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Das blaue Kleid

Doris Dörrie

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603835 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

An ihrem ersten Morgen auf Bali erwachte Babette von einem schlurfenden Geräusch, das im Rhythmus immer gleichblieb und sich nur langsam näherte. Mit unglaublicher Präzision fegte da jemand die Wege. Immer im gleichen Takt. Swusch, swusch, swusch. Ein Vogel gab einen Laut von sich wie ein klingelndes Handy. Mit der einen Hand schob sie den schweren Vorhang zur Seite. Das Licht traf ihre Netzhaut wie ein Messer. Erschrocken fuhr sie zurück, blinzelte in den Tropentag. Blutrote Hibiskusblüten [85] wiegten sich vor tiefgrünen Blättern. Ein Schmetterling so groß wie eine Untertasse segelte vorbei. Überwältigt schloß Babette wieder die Augen. Einen grauen Regenmorgen konnte sie in der Früh verkraften, aber nicht diese aufdringliche tropische Pracht. Sie hörte Fritz aus dem Klo kommen, sie roch seinen pelzigen Schlafgeruch, als er näher kam und vor ihrem Bett stand.

Verblüfft blickte er auf sie herab. Nackt und großartig wie die Maja von Goya lag seine Frau da. Die Luft des Deckenventilators spielte mit einer Haarsträhne an ihrer Schläfe. Ihre Haut glänzte prall im hellen Licht. Vielleicht könnte er sie zu ein wenig Liebe überreden. Nicht jetzt, am Morgen, da war sie meistens schlecht gelaunt, aber nachmittags, in der größten Hitze, da sollten sie sich sowieso zurückziehen, und am besten noch heute, bevor sie den unvermeidlichen Sonnenbrand bekäme und er sie mehrere Tage lang nicht anfassen konnte, ohne daß sie aufheulte.

Er konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Sie erschien ihm in diesem Licht so fremd und deshalb erstaunlich attraktiv. Ihm war klar, daß sie auf dem besten Wege war, sich von ihm abzuwenden. Insgeheim hatte er sich vorgenommen, ihr zuvorzukommen. Das würde den Schmerz mindern. Er streckte die Hand nach seiner Frau aus. Sie spürte den Lufthauch auf der Haut.

Bitte nicht anfassen, dachte sie. Ich will nicht, daß du mich anfaßt. Ich will es nicht!

Er überlegte kurz, wohin er seine Hand legen sollte, am liebsten hätte er sie auf ihre großen, schneeweißen Brüste gepreßt, aber damit hätte er ein besonders unwirsches Erwachen ihrerseits riskiert, also ließ er sie auf ihren weichen [86] Oberarm sinken. Seine Hand fühlte sich klebrig an wie die Patschpfote eines Kindes.

Babette, flüsterte er. Sie ließ ihn warten.

Babette, sagte er eine Spur lauter, es ist das wunderschönste Wetter da draußen.

Trottel, dachte sie, wir sind schließlich in den Tropen.

Er schüttelte sie sanft. Langsam klappte sie die Augen auf.

Ja? sagte sie künstlich verwirrt. Sind wir schon da?

Wie zu erwarten, lachte er.

Babette hatte in langen Ehejahren gelernt, ihren manchmal überraschend aufwallenden Widerwillen durch ein wenig Schauspielerei in Ersatzliebe zu verwandeln. Dazu brauchte sie nur das verwirrte Mädchen zu spielen, und wenn sie Glück hatte, war Fritz davon so angetan, so überströmend zärtlich, daß sie sich davon wiederum rühren ließ.

Prompt beugte er sich über sie und kitzelte ihr mit seinen schon ein ganz klein wenig schütter werdenden Haaren den Bauch.

Denk mal nach, sagte er. Liegst du etwa splitterfasernackt im Flugzeug?

Sie kicherte zur Probe. Ermutigt ließ er sich auf sie fallen.

Fritz, stöhnte sie und streckte sich unter ihm. Um ihn nicht zu enttäuschen, kicherte sie abermals, bevor sie sagte: Laß mich.

Ernüchtert richtete er sich auf. Es ist fast acht, sagte er. Ich bin schon seit sechs Uhr auf. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön …

Bitte nicht erzählen, fiel sie ihm ins Wort, untersteh dich!

Dann nicht.

Ich will es selbst sehen, okay?

[87] Es wird bald sehr heiß werden.

Wir sind ja schließlich in den Tropen.

Dir wird sehr heiß werden.

Mir wird sehr heiß werden, wiederholte sie träge. Sie sahen beide aus dem Mückenfenster in den Garten. Guck mal, sagte er, da! Ein riesiger Schmetterling!

Ja.

Ist das nicht unglaublich, wie groß der ist?

Ja.

Du brauchst einen Kaffee.

Ja.

Sie stand auf und ging die Treppe hinunter. Noch auf der ersten Stufe fiel ihr Blick in den geöffneten Koffer von Herrn Shun. Hatte Fritz gar nicht bemerkt, daß sich Männersachen in ihrem Koffer befanden?

Im Vorbeigehen schlug sie den Deckel zu. Putzte sich mit Fritz’ Zahnbürste die Zähne. Kämmte sich mit den Fingern, dem Kamm der Meerjungfrauen, wie ihre Mutter das genannt hatte, die Haare. Auf keinen Fall würde sie ihre stinkenden Flugzeugklamotten wieder anziehen. Und von Fritz konnte sie sich noch nicht mal ein T-Shirt ausleihen, ohne es zu sprengen. Während sie noch nach Vorwänden suchte, war ihr bereits klar, daß sie eins der feinen hellblauen Oberhemden von Herrn Shun anziehen würde, dazu eine seiner weißen Baumwollhosen, die konnte sie im Bund rollen, dann würden sie schon passen. Oder vielleicht doch das weiße Judooberteil? Aber das wäre zu offensichtlich. Das würde selbst Fritz auffallen.

Es war so heiß, daß ihr das Atmen schwerfiel. In der Ferne flirrte das Meer. Der Pool gleich neben dem [88] Frühstücksrestaurant schwappte faul schmatzend über seine Ränder. An niedrigen Bambustischen saßen vornehmlich japanische Liebespaare, die Frauen mit Kinderfiguren in Häkelbikinis, die Männer mit Ziegenbärten und buntgefärbten Sonnenbrillen. Alle, alle jung, dünn und schön.

Babette entfuhr ein tiefer Seufzer, den Fritz zustimmend nickend als Begeisterung interpretierte. Kaum hatten sie sich an einen dieser kleinen Tische gesetzt, die die Japaner größer, sie jedoch monströs wirken ließen, kam die schönste Frau, die Babette je gesehen hatte, langsam und elegant herbeigeschwebt und überreichte ihnen zärtlich die Frühstückskarte.

Sie trug einen goldbedruckten, braunen Sarong, darüber ein gelbes durchbrochenes Spitzenoberteil, eine breite, goldene, Schärpe um die Wespentaille. Sie hatte einen vollen, perfekt geformten Busen, einen langen, schmalen Hals, der einen edel geformten Kopf trug. Ihre Haut war zartbraun, die Augen groß und dunkel, der Mund üppig, die dicken, schwarzen Haare trug sie nach traditioneller balinesischer Art in einem langen, kompliziert geflochtenen Zopf.

Sie sah aus wie erfunden. Lächelnd entblößte sie babyrosa Zahnfleisch und papierweiße Zähne. Mit leiser Stimme fragte sie nach ihren Wünschen.

Babette starrte sie unverhohlen an und wußte, daß sie in wenigen Sekunden Haß auf ihren eigenen dicklichen Körper überfluten würde. Nervös strich sie über Herrn Shuns weiße Hose auf ihrem Knie, da hörte sie ihn lachen und sagen: ›Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.‹

Verdutzt blinzelte sie, aber mehr sagte er nicht. Sie wiederholte leise: Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.

[89] Fritz sah von der Frühstückskarte auf und sagte: Ich glaube, ich nehme die Rühreier mit Speck.

Die Schöne trug ihr Frühstück auf einem Tablett auf dem Kopf herbei, ging anmutig in die Knie und servierte. Babette betrachtete ihren berauschend bunten Obstteller mit orangeroter Papaya, karmesinroter Wassermelone und sonnengelber Ananas und das glitzernde azurblaue Meer.

Sie stellte sich vor, wie Herr Shun gerade irgendwo auf dieser Insel gleichfalls vor einem Obstteller saß, in einem ihrer T-Shirts, vielleicht in dem grünen mit dem Aufdruck: ›Alles, alles, alles.‹ Oder im schwarzweißen mit den 101 Dalmatinern. Oder dem blauen, das von ihrem Besuch im Maritimpark Saulgrub kündete. Sprechen Sie weiter, Herr Shun. Denn alles Fleisch, es ist wie Gras – was soll das heißen?

Fritz sah von seinen Rühreiern auf.

Du siehst jetzt schon ganz erholt aus, sagte er. Du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd in der Südsee.

Jetzt wäre der richtige Augenblick gewesen, ihm von dem vertauschten Koffer zu erzählen, aber sie ließ die Gelegenheit vorüberziehen. Zu spät, zu spät, denn dann waren sie beide mit dem Frühstück fertig, und Fritz rief: An die Arbeit!, klatschte in die Hände und wanderte die zehn Schritte vor bis zum Meer, wo er die Hotelhandtücher auf den Liegen ausbreitete und die Sonnencreme auspackte.

Ich schmier dir den Rücken ein, sagte er entschlossen. Diese Sonne verbrennt einen sogar im Schatten. Hier ist das Ozonloch schon fast genausogroß wie in Australien. Keine Ausrede! Zieh dich aus.

Ich glaube, ich ziehe mich heute noch gar nicht aus, sagte [90] Babette und ließ sich auf eine Liege fallen, die unter diesem Aufprall fast zu Boden ging. Wahrscheinlich war sie nur fliegengewichtige Japanerinnen gewöhnt.

Sehr klug, nickte Fritz, aber wie willst du dann ins Wasser gehen?

Darüber denke ich später nach, sagte sie träge.

Er sprang behende auf, sein Speedometer an der nackten Wade.

Ich mache eine Runde am Strand lang und dann durchs Dorf zurück, rief er ihr noch zu.

Tschüß, sagte sie. Viel Spaß! Und dann sah sie ihn davoneilen. Von hinten sah er aus wie sechzehn. Lächerlich schmal. Ein dünner Hecht. Sie wußte, daß er sein ganzes Leben unter seiner Schmächtigkeit gelitten hatte. Eine Zeitlang hatte er es mit Gewichteheben versucht, aber als kein wirklich überzeugender Effekt zu sehen war, hatte er wieder damit aufgehört.

Mein dünner Hecht, dachte sie liebevoll. Wenn er zurückkommt, erzähle ich ihm endlich von dem Koffer.

Eine ältere, von Kopf bis Fuß weißgekleidete Balinesin mit ausladenden Hüften kam langsam mit einem Tablett auf dem Kopf angeschuffelt und legte vor jede der Steingottheiten, die am Strand die einzelnen Liegeplätze markierten, kleine Körbchen aus Koskusnußblättern mit Blüten nieder, besprenkelte diese Opfergaben mit Wasser aus einer...