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Weihnachtslied - Eine Gespenstergeschichte

Charles Dickens, Tatjana Hauptmann

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603934 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

[46] ZWEITE STROPHE

Der erste der drei Geister

Als Scrooge erwachte, war es so dunkel, dass er beim Blick aus dem Bett das durchsichtige Fenster kaum von den undurchsichtigen Wänden seines Zimmers unterscheiden konnte. Er bemühte sich, die Dunkelheit mit seinen Luchsaugen zu durchdringen, als die Glocken einer benachbarten Kirche die vierte Viertelstunde schlugen. Nun wartete er auf den Schlag der Stunde.

Zu seinem großen Erstaunen schlug die schwere Glocke sechsmal, siebenmal, achtmal und so immer weiter bis zu zwölfmal, bevor sie innehielt. Zwölf Uhr! Es war nach zwei Uhr gewesen, als er zu Bett gegangen war. Die Glocke schlug die falsche Stunde. Ein Eiszapfen war offenbar in das Uhrwerk geraten. Zwölf Uhr!

Er berührte die Feder seiner Repetieruhr, um die über alle Maßen absurde Kirchturmuhr eines Besseren zu belehren. Der schnelle kleine Puls seiner Taschenuhr schlug zwölf Uhr und hielt inne.

»Es kann doch nicht sein«, sagte Scrooge, »dass ich einen ganzen Tag und bis tief in die nächste Nacht [47] hinein geschlafen habe. Es kann doch nicht sein, dass der Sonne etwas zugestoßen ist und dass es zwölf Uhr mittags ist!«

Bei diesem erschreckenden Gedanken kroch er aus dem Bett und tastete sich zum Fenster. Er musste die Eisblumen mit dem Ärmel seines Schlafrocks wegreiben, um etwas zu sehen, und was er sah, war nicht viel. Zu erkennen war lediglich, dass es noch immer sehr neblig und ausnehmend kalt war und dass keine Geräusche von Leuten zu vernehmen waren, die hin und her liefen und Lärm machten, wie es unzweifelhaft der Fall gewesen wäre, wenn die Nacht den helllichten Tag verdrängt und von der Welt Besitz ergriffen hätte. Das war eine gewaltige Erleichterung, denn ein Wechsel, »zahlbar drei Tage nach Einreichen in erster Ausfertigung an Mr. Ebenezer Scrooge oder dessen Order« und so weiter, wäre so wertlos geworden wie ein lumpiges Wertpapier der Vereinigten Staaten, wenn es keine Tage mehr gegeben hätte, die man zählen konnte.

Scrooge ging wieder ins Bett und dachte und dachte und dachte darüber nach und nach und nach und konnte sich partout keinen Reim darauf machen. Je länger er nachdachte, desto ratloser wurde er; und je mehr er sich bemühte, nicht nachzudenken, desto mehr dachte er nach. Marleys Geist machte [48] ihm ausnehmendes Kopfzerbrechen. Jedes Mal, wenn er nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gelangte, es sei alles ein Traum gewesen, sprang sein Geist zurück wie eine starke Feder in ihre Ausgangsposition und präsentierte ihm abermals die nämliche Frage, die erwogen sein wollte: »War es ein Traum oder nicht?«

In diesem Zustand lag Scrooge, bis die Glocken drei weitere Viertelstunden geschlagen hatten und ihm unversehens einfiel, dass der Geist ihm einen Besuch für ein Uhr angekündigt hatte. Er beschloss, wach zu bleiben, bis die Stunde schlug; und in Anbetracht dessen, dass er im Augenblick genauso wenig einschlafen wie in den Himmel kommen würde, war das vielleicht die klügste Entscheidung, die er treffen konnte.

Die Viertelstunde zog sich so lange hin, dass er öfter als einmal überzeugt war, er sei weggedämmert, ohne es zu merken, und habe die Glocke nicht gehört.

»Ding, dong!«

»Viertel nach«, sagte Scrooge, der mitzählte.

»Ding, dong!«

»Halb!«, sagte Scrooge.

»Ding, dong!«

»Viertel vor«, sagte Scrooge.

»Ding, dong!«

[49] »Die ganze Stunde«, sagte Scrooge triumphierend, »und weiter nichts!«

Das sagte er, bevor die Glocke die Stunde schlug, was sie nun mit einem tiefen, dumpfen, hohltönenden, melancholischen Schlag tat – EINS. Im selben Augenblick blitzte Licht im Zimmer auf, und Scrooges Bettvorhänge wurden geöffnet.

Seine Bettvorhänge wurden, das kann ich versichern, von einer Hand geöffnet. Nicht der Vorhang zu seinen Füßen und nicht der Vorhang hinter seinem Rücken, sondern der, den er anblickte. Der Bettvorhang wurde geöffnet; und Scrooge, der zu einer halb aufgerichteten Haltung aufschrak, sah sich unmittelbar dem unirdischen Besucher gegenüber, der sie geöffnet hatte, so nahe, wie ich Ihnen jetzt nahe bin, und im Geist stehe ich unmittelbar an Ihrem Ellbogen.

Es war ein sonderbares Wesen – wie ein Kind und doch weniger wie ein Kind als wie ein alter Mann, betrachtet durch ein übernatürliches optisches Instrument, so dass es aussah, als wäre seine Gestalt dem Blick entschwunden und zur Größe eines Kindes geschrumpft. Seine Haare fielen ihm bis auf den Rücken und waren weiß wie Greisenhaar; doch zugleich wies das Gesicht keine einzige Falte auf, und die Haut war zart und blühend. Die Arme waren sehr lang und muskulös; die Hände [50] ebenfalls, als wäre ihr Griff außergewöhnlich kraftvoll. Beine und Füße waren zierlich geformt und waren nackt und bloß wie die Arme. Die Erscheinung trug eine Tunika von reinstem Weiß; und um die Taille hatte sie einen glänzenden Gürtel gebunden, der herrlich funkelte. In der Hand hielt sie einen frischen grünen Stechpalmenzweig; und in seltsamem Widerspruch zu diesem winterlichen Wahrzeichen zierten Sommerblumen ihr Gewand. Doch das Sonderbarste an dem Wesen war, dass aus seinem Kopf ein leuchtend heller Lichtstrahl entsprang, der all diese Dinge sichtbar machte und der offenbar Anlass dafür war, dass es in seinen matteren Augenblicken ein großes Löschhütchen als Mütze benutzte, das es in diesem Moment unter den Arm geklemmt hielt.

Doch selbst das war noch nicht das Allersonderbarste, wie Scrooge bemerkte, als er mit gebannter Aufmerksamkeit den Geist betrachtete. Denn sein Gürtel funkelte und glitzerte im einen Moment an dieser Stelle und im nächsten an jener, und was im einen Augenblick hell war, lag im nächsten im Dunkeln, so dass die ganze Gestalt von unbeständiger Beschaffenheit zu sein schien; im einen Augenblick war sie ein Ding mit einem Arm und im nächsten ein Ding mit einem Bein und im wieder nächsten ein Paar Beine ohne Kopf und darauf ein Kopf ohne [51] Körper, und von diesen sich auflösenden Teilen war in dem dichten Dämmerschein, in dem sie zerflossen, kein Umriss erkennbar. Und während man dies noch bestaunte, war sie schon wieder sie selbst, klar und deutlich zu erkennen.

»Sir, sind Sie der Geist, dessen Kommen mir vorausgesagt wurde?«, fragte Scrooge.

»Der bin ich!«

Die Stimme war sanft und leise. Eigenartig leise, als käme sie aus großer Entfernung und nicht aus unmittelbarer Nähe.

»Wer und was sind Sie?«, wollte Scrooge wissen.

»Ich bin der Geist der vergangenen Weihnachten.«

»Längst vergangener Weihnachten?«, fragte Scrooge im Hinblick auf die Zwergengestalt des Geistes.

»Nein. Aus deiner Vergangenheit.«

Hätte man ihn gefragt, hätte Scrooge es vielleicht nicht erklären können, aber er verspürte ein ausgeprägtes Verlangen, den Geist mit seiner Kopfbedeckung zu sehen, und er bat ihn, sie aufzusetzen.

»Wie!«, rief der Geist, »willst du so bald das Licht, das ich spende, mit weltlichen Händen löschen? Genügt es denn nicht, das du zu jenen gehörst, deren Begierden diese Kappe gemacht haben [52] und die mich zwingen, sie jahrelang tief in die Stirn gezogen zu tragen?«

Ehrerbietig versicherte Scrooge, dass er den Geist nicht habe kränken wollen und ihn nie im Leben absichtlich mit einem »Dämpfer« versehen habe. Dann fasste er sich ein Herz und fragte, welche Angelegenheit den Geist herführe.

»Dein Wohlergehen!«, sagte der Geist.

Scrooge erklärte sich ihm dafür sehr verbunden, konnte sich aber des Gedankens nicht erwehren, dass eine ungestörte Nachtruhe diesem Zweck weitaus dienlicher gewesen wäre. Der Geist hatte seine Gedanken offenbar belauscht, denn er sagte sogleich: »Dann eben deine Bekehrung. Nimm dich in Acht!«

Während er noch sprach, streckte er seine starke Hand aus und ergriff Scrooge sanft am Arm.

»Erhebe dich! Und komm mit mir!«

Wenig hätte es Scrooge genutzt, einzuwenden, für Ausflüge zu Fuß seien Wetter und Stunde nicht gerade günstig, sein Bett sei warm und die Außentemperatur liege weit unter dem Gefrierpunkt, mit Schlappen, Schlafrock und Nachtmütze sei er nur leicht bekleidet und obendrein sei er zur Zeit erkältet. Der Griff war zwar so sanft wie der einer Frau, aber dennoch unwiderstehlich. Scrooge erhob sich; doch als er sah, dass der Geist sich auf [53] das Fenster zubewegte, ergriff er ihn flehend am Gewand.

»Ich bin sterblich«, gab Scrooge zu bedenken, »und kann fallen.«

»Lass dich von mir nur hier berühren«, sagte der Geist und legte seine Hand auf Scrooges Herz, »und du wirst sicher und behütet sein!«

Mit diesen Worten drangen sie durch die Mauer und gelangten auf eine offene Landstraße mit Feldern und Wiesen zu beiden Seiten. Die Stadt war spurlos verschwunden. Nichts war mehr von ihr zu sehen. Dunkelheit und Nebel waren mit ihr verschwunden, denn es war ein klarer, kalter Wintertag mit Schnee, der den Boden bedeckte.

»Du lieber Himmel!«, sagte Scrooge und schlug die Hände zusammen, als er sich umsah. »Hier bin ich aufgewachsen. Hier lebte ich als Kind!«

Der Geist sah ihn sanftmütig an. Seine zarte Berührung, so leicht sie gewesen war und so kurz sie gewährt hatte, wirkte in dem alten Mann noch immer nach. Er wurde zahlloser Gerüche gewahr, die in der Luft schwebten, jeder einzelne verknüpft mit zahllosen Gedanken und Hoffnungen und Freuden und Sorgen, die längst, längst vergessen waren!

»Deine Lippen zittern«, sagte der Geist. »Und was ist das da auf deiner...