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Hab und Gier

Ingrid Noll

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604160 , 256 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Das Gabelfrühstück

Vor etwa zwanzig Jahren erhielt ich gelegentlich eine Einladung zum Sonntagsbrunch, doch dann kamen Mittagstermine aus der Mode. Die Gastgeber wurden es leid, weil einige der Besucher bis zum Abend blieben und man mehr als eine Mahlzeit auftischen musste. Daher war ich völlig überrascht, als ich kürzlich die handgeschriebene Karte eines ehemaligen Kollegen im Briefkasten fand: Wolfram Kempner, von dem ich schon lange nichts mehr gehört hatte – und der nun offenbar auch aus der Bibliothek ausgeschieden war –, bat an einem bevorstehenden Feiertag zu einem Gabelfrühstück. Ganz der alte Bücherwurm!, dachte ich. Wer außer ihm kannte heute schon noch dieses altmodische, seltsame Wort für einen Imbiss!

Noch zwei Wochen hatte ich Zeit, um eventuell abzusagen, meine Gefühle schwankten zwischen Neugier und Unlust. Vorsichtshalber wollte ich mir vor einer Zusage eine gewisse Grabinschrift noch einmal anschauen. Gedankenverloren wanderte ich über den Weinheimer Friedhof. Ich war einige Monate nicht mehr dort gewesen, obwohl sich die Gräber meiner Verwandten hier befanden. Frühling lag in der Luft, es war ein milder Tag, Vögel zwitscherten munter, frisch aufgeworfene Erde glänzte in der Sonne, die [8] Blumengebinde erfroren nicht mehr über Nacht, sondern hielten sich fast so gut wie in der Vase. Am Tag zuvor hatte es geregnet, auf den glitschigen Nebenwegen musste ich mich in Acht nehmen, um nicht auszurutschen. Erstaunt bemerkte ich, dass sich die kleinen Putten aus wetterfestem Steinguss wundersam vermehrt hatten. Manche Gräber wiesen bis zu acht Engel auf, einige eine Madonna. Die meisten Himmelsboten waren relativ neu und blendend weiß, die paar älteren aus Keramik wiesen Sprünge auf, setzten Moos an, ergrauten, passten sich dem Erdreich an und wurden irgendwann zu Staub. Immer wieder wunderte ich mich, dass die Verstorbenen persönlich angesprochen wurden: Ruhe sanft! Wir werden dich nie vergessen! Du fehlst mir! Selbst die Schleife auf einem verwelkten Kranz war bedruckt: Ewig Deine Sieglinde. Ob man davon ausging, dass die Verstorbenen die Botschaften mit Genugtuung zur Kenntnis nahmen? Auch in Todesanzeigen hatte ich schon ähnliche Anreden gefunden und mir ausgemalt, wie man sich im Jenseits gegenseitig die Zeitung vorlas. Während ich mich noch bei dieser Vorstellung amüsierte, entdeckte ich sie wieder, diese eigenartige und nicht eben freundliche Inschrift auf einer grauen Granitplatte: Bleib, wo du bist!

War es ein Versehen, sollte es eigentlich heißen: Bleib, wie du bist!, und der Spruch sollte der Toten die allmähliche Verwesung untersagen? Ich studierte erneut Vor- und Nachnamen – kein Zweifel: Hier ruhte wirklich die Ehefrau jenes Kollegen, der mir vor wenigen Tagen die bewusste Karte geschickt hatte. Bernadette Kempner war vor einem halben Jahr gestorben, so dass die Einladung zum Gabelfrühstück nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Bestattung [9] stehen konnte. Man konnte nicht von einem allzu frühen Ableben sprechen, denn sie war, wie ich mich auf dem Grabstein vergewisserte, mit 73 gestorben, war also etwa sechs Jahre älter als ihr Mann. Nur sehr selten hatte Wolfram seine Frau erwähnt, überhaupt war er ein stiller, zurückhaltender Mitarbeiter unserer Stadtbücherei gewesen, der lieber im Hintergrund Büroarbeiten erledigte, als sich im Publikumsverkehr zu engagieren. Zwar war er der einzige Mann unseres Teams gewesen, sozusagen der Hahn im Korb, hatte aber nie den Gockel gespielt, galt eher als Neutrum oder – um im Bild zu bleiben – als Kapaun. Ich hatte ihn auch deshalb etwas aus den Augen verloren, weil ich vorzeitig die Rente beantragt hatte und vor drei Jahren mit sechzig aus der Bibliothek ausgeschieden war. Den Kampf mit unbekannten audiovisuellen Medien und immer neuer Software hatte ich längst aufgegeben. Ein einziges Mal schüttete ich ihm mein Herz aus, wie viel angenehmer und menschlicher es doch früher zugegangen war, als es noch in erster Linie um die Ausleihe und Verwaltung von Büchern ging. Er nickte zwar teilnahmsvoll, schien sich aber im Gegensatz zu mir mit der modernen Technik überhaupt nicht schwerzutun, denn er war ein ebenso leidenschaftlicher Bastler wie Bücherwurm. Immerhin meinte er, dass er meinen mutigen Entschluss bewundere. Er müsse leider noch bis zu seinem 65. Lebensjahr durchhalten, wenn nichts Unerwartetes geschehe.

Waren es finanzielle Gründe? Oder fiel ihm zu Hause die Decke auf den Kopf? Da er den Umgang mit Mitarbeiterinnen und Besuchern eher vermieden hatte, war mangelnder Kontakt als Grund eher unwahrscheinlich. Es mussten private Umstände sein, die ihn zum Ausharren zwangen. [10] Vielleicht würde ja seine Rente allzu knapp ausfallen, oder sein Häuschen war noch nicht abbezahlt.

Konnte es sein, dass die verblichene Bernadette es nicht gern gesehen hätte, dass Besuch ins Haus kam, und Wolfram jetzt etwas nachholen wollte? Soweit ich informiert war, hatte noch keine aus unserem ehemaligen Team sein Haus betreten. Kaum wieder daheim, rief ich Judith an, eine viel jüngere Kollegin, mit der ich mich nach wie vor gern im Rhein-Neckar-Zentrum zum Shoppen traf.

»Warst du in letzter Zeit auf dem Friedhof?«, begann ich und erzählte von meiner Entdeckung. Judith wusste aus der Zeitung, dass Wolframs Frau unlängst verstorben war, meinte aber, sie kenne fröhlichere Spazierwege als zwischen Gräberreihen. Über die seltsame Inschrift musste sie kichern, dann geriet sie allerdings ins Grübeln. Zum Gabelfrühstück war sie nicht eingeladen und fand im Übrigen diese Ausdrucksweise reichlich schräg.

»Hast du seine Frau mal kennengelernt? Hat er irgendwann eine Andeutung über seine Ehe gemacht?«, forschte ich weiter, aber der verschlossene und scheue Wolfram war mit ihr nie ins Gespräch gekommen.

»Ich hab mal so einen Spruch in einem alten Kinderbuch gelesen: Bleib, wo du bist, und rühr dich nicht! Dein Feind ist nah und sieht dich nicht!«, sagte Judith. »Könnte es sein, dass der seltsame Grabspruch etwas mit Erinnerungen zu tun hat?«

Wir überlegten hin und her und kamen zu keinem Schluss.

»Warum nur hat er ausgerechnet mich eingeladen?«, beharrte ich.

Ich hörte Judith leise lachen. »Wahrscheinlich sucht er eine neue Frau«, sagte sie.

[11] Das war ja wohl nicht ihr Ernst. Ich bin geschieden und habe bekanntermaßen keine gute Meinung von den Männern. Außerdem bin ich weder der Typ Hausmütterchen noch besonders sexy, was in meinem Alter ja auch ohnedies kein Thema mehr ist. Für einen Witwer, der Wärme, Trost und Hilfe sucht, bin ich die falsche Adresse. Nach der lange zurückliegenden Trennung von meinem Mann hat sich keiner mehr für mich interessiert, wohl, weil ich selbst es nicht anders wollte. Am gleichen Abend schrieb ich eine Zusage für die freundliche Einladung, zum Anrufen war ich zu feige.

Natürlich wollte ich mich nicht sonderlich schick machen, ein Gabelfrühstück war keine Opernpremiere. Außerdem sollte sich Wolfram bloß nicht einbilden, ich messe seiner Einladung eine besondere Bedeutung bei. Sollte ich einen Blumenstrauß mitbringen? Ich entschied mich für ein Glas mit Ingwermarmelade, die ich nicht mochte und schon lange im Schrank stehen hatte. Eine Weile blätterte ich auch in einem Taschenbuch mit launigen Grabsprüchen, stellte es aber wieder ins Regal zurück – Bleib, wo du bist! gehörte nicht zu dieser Kategorie.

Eigentlich bin ich ein pünktlicher Mensch, aber zum Gabelfrühstück musste ich mit dem Bus fahren, da ich mir im Ruhestand kein Auto mehr leisten konnte. Ich erschien absichtlich zwanzig Minuten zu spät, der Gastgeber sollte nicht auf die Idee kommen, ich sei scharf auf ihn. Was mochte es wohl zu essen geben? Ein Kapaun war Wolfram insofern nicht, als er ein besonders mickriges Exemplar von Mann war, weder kräftig noch wohlgenährt. Ich hatte keine Ahnung, ob er mehr als ein weiches Ei kochen konnte. Doch wenn [12] man wollte, konnte man auch mit Sekt und Kaviar, Austern und Krebsschwänzen Ehre einlegen – doch war das diesem unscheinbaren Männlein zuzutrauen?

Das Haus in der Biberstraße war riesengroß, ziemlich düster und lugte nur knapp hinter von Efeu umschlungenen Tannen hervor. Wolfram erwartete mich auf der Schwelle. Ich erschrak, als ich ihn sah. Er musste schwerkrank sein, so abgemagert und blass schaute er aus der Wäsche beziehungsweise dem dunklen Rollkragenpullover. Auf seinem Kopf wuchs kaum ein Haar mehr. Wir begrüßten uns vorsichtig, wussten wohl beide nicht genau, ob Distanz oder Herzlichkeit angebracht war. Dann setzten wir uns an den gedeckten Tisch, Tee und Kaffee standen auf einem Stövchen bereit. Zum Frühstück gab es ein Ei im Glas, außerdem Croissants, Rosinenbrötchen, Honig, fertig gekauften Fleischsalat und italienischen Schinken. Alles war tadellos, wenn auch nicht besonders originell. Wir stellten die üblichen Fragen nach dem gegenseitigen Befinden und früheren Kolleginnen, doch nach ein wenig Small Talk ging es ans Eingemachte.

»Es geht mir zusehends schlechter«, begann er. »Der Tumor ist inoperabel und sprach kaum auf die Chemo an. Überall habe ich Metastasen, inzwischen bin ich austherapiert. Deswegen ist es an der Zeit, noch ein paar wichtige Dinge zu regeln. Verehrte Karla, ich wende mich nicht ohne Hintergedanken an dich, denn du bist die einzige mir bekannte Frau, die nicht an ihren Vorurteilen festhält…«

Verblüfft über diese Formulierung blickte ich von meinem halbausgelöffelten Ei auf. Er erwähnte eine Diskussion in unserer...