt häufig auf alte Gegenstände und Untersuchungsfelder zurück, betrachtet sie aber jedesmal aus einer anderen Perspektive und von einer anderen Höhe aus. In neokantianischen Kategorien gesagt, verbirgt sich dahinter die komplizierte Beziehung zwischen «Wirklichkeit» und «Wertideen». Selten ist sie plastischer und treffender formuliert worden als in jenem bekannten Bild vom Licht der «Wertideen», das «jeweils auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen» fällt, «der sich durch die Zeit wälzt».[1]

Die letzte deutschsprachige Gesamtdarstellung, die mehrere Generationen von Fachleuten und sonstigen Interessenten geprägt hat, datiert aus einer Zeit, als die wissenschaftliche historische Osteuropaforschung noch kaum begonnen hatte und die Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte an den Universitäten gerade erst Gestalt annahm.[2] Dies hat zu dem verbreiteten Eindruck beigetragen, dass ein neuer Versuch überfällig sei. In jüngster Zeit sind mehrere, nach Anspruch und methodisch-inhaltlicher Akzentsetzung unterschiedliche (überwiegend auch die Sowjetzeit einschließende) unternommen worden.[3] Das vorliegende Buch gehört ebenfalls dazu.

Was es leisten soll, ergibt sich aus dieser Sachlage von selbst. Es soll die russische Geschichte von ihren Anfängen bis zur Oktoberrevolution in gedrängter Form darstellen und dabei weder die Lesbarkeit noch den Informationsstand des interessierten Laien als exemplarischen Adressaten aus den Augen verlieren. Es soll die spezifischen Entwicklungen und Gestalten der russischen Geschichte hervorheben und dabei die Forschungsinteressen und -methoden der letzten Jahrzehnte insofern aufnehmen, als es deren Untersuchungsfelder und Ergebnisse gebührend berücksichtigt. In jeder dieser Hinsichten soll es eine Synthese anstreben, die ihre Aufgabe nicht als Meinungslosigkeit missversteht und sich nicht auf bloße Fakten zurückzieht. Vielmehr sieht es sein Ziel darin, balanciert Stellung zu beziehen und dabei Grundprobleme aufzugreifen, die kaum zufällig nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neue Aktualität gewonnen haben.

Dazu zählt allen voran die Gretchenfrage der russischen Geschichte insgesamt: die nach ihrem Verhältnis zu Europa, das spätestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts als eines der Rückständigkeit verstanden wurde. Was immer man von diesem Begriff und der Betrachtungsweise hält, die sich damit verbindet – die Einsicht, dass seine bloße Zurückweisung und Ignorierung nicht weiterhilft, sollte ein Gemeinplatz sein. Sie gehört daher zu den Prämissen und Antrieben der vorliegenden Darstellung. Rückständigkeit ist nicht nur eine historiographische Interpretationsfigur, sondern wurde auch zu einer Kategorie der Selbstwahrnehmung der russischen Eliten und zur Leitidee vieler Reformen. So gesehen avancierte sie nicht nur zu einem Quellen-, sondern sogar zu einem «Grundbegriff» der «geschichtlichen Bewegung» selber.[4] Zwar war «Russland und der Westen» der Sache nach primär ein Problem der späten Neuzeit; aber die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, die seine Klärung zum Inhalt russischer Selbstfindung machte, gab ihm zu Recht eine weiter zurückreichende Dimension. Wer die Asymmetrie begreifen will, in der sich das Zarenreich spätestens seit Peter dem Großen sah, muss ihre Voraussetzung zu verstehen suchen und wird nicht umhin können, ihrem vielfachen Gestaltwandel in den nachfolgenden beiden Jahrhunderten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. In diesem Sinn fühlt sich die vorliegende Darstellung dem zitierten Motto verpflichtet: dass sich die Geschichte Russlands ganz überwiegend «in Europa» vollzog und das Zarenreich in der Tat mehr und mehr trotz bleibender Besonderheiten zu einer «europäischen Macht» wurde.[5]

Bei alledem zeigt schon ein Blick auf die Landkarte, dass Russland früh auch ein Teil Asiens wurde und eine asiatische Geschichte hatte. Damit hängt zusammen, dass der Staat auf seinem Boden ethnisch alles andere als homogen war. Vielmehr gehörte er bis zu seinem Untergang – und in Gestalt der Sowjetunion letztlich bis zu deren Zusammenbruch – zu den großen Vielvölkerreichen Europas und der Welt. Das wirft die Frage auf, in welchem Maße dieser Tatbestand in einer Darstellung Berücksichtigung finden sollte. Die Antwort hängt, wie immer, von deren Art und Absicht ab. Natürlich gibt es gute Gründe, den imperialen und multinationalen Charakter des Zarenreichs wieder stärker in den Blick zu nehmen, wie das in jüngerer Zeit unter dem Einfluss der Globalgeschichte und transnationaler Forschungsperspektiven geschieht. Nur muss sich jede Darstellung entscheiden; angesichts des begrenzten Raums, der ihr in aller Regel nur zur Verfügung steht, und weil sie bestimmten Leitperspektiven folgen sollte, kann sie nicht beides tun. Die hier verfolgte Absicht, die Grundlinien und -elemente der russischen Geschichte deutlich zu machen, lässt dabei nur eine Sehweise zu, die vom Zentrum ausgeht. Die Sentenz ist klassisch, dass man das Wesen eines Tausendfüßlers nicht von den Füßen her erfassen kann, so wichtig und kennzeichnend sie auch sein mögen. Das Russische der folgenden russischen Geschichte soll daher zwar nicht eng gesehen werden, sich aber doch auf das ostslavische Siedlungs- und Herrschaftsgebiet beschränken. Dieses war im Wesentlichen identisch mit den Nachfolgestaaten der Kiever Rus’ und den früh im Zuge der Entstehung des Moskauer Reiches vereinnahmten Regionen westlich des Ural sowie nördlich des Schwarzen und des Kaspischen Meeres. Auch hier lebten (und leben bis in die Gegenwart) nichtslavische und nichtchristliche Minderheiten, aber nur in kleinen Enklaven und ohne nennenswerten Einfluss auf die Gesamtstruktur und die zentralen Weichenstellungen der politischen, sozioökonomischen und kulturellen Entwicklung. Man sollte in einer solchen Vorentscheidung keine vorgängige, gleichsam methodische Legitimation großrussischer Hegemonie sehen, sondern im Gegenteil eine angemessene Bescheidung. Wissenschaftlich solide und kompetente Darstellungen der Geschichte der riesigen russischen (und sowjetischen) Peripherie sind allemal überfällig; aber sie passen nicht in den engen Rahmen einer einbändigen Gesamtübersicht der historischen Entwicklung des Zarenreichs und seiner Vorläufer.

Zweck und Umfang müssen auch darüber entscheiden, wie ein solches Werk zu gliedern sei. Epochal haben sich bestimmte Konventionen herausgebildet, die einiges für sich haben. So gibt es keinen wirklich überzeugenden Grund, das Kiever Reich trotz der Verlagerung seines Machtzentrums nach Zentralrussland (Vladimir) – als Indiz auch der Migration der Bevölkerung – nicht als eigenen chronologischen wie sachlich-inhaltlichen Abschnitt in der Herausbildung russischer Staatlichkeit und Kultur zu betrachten. Auch die tradierten Anfangs- und Enddaten vermögen einzuleuchten. Die Kiever Rus’ (I) nahm um die Mitte des 10. Jahrhunderts staatliche Gestalt an und ging definitiv unter, als die mongolischen Eroberer nach den aufstrebenden Städten an der oberen Wolga auch die alte Hauptstadt am Dnepr dem Erdboden gleichmachten (1240). Desgleichen spricht alles für das übliche Verfahren, die Oberherrschaft der «Goldenen Horde» samt deren Zerfall und dem endgültigen Aufstieg des einst unbedeutenden Fürstentums Moskau zum Oberherren über das «ganze russische Land» ebenso als ungefähre Einheit (II) zu betrachten wie die nachfolgende «Moskauer Periode» (III). Allerdings stellt sich bei Letzterer das Problem, wann man das Ende ansetzen soll. Die Krönung Ivans IV. zum ersten russischen Zaren (1547) als äußere Manifestation der Entstehung eines unabhängigen Gesamtstaates auf russischem Boden markiert sicher einen plausiblen Beginn. Aber wohin die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts gehört, ist im Licht der Befunde der letzten Jahrzehnte fraglich geworden. Der Einbruch westlicher Ideen unter Peter dem Großen war offenbar weniger präzedenzlos und abrupt, als man lange Zeit gemeint hat. Umgekehrt bewahrte das petrinische Reich bei allem Aufbruch viele altrussische Eigenarten. Es gibt also gute Gründe, das 17. Jahrhundert nicht nur als Zenit «Moscowiens», sondern seine letzten Jahrzehnte auch bereits als Periode des Übergangs und beginnender...