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Das Zittern des Fälschers

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603996 , 400 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] 1

»Sind Sie sicher, daß kein Brief für mich da ist?« fragte Ingham. »Howard Ingham. I-n-g-h-a-m.« Obgleich er englisch gesprochen hatte, buchstabierte er seinen Namen ein wenig unsicher auf französisch.

Der dickliche Araber in der leuchtendroten Uniform blätterte die Briefe in dem Fach I–J durch und schüttelte den Kopf. »Non, m’sieur.«

»Merci«, sagte Ingham mit einem höflichen Lächeln. Er hatte sich zum zweitenmal erkundigt, aber dies war ein anderer Angestellter. Das erste Mal hatte er vor zehn Minuten gefragt, bei seiner Ankunft im Hotel Tunisia Palace. Ingham hatte auf einen Brief von John Castlewood gehofft. Oder von Ina. Er hatte New York vor fünf Tagen verlassen und war erst nach Paris geflogen, um mit seinem Agenten zu sprechen und sich ein wenig dort umzusehen.

Ingham steckte sich eine Zigarette an und ließ den Blick durch die Hotelhalle schweifen. Sie war klimatisiert und mit Orientteppichen ausgelegt. Die meisten Gäste schienen Franzosen und Amerikaner zu sein, doch es gab auch einige Araber mit recht dunklem Teint und Geschäftsanzügen. John hatte ihm das Tunisia Palace empfohlen. Es war wahrscheinlich das erste Haus am Platz, dachte Ingham.

Er trat durch die Glastür auf den Bürgersteig. Es war [10] Anfang Juni, kurz vor sechs Uhr abends. Die Luft war warm, und die untergehende Sonne schien noch hell. John hatte vorgeschlagen, er solle vor dem Mittag- oder Abendessen einen Drink im Café de Paris nehmen, und dort drüben war es, auf der anderen Straßenseite, zwei Ecken weiter, am Boulevard Bourguiba. Ingham schlenderte den Boulevard entlang und kaufte eine Pariser Ausgabe der Herald Tribune. Die recht breite Straße war in der Mitte durch einen baumgesäumten, mit Betonplatten gepflasterten Bürgersteig unterteilt. Hier waren die Zeitungs- und Zigarettenkioske und die jungen Schuhputzer. Ingham erinnerte der Boulevard halb an Paris und halb an Mexico City, aber die Franzosen hatten ja auch in Mexico City wie in Tunis die Hände im Spiel gehabt. Er hörte laute Gesprächsfetzen, wußte aber nicht, was sie bedeuteten. In einem seiner Koffer im Hotel hatte er einen Sprachführer mit dem Titel Arabisch leichtgemacht. Offenbar handelte es sich um eine Sprache, deren Worte er würde auswendig lernen müssen, denn sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeiner anderen, die er kannte.

Ingham ging über die Straße zum Café de Paris. Die Tische auf dem Bürgersteig waren alle besetzt. Man starrte ihn an, vielleicht weil er hier neu war. Viele der Gäste waren Amerikaner oder Engländer, und sie hatten den Gesichtsausdruck von Leuten, die schon eine Weile hier waren und sich ein bißchen langweilten. Ingham mußte sich einen Platz an der Theke suchen. Er bestellte einen Pernod und warf einen Blick in die Zeitung. Es war laut im Café. Er entdeckte einen freien Tisch und setzte sich.

Auf dem Bürgersteig schlenderten Menschen vorbei [11] und betrachteten gleichgültig die ausdruckslosen Gesichter der Gäste. Ingham achtete besonders auf junge Leute, weil sein Auftrag lautete, ein Drehbuch über zwei junge Liebende zu schreiben – oder vielmehr drei, denn es gab noch einen zweiten Mann, der das Mädchen nicht bekam. Ingham sah kein solches Paar vorübergehen, nur junge Männer, einzeln oder zu zweien, Hand in Hand und in ernsthafte Gespräche vertieft. John hatte Ingham erzählt, daß die Männer hier sehr enge Beziehungen pflegten. Homosexualität war hier nicht einfach tabu, aber das hatte nichts mit dem Drehbuch zu tun. Junge Leute verschiedenen Geschlechts befanden sich oft in Gesellschaft einer Aufsichtsperson oder wurden jedenfalls nicht aus den Augen gelassen. Es gab viel zu lernen, und in den ein, zwei Wochen bis zu Johns Ankunft würde es Inghams Aufgabe sein, die Augen offenzuhalten und die Atmosphäre in sich aufzunehmen. John kannte einige Tunesier, und so würde Ingham Gelegenheit bekommen, die Wohnung einer tunesischen Familie der Mittelschicht von innen zu sehen. Das Drehbuch sollte nur ein Minimum an ausformulierten Dialogen enthalten, aber einiges mußte eben doch schriftlich fixiert werden. Ingham hatte das eine oder andere für das Fernsehen geschrieben, betrachtete sich jedoch eigentlich als Romanschriftsteller. Er hatte einige Befürchtungen wegen dieses Auftrags, aber John war zuversichtlich, und es gab nur mündliche Absprachen. Ingham hatte nichts unterschrieben. Von Castlewood hatte er tausend Dollar im voraus erhalten, doch er achtete sorgfältig darauf, von diesem Geld nur geschäftliche Ausgaben zu bezahlen. Ein großer Teil würde für den Wagen draufgehen, den er für [12] einen Monat mieten sollte. Er würde sich morgen darum kümmern müssen, dachte er, damit er anfangen konnte, sich umzusehen.

»Merci, non«, sagte er zu einem Straßenhändler mit einem Sträußchen langstieliger, fest zusammengebundener Blumen. Der überaus süße Duft hing in der Luft. Der Händler hielt den Strauß in den Händen, ging zwischen den Tischen umher und rief: »Jass-min?« Er trug einen roten Fez und eine weite, lavendelfarbene Hose, die so dünn war, daß die helle Unterhose durch den Stoff schimmerte.

An einem Tisch saß ein dicker Mann, der einen Jasminstengel zwischen den Fingern drehte und an den Blüten roch. Er schien ganz in einen Tagtraum versunken zu sein und starrte mit glasigem Blick vor sich hin. Erwartete er eine Frau, oder dachte er nur an sie? Nach zehn Minuten kam Ingham zu dem Schluß, daß er niemanden erwartete. Der Mann hatte etwas getrunken, was wie farblose Limonade ausgesehen hatte. Er trug einen hellgrauen Straßenanzug. Ingham nahm an, daß er zur Mittel- oder gar zur Oberschicht gehörte. Er verdiente vielleicht um die dreißig Dinar pro Woche, also dreiundsechzig Dollar oder mehr. Ingham hatte sich seit einem Monat mit solchen Dingen beschäftigt. Bourguiba bemühte sich, sein Volk behutsam aus seinen reaktionären religiösen Fesseln zu befreien. Er hatte die Polygamie offiziell abgeschafft und war auch gegen die Schleierpflicht für Frauen. Unter den afrikanischen Ländern galt Tunesien als das fortschrittlichste. Man versuchte, die französischen Geschäftsleute aus dem Land zu komplimentieren, war aber noch immer weitgehend auf die finanzielle Hilfe der Franzosen angewiesen.

[13] Ingham war vierunddreißig, etwas über einen Meter achtzig groß, hatte hellbraunes Haar und blaue Augen und bewegte sich eher langsam. Obgleich er sich nicht sportlich betätigte, hatte er eine athletische Statur mit breiten Schultern, schlanken Beinen und kräftigen Händen. Er war in Florida geboren, doch da er seit seinem achten Lebensjahr in New York gelebt hatte, betrachtete er sich als New Yorker. Nach dem Studium an der University of Pennsylvania hatte er für eine Zeitung in Philadelphia gearbeitet und nebenbei hin und wieder etwas geschrieben, allerdings ohne viel Glück, bis sein erster Roman erschien, Die Kraft des negativen Denkens, eine ziemlich respektlose und unreife Parodie auf das positive Denken, in der seine beiden negativ denkenden Helden am Ende mit Ruhm und Geld überschüttet wurden. Angesichts des Erfolgs seines Buches hatte Ingham den Journalismus an den Nagel gehängt und zwei, drei harte Jahre hinter sich gebracht. Sein zweites Buch, Die katharinischen Schweine, war nicht so gut aufgenommen worden wie das erste. Dann hatte er Charlotte Fleet geheiratet, eine reiche junge Frau, die er sehr geliebt hatte. Ihr Geld hatte er nicht angerührt, und eigentlich war ihr Reichtum sogar ein Hindernis gewesen. Die Ehe war nach zwei Jahren geschieden worden. Ab und zu verkaufte Ingham ein Fernsehspiel oder eine Kurzgeschichte. Er wohnte in einem bescheidenen Apartment in Manhattan und hielt sich über Wasser. Im Februar dieses Jahres war dann der Durchbruch gekommen. Die Filmrechte an seinem Buch Wenn das Wörtchen wenn nicht wär waren für fünfzigtausend Dollar verkauft worden. Ingham hatte den Verdacht, daß der Grund dafür mehr die verrückte Liebesgeschichte [14] gewesen war als die intellektuelle Aussage (die Notwendigkeit und Gültigkeit des Wunschdenkens), aber jedenfalls hatte jemand die Rechte gekauft, und zum ersten Mal genoß Ingham so etwas wie finanzielle Sicherheit. Er hatte es abgelehnt, das Drehbuch zu schreiben, denn er fand, daß Drehbücher – auch die zu Fernsehspielen – nicht seine Stärke waren, und außerdem fiel es ihm schwer, sich dieses Buch als Film vorzustellen.

John Castlewoods Idee für Trio war einfacher und leichter visuell umzusetzen. Der junge Mann, der das Mädchen nicht bekam, heiratete eine andere, rächte sich jedoch auf äußerst schreckliche Weise an seinem erfolgreichen Rivalen, indem er erst dessen Frau verführte, dann dessen Firma in den Ruin trieb und schließlich dafür sorgte, daß der Mann umgebracht wurde. So etwas, glaubte Ingham, konnte in Amerika kaum passieren, doch der Ort der Handlung war ja auch Tunesien. John Castlewood war begeistert von der Idee, und er kannte Tunesien. Und John kannte Ingham und hatte ihn gebeten, das Drehbuch zu schreiben. Produzent sollte ein Mann namens Miles Gallust sein. Falls Ingham mit dieser Sache nicht zu Rande kam, falls er ihr nicht gewachsen war, würde er es John sagen und ihm die tausend Dollar zurückgeben, und dann konnte der nach einem neuen Drehbuchautor suchen. John hatte zwei gute Filme mit knappen Budgets gedreht. Der erste – Der Kummer – war der erfolgreichere gewesen und hatte in Mexiko gespielt. Der zweite Film hatte von Ölarbeitern in Texas gehandelt – Ingham konnte sich nicht an den Titel erinnern. John war sechsundzwanzig und voller Energie,...