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Beschwerdenvalidierung

Thomas Merten

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783840924217 , 113 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR


 

Für klinische Kontexte ist nach einer Erhebung, die Sharland und Gfeller (2007) unter Neuropsychologen durchführten, damit zu rechnen, dass etwa 5 Prozent der Patienten, für die kein sekundärer Krankheitsgewinn offenkundig ist, Defizite übertreiben oder kognitive Störungen vortäuschen . Erhöhte Prävalenzzahlen sind im klinischen Kontext für Patienten mit psychogenen nicht epileptischen Anfällen (PNES) zu erwarten (z . B . Drane et al ., 2006) . Auffällige Ergebnisse in BVT werden hier nach der Literaturlage in erheblich größerer Zahl als bei Patienten mit einer gesicherten Epilepsie ermittelt . In einer neueren Studie fanden Brooks, Johnson-Greene, Lattie und Ference (2012), dass unter Fibromyalgie-Patienten eines Krankenhauses 37 Prozent auffällig in Beschwerdenvalidierungstests abschnitten . Obwohl es sich um klinische Patienten handelte, war die Möglichkeit eines substanziellen sekundären Krankheitsgewinns bei 58 Prozent dieser Patienten zu erkennen . Eine besondere Bedeutung kommt der Erkennung von Antwortmanipulationen im Rahmen artifizieller Störungen zu, die häufig übersehen werden und mit gravierenden und mitunter lebensbedrohlichen Konsequenzen für die Betroffenen verbunden sein können (Eckhardt, 1989; Feldman, 2004) . So drängen Betroffene etwa zu medizinisch nicht indizierten operativen Eingriffen, indem sie Befunde manipulieren, Fieber mittels Eigeninjektion von Schmutz erzeugen, Wunden öffnen usw . Gerade diese Störung macht deutlich, warum auch ein Behandler im klinischen Kontext nicht immer unhinterfragt der Beschwerdendarstellung eines Patienten folgen darf .

1.3.4 Fehlende oder negative Dosis-Wirkungs-Beziehung

Interessant im Zusammenhang mit den differenziellen Prävalenzraten erscheint, dass nach allen vorliegenden Schätzungen Probanden nach tatsächlichen, vermeintlichen oder vorgeblichen leichten Schädel-Hirn-Traumen sehr viel häufiger in neuropsychologischen Untersuchungen ungültige Testprofile produzieren als Probanden, die mittelschwere oder schwere SHT erlitten . Gleichzeitig aber machen viele Gutachtenprobanden nach leichten SHT mehr, länger anhaltende und/oder schwerere Beschwerden geltend, und auch in Testuntersuchungen fallen ihre Ergebnisse häufig sehr viel schlechter aus als die von Probanden nach unzweifelhaft (objektiv) sehr viel schwereren Verletzungen (Abb . 1) . Damit ergibt sich für den gutachtlichen Kontext ein fehlender oder teilweise sogar ein umgekehrter Zusammenhang zwischen Traumaschwere einerseits und geltend gemachten Traumafolgen bzw . in einer Testuntersuchung gezeigten kognitiven Leistungseinschränkungen andererseits . Dabei werden üblicherweise als Schweregradindikatoren für Schädel-Hirn-Verletzungen herangezogen: Läsionszeichen in der zerebralen Bildgebung, initialer Punktwert in der Glasgow Coma Scale, dokumentierte Dauer des Komas nach erlittener Verletzung sowie zeitliche Ausdehnung einer posttraumatischen anterograden Amnesie . In anscheinend paradoxer Weise fallen auch die Leistungen in Beschwerdenvalidierungstests im Mittel nach leichten SHT deutlich schlechter aus als nach mittelschweren und schweren SHT (Green, 2007) .

Ein hohes, anhaltendes, sich u . U . im zeitlichen Verlauf noch verstärkendes Beschwerdenniveau (statt eines entsprechend üblichem Verlauf nach Schädel-Hirn-Traumen abnehmenden Störungsausmaßes, vgl . Wurzer, 1992) bei fehlenden oder geringen objektiven Indikatoren für das Vorliegen einer bedeutsamen Verletzung weist damit eine erhöhte Eingangswahrscheinlichkeit für das Vorliegen negativer Antwortverzerrungen auf . Damit sollten negative Antwortverzerrungen auch im klinischen und rehabilitativen Kontext sorgfältig als mögliche Erklärung für persistierende Beschwerden in Erwägung gezogen und sachgerecht untersucht werden, insbesondere wenn ein bedeutsamer externaler Krankheitsgewinn offenkundig ist . Von einigen Autoren wurde bei anderen Fragestellungen bereits auf einen Zusammenhang zwischen extremer Beschwerdenschilderung und Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen vorgetäuschter Störungen aufmerksam gemacht, wie etwa von Wallis und Bogduk (1996) im Rahmen subjektiver Schmerzangaben nach Distorsionstraumen der Halswirbelsäule (sog . Schleudertrauma) . Carragee (2008) hat die Unzuverlässigkeit eigenanamnestischer Schmerzangaben nach einem fremdverursachten Verkehrsunfall aufzeigen können .

Wenn allerdings in Untersuchungen zu Dosis und Wirkung der Einfluss der Leistungsanstrengung kontrolliert wird (wie etwa durch Einschluss lediglich gültiger Testprofile in die Analysen oder durch Berücksichtigung dieses Faktors als Kovariable), so stellt sich die theoretisch zu erwartende DosisWirkungs-Beziehung tatsächlich her (z . B . Ord, Greve, Bianchini & Aguerrevere, 2010; West, Curtis, Greve & Bianchini, 2011) .

Das Kriterium der Dosis-Wirkungs-Beziehung ist naturgemäß nur auf solche Störungen anwendbar, für die objektive Kriterien für den initialen Schweregrad einer Verletzung oder Erkrankung herangezogen werden können, wie dies insbesondere für Schädel-Hirn-Traumen und unfallchirurgisch bedeutsame Traumata der Fall ist . Eine neue Studie von Rienstra et al . (2013) ist in diesem Zusammenhang interessant . Es wurde der Zusammenhang zwischen Hippokampus-Volumen und Gedächtnisleistungen bei Patienten mit leichter kognitiver Störung untersucht . In einer unausgelesenen klinischen Patientenstichprobe stellte sich hier die Anstrengungsbereitschaft, wie sie durch BVT gemessen wird, als bedeutsamer Intermediator dar . Erst bei Ausschluss solcher Personen, die in der Beschwerdenvalidierung auffällig abschnitten, wurde eine Dosis-Wirkungs-Beziehung, wie sie theoretisch zu erwarten war, gefunden .

1.3.5 Schätzung von Effektstärken

Iverson (2005) hat in einer Metaanalyse zu den Auswirkungen unterschiedlicher Einflussfaktoren auf neuropsychologische Testleistungen eine Effektstärke von ca . 1,1 für den Faktor „Simulation und Aggravation“ ermittelt, ein Effekt, der deutlich über den Zahlen liegt, die sich für bekannte leistungsmindernde Faktoren ergab, einschließlich denen für Schädel-Hirn-Verletzungen (vgl . Abb . 2) . Bereits die Tatsache eines laufenden Rechtsstreits wurde immer wieder als eine wesentliche Einflussgröße auf den Umfang und das Ausmaß der Beschwerdenschilderung und die Leistungen in psychologischen Tests identifiziert . In Iversons Metaanalyse war diese in ihrer Auswirkung auf neuropsychologische Testleistungen der Wirkung von Depressionen oder eines Benzodiazepin-Entzugs vergleichbar . Der gewichtige Einfluss des Faktors Rechtsstreit (engl . litigation) ist in entsprechenden Analysen immer wieder gefunden worden (z . B . Tsanadis et al ., 2008) .

Die große Effektstärke negativer Antwortverzerrungen im gutachtlichen Kontext, der den Einfluss selbst mittelschwerer und schwerer SHT übersteigt, ist erstmals in einer Studie von Green, Rohling, Lees-Haley und Allen (2001) aufgezeigt, später untermauert (Green, 2007) und in einer Reihe unabhängiger Studien repliziert worden (Ord et al ., 2010; Stevens, Friedel, Mehren & Merten, 2008; West et al ., 2011) .