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Erlöse mich - Psychothriller

Michael Robotham

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641120238 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

2

Der Schmerz weckt Marnie noch vor der Sonne. Sie blinzelt durch halb geschlossene Lider, wagt es jedoch nicht, sich zu rühren, und fragt sich, ob ihre Rippen gebrochen sein könnten. Vielleicht ist Quinn zu weit gegangen. Sie öffnet die Augen weiter und versucht, sich auf das gerahmte Foto auf dem Nachttisch zu konzentrieren. Auf dem Bild sitzt sie in ihrem Hochzeitskleid auf Daniels Schoß und lacht, während er sie nach hinten neigt. Seine Hand stützt ihren Kopf, und ihr Mund ist in Erwartung seines Kusses geöffnet.

Die meisten ihrer Hochzeitsfotos waren zu steif, förmlich und gestellt; die Männer wollten unbedingt etwas trinken und den obersten Hemdknopf öffnen; die Frauen waren es leid, den Bauch einzuziehen. Dieses Foto ist spontan, voller Gefühl und Leidenschaft, Glück, eingefangen durch den Auslöser einer Kamera.

Wenn Marnie an Daniel denkt, sind es die kleinen, beinahe beiläufigen Erinnerungen, von denen sie einen dicken Kloß im Hals bekommt. Ihm beim Rasieren zugucken; sein Haar nach dem Duschen riechen; sich in seiner Armbeuge auf dem Sofa zusammenrollen; ihn in einer Rüschenschürze sehen, wenn er sonntagmorgens Pfannkuchen machte …

Jetzt ist er weg, verschwunden, wird er vermisst. Seit mehr als einem Jahr wurde er nicht mehr gesehen, sie hat nichts von ihm gehört, keine Anrufe, keine E-Mails, keine SMS, keine Kontoabhebungen. Seine Kreditkarten, sein Pass, sein Handy, seine Fitnessclub-Karte wurden nicht benutzt.

Für den größten Teil dieser Zeit hat sie sich an den Glauben geklammert, dass er noch lebt, ist bei jedem Anruf zum Telefon gestürzt, hat ständig ihre E-Mail und SMS gecheckt und alle paar Tage bei der Polizei angerufen. Sie hat Gebete gesprochen, vorbeifahrende Autos gemustert und voller Erwartung den Briefkasten geöffnet. Aber sie kann es sich nicht leisten, noch länger daran zu glauben. Sie braucht Geld, und sie kann nur auf Daniels verbliebenes Vermögen zugreifen, wenn er entweder durch die Tür kommt oder seine Leiche gefunden wird. Dazwischen gibt es nichts, keine Kompromisse und halben Sachen.

Bis jetzt ist die Stimme der Vernunft von ihrer Sehnsucht übertönt worden. Sie hat Geschichten über Menschen gelesen, die die Hoffnung nie aufgegeben haben, nie aufgehört haben zu glauben, dass ihre Lieben unter den Trümmern noch leben, sich an das Wrack klammern oder von jemand anderem großgezogen werden. Marnie hat versucht, eine von ihnen zu sein, aber die Wirklichkeit kommt immer wieder dazwischen. Niemand verschwindet einfach so, spurlos, nicht seit es Handys, Internetbanking, Pässe und Facebook-Konten gibt. Die Polizei hat monatelang nach Daniel gesucht, nach seinen Spuren im Internet gefahndet, sein Foto über Interpol, Europol und Vermisstenagenturen um die ganze Welt geschickt, doch niemand hat ihn gesehen.

Seit dreizehn Monaten erfindet Marnie Rechtfertigungen. Daniel muss im Koma liegen oder als Geisel gefangen gehalten werden. Vielleicht hat er das Gedächtnis verloren oder wartet in einem Zeugenschutzprogramm darauf, seine Aussage zu machen. Das Einzige, dem sie sich bisher nicht stellen konnte, ist das Offensichtliche – er kommt nicht nach Hause, weil er nicht kann. Sie schluckt heftig und versucht, den Satz auszusprechen: Mein … Mann … ist … tot.

Elijah schläft noch, eingepackt in die Decke, ein schniefender Haufen Jungsgerüche. Sie hat ihm Waffeln zum Frühstück versprochen. Danach wird sie ihn in den Kindergarten bringen und es noch pünktlich zu ihrem Termin um elf bei Professor O’Loughlin schaffen.

Seit Daniels Verschwinden sieht Marnie den Professor zweimal wöchentlich, dienstags und freitags. Der National Health Service übernimmt die Rechnung. Vielleicht gibt es dort einen Sonderfonds für Frauen, deren Ehemänner verschwinden. Sonst könnte sie sich einen Psychologen nicht leisten.

Ihre Angstattacken sind seltener geworden, aber sie hat immer noch Blackouts und Aussetzer, manchmal nur Minuten, manchmal auch Stunden, nach denen sie wie aus einem Traum erwacht, ohne sich zu erinnern, was geschehen ist. Professor O’Loughlin verwendet Worte wie »Heilung« nicht. Stattdessen spricht er von »Bewältigung«, als wäre das das Beste, was sie erhoffen kann. Heilung wäre gut. Bewältigung ist okay.

Sie hat das alles schon einmal durchgemacht, eine Therapie mit endlosen Sitzungen. Als Kind ist sie bei einem Psychiater in Behandlung gewesen, der für sie beinahe zu einem zweiten Vater wurde, doch das hat sie dem Professor nicht erzählt, und sie weiß nicht genau, warum nicht. Weil es ihr peinlich ist. Und unwichtig. Sie will nicht, dass er sie für einen hoffnungslosen Fall hält.

Joe O’Loughlin ist ein guter Zuhörer. Die meisten Menschen wissen nicht, wie man zuhört. Normalerweise warten sie nur darauf, dass die anderen die Klappe halten, damit sie wieder reden können, doch der Professor hängt an jedem ihrer Worte, als würde sie aus einem heiligen Buch predigen. Wenn sie zu den schlimmen Sachen kommt und keine Worte findet, drängt er sie nicht. Er wartet.

Marnie blickt wieder zu dem Foto. Daniels Haar ist gegelt, und in dem goldenen Ehering spiegelt sich das Licht. Lachfalten rahmen seine zusammengekniffenen Augen, und sie kann seinen Kuss beinahe spüren. Sie streicht mit dem Finger über ihre Lippen, um den Moment heraufzubeschwören. Es war eine so sorgenfreie, sorglose Zeit, keine Angst, kein Kummer, keine kleinlichen Streitereien. Sie war mit Elijah schwanger, was sie jedoch erst einige Wochen später erfuhr, als sie auf einen Teststreifen pinkelte. Sie war noch nie so glücklich, so beseelt, so verliebt gewesen. Gemeinsam konnten sie die Welt erobern.

Sie schwingt die Beine aus dem Bett, verzieht das Gesicht und schlurft vorsichtig ins Bad, wo sie ihr nacktes Spiegelbild betrachtet. Man kann die Blutergüsse schon sehen, ihre blasse Haut ist mit gelben und blauen Flecken überzogen. Der Anblick löst einen Flashback aus, sie erinnert sich an die Schläge, daran, wie ihre Glieder sich abzulösen schienen und der Schmerz in Wellen durch ihren Körper strömte.

Als sie gekrümmt dastand, hatte Quinn etwas zu ihr gesagt.

»Dein Mann war ein Feigling«, flüsterte er.

Was hat er damit gemeint?

Sie konnte nicht fragen. Sie konnte nicht atmen. Beim nächsten Mal wird sie eine Antwort verlangen, nur dass es kein nächstes Mal geben wird. Sie kann nicht zurückkehren. Sie hat gestern Nacht das Kleid und die Unterwäsche weggeworfen und tief im Gemeinschaftsmüll vergraben. Sie berührt ihren Bauch, streicht über die verfärbten Stellen und bemerkt, dass ein Nagel abgebrochen ist. Sie muss ihn gestern Abend verloren haben, zusammen mit ihrer Würde und dem letzten verbliebenen Rest Selbstachtung.

Sie dreht den Hahn auf und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis ihre Augen brennen. Dann zieht sie einen Bademantel über und geht in die Küche. Zoe isst, über ihren Biologie-Schnellhefter gebeugt, einen Toast.

»Du bist früh auf.«

»Wir schreiben einen Test.«

»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

»Nichts.«

»Du hast eine blaue Strähne.«

»Und?«

»Es sieht furchtbar aus.«

»Danke, Mum, du siehst auch beschissen aus.«

Marnie seufzt. »Können wir noch mal von vorn anfangen?«

Mit erhobenen Händen nimmt Zoe den Waffenstillstand an.

»Guten Morgen, meine Tochter, Liebe meines Lebens, du siehst aus, als hättest du dir blauen Toilettenreiniger ins Haar gespritzt, aber es ist dein Kopf und dein Haar, und du hast das Recht, es nach Herzenslust zu ruinieren.«

»Danke, meine Mutter, kann ich ein bisschen Geld haben?«

»Warum?«

»Uralte Geschichte – der Ausflug zum British Museum, spätestens heute muss die Erlaubnis der Eltern vorliegen.«

»Wie viel?«

»Zehn Pfund.«

»Muss ich etwas unterschreiben?«

»Ich habe deine Unterschrift gefälscht.«

Zoe isst den letzten Bissen Toast und nimmt ihre Schultasche.

»Bis später, Mutter.«

»Warte!«

»Was?«

Marnie zeigt auf ihre Wange. »Und wenn’s nur um die Ecke ist.«

Zoe verdreht die Augen und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Und wenn’s nur um die Ecke ist.«

Marnie zieht ihr blaues Sommerkleid und eine Strickjacke an. Es ist das hübscheste Kleid, das sie hat, und darin fühlt sie sich besser. Der Kragen ist mit kleinen weißen Blumen bestickt, was sie an ihre Flitterwochen in Florenz erinnert, wo sie auf dem Markt von San Lorenzo ein ähnliches Kleid gekauft hat.

Elijah ist angezogen, die meisten seiner glutenfreien Waffeln sind gegessen, und sie kommen ausnahmsweise einmal pünktlich los. Auf halber Treppe geben Marnies Beine fast nach, sie packt das Geländer und setzt sich kurz hin.

»Alles in Ordnung, Mama?«

»Mir geht es gut.«

»Warum setzt du dich hin?«

»Ich mache eine kleine Pause.«

Es ist ein sonniger Vormittag Ende September. Die Bäume sehen müde aus, erschlafft. Elijah hüpft über die Ritzen zwischen den Platten auf dem Bürgersteig. Sein SpongeBob-Schwammkopf-Rucksack enthält ein vulkanisches Ei vom Vesuv (was er wie Venus ausspricht), das er zum zwanzigsten Mal zur Erzählstunde mitbringt. Marnie kann sich ein Publikum von Vorschulkindern vorstellen, die die Augen verdrehen und murmeln: »Bitte, Gott, nicht schon wieder.«

Auf dem Warrington Crescent überkommt sie ein vertrautes Gefühl, sie spürt das Gewicht eines Blickes, der auf ihr ruht. Sie kann sich das Kribbeln im...