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Vergewisserungen - Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben

Bernhard Schlink

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603897 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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20,99 EUR


 

[11] Heimat als Utopie

I.

Immer wieder treffe ich Deutsche aus den neuen Ländern, die mir sagen, sie fühlten sich im Exil, obwohl sie leben, wo sie immer schon lebten, wohnen, wo sie immer schon wohnten, und vielleicht sogar in derselben Fabrik, Behörde, Schule oder Zeitung arbeiten, in der sie schon vor der Wende arbeiteten. Alles habe sich verändert und sei ihnen fremd geworden. Mehr noch, es habe sich nicht einfach verändert, sondern sei von anderen verändert worden, ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen, sei ihnen von anderen entfremdet worden. Deshalb lebten sie im Exil – in der Fremde, in der man nach Gesetzen leben muß, die man nicht selbst gemacht hat und über deren Auslegung und Anwendung man nicht selbst entscheidet.

Im selben Sinn äußern sich, auch und gerade in den USA, Angehörige von Minderheiten; sie fühlen sich unter der Mehrheit, unter der sie leben, als lebten sie im Exil. Es gibt Frauen, die sich im Exil fühlen, weil sie die Gesellschaft, in der sie leben, als von Männern geschaffen und von Männern dominiert erfahren. Es gibt Alte, die das gleiche Gefühl in unserer der Jugend und ihrer Schönheit, ihrer Kultur und ihrem Konsum huldigenden Gesellschaft haben.

Bei allen, von den Deutschen in den neuen Ländern bis [12] zu den Alten in unserer Jugendlichkeitsgesellschaft, kann ich das Gefühl verstehen und auch, warum es sich mit dem Begriff des Exils verbindet. Und doch bleibt die Verbindung seltsam. Denn ursprünglich und eigentlich ist der Begriff des Exils der Gegenbegriff zum Begriff der Heimat, die man verlassen mußte. Man wurde aus ihr vertrieben, durch Gewalt oder durch Not; sie liegt irgendwo jenseits der Grenze; man sehnt sich nach ihr zurück und kehrt auch in sie zurück, wenn es die Verhältnisse dort erlauben, wenn die politische Unterdrückung endet oder die Hungersnot oder das Wüten der Seuche. Das Gesetz der Fremde, unter dem man im Exil lebt, ist zuallererst das Gesetz der fremden Sprache. Gerade Schriftsteller haben die Härte dieses Gesetzes beschrieben und beklagt. Czes¥aw Mi¥osz sagt über den Schriftsteller im Exil: »In the country he comes from he was aware of his task and people were waiting for his words, but he was forbidden to speak. Now where he lives he is free to speak, but nobody listens and, moreover, he forgot what he had to say.« Ähnlich sagt Joseph Brodsky: »To be an exiled writer is like being a dog hurtled into outer space in a capsule. And your capsule is your language and before long you discover that the capsule gravitates not earthward but outward in space.«

Gewiß, es gibt positive Beschreibungen des Exils und auch dessen, was das Exil für den Schriftsteller bedeutet. Mi¥osz fragt, ob es als Zustand legitimierter Fremdheit nicht sogar privilegiert sei gegenüber der Fremdheit, unter der letztlich jeder Schriftsteller in seiner Gesellschaft leide; Brodsky beschreibt ebenso wie den Schrecken auch die Chance der Freiheit im Exil; und Marina Zwetajewa meint, [13] Schriftsteller, »far-sighted by the very nature of their craft«, könnten sogar ihre Heimat besser aus der Fremde sehen. Entscheidend beim ursprünglichen und eigentlichen Begriff des Exils ist nicht die negative und ist auch nicht eine positive Konnotation – es gibt beide. Entscheidend ist die Korrespondenz zum Begriff der Heimat, in der man zu Hause war, in der man zu Hause wäre, wenn man könnte, und in die man wieder zurückkehrt, wenn sie einen wieder aufnimmt.

Wo ist diese Heimat für die Deutschen, die aus den neuen Ländern stammen und sich in den neuen Ländern doch im Exil fühlen? Hinter welcher Grenze liegt sie? Hinter welcher Grenze liegt die Heimat der Minderheit, die unter einer Mehrheit lebt und schon immer lebte, sich unter ihr aber im Exil fühlt? Aus welcher Gesellschaft sind die Frauen in die Männergesellschaft vertrieben worden und die Alten in die Jugendlichkeitsgesellschaft? In welcher Gesellschaft spricht man die Sprache der Frauen oder die Sprache der Alten, die man in der Männer- bzw. Jugendlichkeitsgesellschaft nicht versteht?

II.

Was für törichte Fragen, mögen Sie denken. Exil ist eine Metapher, und die Frage, wo die zum Exil gehörige Heimat ist, geht ebenso fehl, wie die nach dem Vater fehlginge, mit dem die Philosophie, die Mutter der Wissenschaften, ihre Kinder hat. Exil ist das Leben in der Fremde, das nicht selbst-, sondern fremdbestimmte, das entfremdete Leben. Exil ist eine [14] Metapher für die Erfahrung der Entfremdung, die so existentiell und universell ist, daß sie keinen Ort braucht und auch keine Heimat als Gegenort.

In der Tat finden sich in heutigen Äußerungen über das Exil und das Leiden im Exil Wendungen wieder, in denen immer schon marxistische und existentialistische Entfremdungserfahrungen beschrieben wurden. Daß, wie für die unterdrückte Klasse, auch für das unterdrückte Geschlecht und die unterdrückten Völker das Verhältnis zur eigenen Tätigkeit »das Verhältnis zur eignen Tätigkeit als einer fremden« und das Verhältnis zur Außenwelt »das Verhältnis zur Außenwelt als einer fremden« ist, steht zwischen dem frühen Karl Marx der ökonomisch-philosophischen Manuskripte und dem späten Jean-Paul Sartre außer Frage. Daß die Verhältnisse die menschlichen Bande, auch die, die in der Arbeitswelt den Menschen an seinen Kollegen und Vorgesetzten knüpften, »unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹« – mit diesen Worten von Marx und Friedrich Engels aus dem Kommunistischen Manifest könnte heute auch ein Deutscher aus den neuen Ländern die Veränderungen seiner Arbeitswelt beschreiben.

Ja, Exil ist eine Metapher für die Erfahrung der Entfremdung. Aber das erledigt die Frage nach der dem Exil korrespondierenden Heimat nicht. Warum findet die Erfahrung der Entfremdung am Ende dieses Jahrhunderts wieder eine Metapher, die sich auf Orte bezieht, explizit auf den Ort des Exils, an dem die Erfahrung gemacht wird, und implizit auf den Ort, an dem man nicht im Exil, sondern zu Hause wäre? [15] Die marxistische und die existentialistische Entfremdungserfahrung war ohne Ortsbezug, war Erfahrung der Ortlosigkeit. Das Proletariat hat in der bürgerlichen Gesellschaft keinen Ort und braucht keinen in der kommunistischen, es ist nach der Vorstellung von Marx und Engels die Klasse, in deren Partikularität als Klasse die Universalität der Menschheit angelegt ist, über alle Länder, alle Grenzen, alle Orte hinausgreifend. Und von Søren Kierkegaard bis Sartre ist die existentialistische Erfahrung die des ex-sistere, des Heraustretens aus allen vorgegebenen Zusammenhängen, Ordnungen und Ortungen des Seins, die Erfahrung der ortlosen Vereinzelung und Einsamkeit vor Gott oder dem Nichts. Den Ort, die Heimat, die die bürgerliche Gesellschaft, die Nation, die kirchlichen oder kulturellen Institutionen, die Familie und die Ehe versprechen, als Illusion zu erkennen, stiftet denn auch die Berührungen zwischen marxistischer und existentialistischer Erfahrung. Von ihr geprägt war Ortlosigkeit in diesem Jahrhundert und besonders auch nach dem Zweiten Weltkrieg lange die intellektuelle Erfahrung schlechthin.

III.

Es war die intellektuelle Erfahrung, mit der meine Generation aufwuchs. Das Exil während des Dritten Reichs vertriebener Deutscher, oft jüdischer deutscher Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, fand in der Bundesrepublik nicht nur deshalb lange wenig Aufmerksamkeit, weil der nationalsozialistische Blick der Elterngeneration, der [16] die Exilanten als vaterlands- und treulose Gesellen wahrgenommen und ausgegrenzt hatte, erst langsam überwunden wurde. Auch in den Augen meiner Generation bedurften die Exilanten keiner besonderen bundesrepublikanischen Aufmerksamkeit. Sie waren im wörtlichen Sinn »gut raus«; sie waren raus aus Deutschland, und sie hatten es gut getroffen. Es verstand sich für uns von selbst, daß das Exil, besonders das amerikanische, Weite, Offenheit und Universalität assoziieren ließ und positiver besetzt war als die deutsche Heimat, die für nationalstaatliche Beschränkung und Beschränktheit stand. Exil war Freiheit, Heimat war der Muff der Vertriebenen und ihrer Verbände. Wir wuchsen mit der Vorstellung auf, nach den um den »Platz an der Sonne«, den »Lebensraum« geführten Weltkriegen sei Nationalismus historisch erledigt, der Nationalstaat löse sich in europäische oder atlantische politische Zusammenhänge auf, Heimat sei überall und nirgends, und wer sich da, wo er war, nicht zurechtfinde und wohl fühle, sondern nach einer verlorenen Heimat in Pommern, Schlesien oder Böhmen verlange, sei ein Revanchist. Wir mochten mehr oder weniger intellektuell interessiert sein. Das intellektuelle Lebensgefühl der Ortlosigkeit, der nationalen Unbezogenheit und Ungebundenheit teilten wir allemal. Wir teilten es gerade als Deutsche; als Kinder der diskreditierten Nation waren wir mit besonderem Engagement Europäer oder Atlantiker und wollten am liebsten Weltbürger sein.

Das änderte sich in den siebziger Jahren. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen, aber noch gut an den Artikel des amerikanischen Journalisten, der damals durch Deutschland reiste und beschrieb, wie ihm die Badener von der [17] Verbundenheit der badisch-elsässisch-Schweizer Region am Oberrhein und davon erzählten, sie seien eher oberrheinische europäische Regionalisten als Deutsche, die Hamburger, sie seien als Hanseaten schon immer eher maritim und britisch als deutsch orientiert, und die Bayern von der alten Distanz Bayerns zu...