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Das Licht der Welt - Historischer Roman

Daniel Wolf

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641131654 , 1152 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Mai 1218

AMANCE IM HERZOGTUM OBERLOTHRINGEN

In der Glut der Abenddämmerung erschien Alain Caboche die Burg wie eine Bestie, die niemals schlief. Immerzu regte sich etwas in ihrem steinernen Leib, am Tag wie in der Nacht. Feindselige Augen, die das Heerlager am Fuß des Hügels beobachteten. Münder, die Befehle brüllten. Hände, die einander Steine reichten und die Wunden in der Schildmauer heilten. Und wehrhaft war das Monstrum. Von seinen Türmen und Zinnen regnete es Pfeile, Felsbrocken und siedendes Öl, sobald sich Feinde den Toren näherten.

Die Burg war hungrig. Sie verschlang Menschen.

Über neunzig Leben habe die Festung über dem Dörfchen Amance bereits gefordert, hieß es im Lager. Allein vom Aufgebot der freien Stadt Varennes-Saint-Jacques, dem auch Alain angehörte, waren bereits acht Männer gefallen; noch einmal so viele lagen verletzt auf den Pritschen der Wundärzte. Dabei hatte die Belagerung gerade erst angefangen.

Wen es wohl als Nächsten erwischt?, dachte Alain dumpf, während er an den Latrinengräben am Rande des Heerlagers sein Wasser abschlug. Hugo. Ja. Ganz sicher Hugo. Der junge Schustergeselle war eine ängstliche Natur, die mir nichts, dir nichts in Panik geriet und im Kampfgetümmel wild mit seinem Kriegskolben um sich schlug, ohne jedes Gefühl für Angriff und Verteidigung. Es glich einem Wunder, dass er den Feldzug bisher unbeschadet überstanden hatte.

Oder Du lässt den armen Hugo laufen und holst Dir stattdessen Lefèvre. Anseau Lefèvre war einer der Ratsherren von Varennes und führte das Aufgebot an. Alain hasste ihn, wie er noch nie einen Mann gehasst hatte. Lefèvre für Hugo – ist das ein Handel, Herr? Komm. Zeig uns, dass Du gerecht sein kannst. Wenigstens einmal.

Um sein eigenes Leben machte sich Alain keine großen Sorgen. Er war hochgewachsen und muskulös wie sein Vater, dazu zäh und schnell. Außerdem verfügte er über eine erstklassige Kettenrüstung und verstand etwas vom Kämpfen. Obwohl nur Schmied und gerade einmal achtzehn Jahre alt, wusste er sich zu verteidigen. Das hatte er in den letzten Wochen mehr als einmal bewiesen. Nein, wenn ihn nicht gerade hinterrücks ein Armbrustbolzen traf, würde er bis zum Sieg des Königs seinen Mann stehen und danach gesund und munter nach Hause marschieren.

Alain schüttelte sein Glied aus, zog die Bruche hoch und griff nach seinem Gürtel, der mitsamt dem Dolch und der Streitaxt über dem Zaun hing. Auf der anderen Seite des Latrinengrabens, unter dem Vordach einer Hütte, saß ein bärtiger Höriger, der ihn anstarrte und ausspuckte. Alain senkte den Blick und schlang seinen Gürtel um die Hüfte. Die Bauern von Amance taten ihm leid. Als wäre es nicht schlimm genug, dass der König ihnen ihre Schweine und den Ertrag ihrer Felder weggenommen hatte, pissten und schissen ihnen jeden Tag tausendfünfhundert Männer auf die Allmende. Dabei konnten diese armen Teufel wahrlich am allerwenigsten etwas für diesen Krieg.

Es war windstill und warm, sodass der infernalische Gestank der Latrinen Alain bis weit in das Heerlager hinein verfolgte, wo er sich mit dem Rauch der Herdfeuer und dem Schweißgeruch der Männer vermengte. Die meisten Krieger, die vor den Zelten herumlungerten, kamen wie Alain aus Lothringen, doch manche waren auch aus dem Land der Deutschen, dem Elsass und Burgund, einige gar aus Frankreich. Von überall her hatte der junge König seine Vasallen und Verbündeten versammelt, um den aufsässigen Herzog von Oberlothringen zu zerschmettern. Warum – das wusste niemand so recht. Alain hätte bereitwillig einen ganzen Sou darauf gewettet, dass es im Heerlager keine zehn Männer gab, die in allen Einzelheiten erklären konnten, wie es zu der Fehde zwischen König Friedrich und Herzog Thiébaut gekommen war. Auch nicht Alain selbst, obwohl er sich für einen klugen Kopf hielt. Thiébaut hatte sich in Zwistigkeiten in der Grafschaft Champagne eingemischt und sich damit den Zorn des Königs zugezogen, der ihm Verrat an der Krone vorwarf. Während der kurzen, aber heftigen Fehde waren Rosheim zerstört und Nancy geplündert worden, Thiébaut war nach Süden geflohen und hatte sich in Amance verschanzt – und hier saß er nun fest, verlassen von fast all seinen Getreuen, eingeschlossen von einer zehnfachen Übermacht.

Alain erreichte den östlichen Rand des Heerlagers am Fuße des Burghangs. Hier lagerte das Aufgebot von Varennes, denn Lefèvre bestand darauf, dass seine Untergebenen jederzeit in die vorderste Linie stürmen konnten, wenn zum Angriff geblasen wurde. Erdwälle und Palisaden schützten die Zelte vor den feindlichen Wurfmaschinen und Armbrustschützen. Seit dem frühen Abend schwiegen die Waffen. Die Männer ruhten sich aus, pflegten ihre Blessuren oder schlürften Suppe.

Alain hielt nach Lefèvre Ausschau. Als er ihn nirgends entdeckte, setzte er sich zu Julien, Hugo und einigen anderen ans Feuer.

»Ist Satan zur Hölle gefahren?«

»Schön wär’s«, meinte Julien, ein Schmied wie Alain, bärtig, sehnig, die Hände und Arme von Funken verbrannt. »Eben ist er weggestiefelt. Weiß der Teufel, was er treibt. Suppe?«

Alain nickte, und Julien reichte ihm einen Napf mit dampfendem Kohleintopf.

»Hab gehört, dass wir morgen früh wieder angreifen«, sagte einer der Männer.

»Hab ich auch gehört«, murmelte Alain und pustete auf seinen Löffel. Die Suppe war so heiß, dass er sich an dem irdenen Napf fast die Finger verbrannte.

»Wieso hungern wir sie nicht einfach aus?«, fragte Hugo, der Brot schneiden wollte, aber mehr damit beschäftigt war, nervös am Griff seines Messers herumzufingern. »Ich meine, warum kämpfen, wenn wir einfach abwarten könnten? In spätestens einem Monat haben sie da drin nichts mehr zu beißen. Dann kommen sie aus ihren Löchern gekrochen, und wir hätten gewonnen, ohne dass einer von uns den Kopf hinhalten müsste.«

»Du weißt nicht, wie viele Vorräte sie haben«, sagte Alain. »Amance ist eine wichtige Burg. Wichtige Burgen sind immer auf Belagerungen vorbereitet.«

»Außerdem hat der König keine Geduld«, ergänzte Julien. »Er will diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen – und dann ab nach Rom, damit er sich endlich die Kaiserkrone aufsetzen kann.«

Hugo presste die Lippen zusammen und verteilte das Brot. Er hatte sich für den Feldzug gemeldet, weil er dieses Schankmädchen vom Salztor mit seinem Mut beeindrucken wollte. Und allmählich dämmerte ihm, dass das nicht die beste Idee seines Lebens gewesen war.

Das Aufgebot Varennes’ bestand nur aus Freiwilligen – so wollte es der Stadtrat. Es gab lediglich die Vorschrift, dass jede Bruderschaft und jeder Pfarrsprengel der Stadt eine gewisse Zahl von Männern bereitstellen musste, wenn der König militärischen Beistand einforderte. Alain, dessen Vater im Rat saß, war einer der wenigen Höhergestellten, die dem Ruf zu den Waffen gefolgt waren. Die anderen waren zumeist einfache Gesellen, Arbeiter und Tagelöhner ohne Bürgerrecht. Sie hatten sich gemeldet, um für einige Wochen ihrem eintönigen Dasein zu entfliehen und um ihren kargen Lohn mit Kriegsbeute aufzubessern. Keiner hatte damit gerechnet, dass der Feldzug so blutig werden würde.

Alain spülte den leeren Napf an einem Wasserfass aus, setzte sich einen Steinwurf von den Männern entfernt auf die zertrampelte Wiese und lehnte sich gegen das Rad eines Ochsenwagens. Die Strapazen der vergangenen Wochen saßen ihm tief in den Gliedern, und ihm war nicht nach Reden zumute. Er wollte in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Vielleicht würde er sogar hier draußen schlafen, denn er hatte die stickige Luft in den Zelten gründlich satt.

Die Sonne war längst hinter der Burg versunken, und die Zinnen der Festung krallten sich wie Reißzähne in den flammenden Himmel. Die schwarzen Mauern und Türme erschienen Alain bedrohlicher denn je. Menschen waren keine auf den Wehrgängen zu sehen, doch er wusste, sie waren da. Warteten. Beobachteten.

Er dachte an Jeanne, während er reglos auf der Erde saß, an ihre Augen, ihr Haar. Sie hatten sich zum ersten Mal geliebt in der Nacht vor seinem Aufbruch, er hatte ihr die Welt und den Himmel versprochen und würde sie zur Frau nehmen, sobald er heimkehrte. Gewiss, er war noch nicht mündig, aber das würde ihn nicht aufhalten. Sein Vater war ein kluger Mann, und er liebte Alain über alles. Er würde ihnen nicht im Wege stehen. Er würde alles tun, um seinen Sohn glücklich zu machen.

Ich werde dich stolz machen, Vater. Du hast mein Wort.

Alain musste eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnete, war es früher Morgen. Grauer Dunst lag über dem Hang und der Zeltstadt. Sein Waffenrock fühlte sich klamm an. Ein dumpfer Aufschlag hatte ihn geweckt. Jetzt hörte er fernes Geschrei und sah, wie ein Schleuderstein gegen die äußere Burgmauer schmetterte. Er sprang auf und griff unwillkürlich nach seiner Streitaxt.

»Alain!« Julien lief über die Wiese. »Es geht los!«

Alain folgte seinem Waffenbruder zu den Zelten, wo aufgeregte Betriebsamkeit herrschte. Die Männer Varennes’ schlüpften in ihre Gambesons, stülpten Helme über und griffen nach Äxten, Schilden, Kriegssensen. Der Graf von Bar ritt auf seinem Schlachtross vorbei und rief seine Getreuen zu sich. Ritter schnauzten ihre Schildknappen an. Waffenknechte schulterten Sturmleitern und stellten sich hinter der Palisade auf.

Weitere Felsbrocken schlugen gegen die Burgmauern. Inzwischen schossen nicht mehr nur die kleineren Katapulte, sondern auch die Blide, das gewaltige Hebelgeschütz, das man auf einer...