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Die Seltsamen

Stefan Bachmann

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604245 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[35] ZWEITES KAPITEL

Der Rat wird getäuscht

Arthur Jelliby war ein ausgesprochen netter junger Mann, was vielleicht erklärt, weshalb er es als Politiker nie weit gebracht hatte. Er war nicht etwa deswegen Parlamentsabgeordneter, weil er besonders klug gewesen wäre oder sonst über irgendwelche Talente verfügt hätte, sondern weil seine Mutter eine hessische Prinzessin mit guten Verbindungen war und mit dem Herzog von Norfolk Krocket gespielt hatte. Während sich also andere Amtsinhaber abmühten, bis ihnen vor Ehrgeiz fast die Seidenwämser platzten, während sie über Austernsoupers den Sturz ihrer Rivalen planten oder sich wenigstens über Staatsangelegenheiten auf dem Laufenden hielten, war Mr. Jelliby weit mehr daran interessiert, lange Nachmittage in seinem Club in Mayfair zuzubringen, seiner hübschen Gattin Pralinen zu kaufen oder einfach nur bis mittags zu schlafen.

Und genau das tat er auch an einem gewissen Tag im [36] August, und deshalb traf ihn die Aufforderung, bei einem Treffen des Staatsrats im Parlamentsgebäude zu erscheinen, völlig unvorbereitet.

Während er die Treppe seines Hauses am Belgrave Square hinunterstolperte, versuchte er mit einer Hand, sein wirres Haar in Ordnung zu bringen, und mit der anderen, die winzigen Knöpfe an seinem kirschroten Wams zu schließen.

»Ophelia!«, rief er bemüht fröhlich.

Seine Gattin erschien in der Tür des Frühstückssalons, und er deutete entschuldigend auf die schwarze Seidenkrawatte, die ihm schlaff unterm Kragen hing. »Der Kammerdiener hat frei, und Brahms weiß nicht, wie das geht, und ich krieg es selbst einfach nicht hin! Knote sie mir, mein Schatz, sei so lieb, und schenk mir ein Lächeln, ja?«

»Arthur, du darfst einfach nicht so lange schlafen«, sagte Ophelia streng und ging ihm entgegen, um ihm die Krawatte zu binden. Mr. Jelliby war ein großer, breitschultriger Mann, und da sie eher klein war, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen.

»Ach, aber ich muss doch mit gutem Beispiel vorangehen. Denk doch nur an die Schlagzeilen: ›Krieg abgewendet! Tausende von Leben gerettet! Das englische Parlament hat seine Sitzung verschlafen.‹ Glaub mir, die Welt wäre ein weit besserer Ort.«

Das klang nicht halb so geistreich, wie es sich in seinem [37] Kopf angehört hatte, aber Ophelia lachte trotzdem, und Mr. Jelliby, der sich ausgesprochen amüsant vorkam, stürzte hinaus ins Großstadtgetümmel.

Für Londoner Verhältnisse war es ein schöner Tag. Was bedeutete, dass es ein bisschen weniger wahrscheinlich war, dass man erstickte oder an Lungenvergiftung starb. Der schwarze Rauchvorhang aus den Millionen von Schornsteinen war vergangene Nacht vom Regen fortgespült worden. Die Luft schmeckte noch immer nach Kohle, aber immerhin, zwischen den Wolken blitzte hin und wieder die Sonne hervor. Staatseigene Automaten knarrten auf rostigen Gelenken durch die Straßen, kehrten den Dreck vor sich her und ließen Öllachen zurück. Eine Gruppe von Laternenanzündern war damit beschäftigt, die kleinen Flammenfeen, die hinter Glas in den Straßenlaternen kauerten, mit Wespen und Libellen zu füttern. Bis zum Einbruch der Dunkelheit verbreiteten die mürrischen Geschöpfe jedoch nur mattes Licht.

Mr. Jelliby bog in die Chapel Street und winkte mit der Hand nach einer Droschke. Hoch über ihm erstreckte sich eine gewaltige Eisenbrücke; sie ächzte und stöhnte, während eine Dampflokomotive darüber hinwegrumpelte, und Funken regneten herab. An einem normalen Tag hätte Mr. Jelliby genau diesen Zug genommen, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt und müßig auf die Stadt [38] hinausgeschaut. Oder er hätte seinen Leibdiener Brahms angewiesen, ihn auf sein neumodisches Fahrrad zu hieven und ihn ordentlich anzuschieben, damit er übers Pflaster davonstrampeln konnte. Aber heute war kein normaler Tag. Heute hatte er nicht einmal gefrühstückt, sondern war völlig überstürzt aufgebrochen, was seine Laune nicht gerade hob.

Die Kutsche, die vor ihm hielt, wurde von einem Gnom gelenkt. Er war alt, hatte spitze Zähne und graugrüne Haut wie ein glitschiger Fels. Außerdem trieb er seine Pferde an, als wären es ein Paar Riesenschnecken, und als Mr. Jelliby mit seinem Spazierstock gegen das Kutschdach klopfte und mit lauter Stimme um etwas mehr Tempo bat, wurde er von einigen saftigen Flüchen auf seinen Sitz zurückgeworfen. Mr. Jelliby runzelte die Stirn, und ihm fielen eine ganze Reihe guter Gründe ein, warum er sich das eigentlich nicht gefallen lassen musste, aber bis er an sein Ziel gelangte, machte er den Mund nicht mehr auf.

Der große neue Glockenturm der Westminster Abbey schlug fünf nach halb, als er an der York Road ausstieg. Verflixt! Er kam zu spät. Ganze fünf Minuten zu spät. Er rannte die Treppe zur St. Stephen’s Porch hinauf und stürzte an dem Pförtner vorbei in die riesige Haupthalle. Überall standen in kleinen Grüppchen Gentlemen beieinander, und ihre Stimmen hallten von den Dachbalken hoch [39] oben wider. Es stank nach Kalk und frischer Farbe. Mancherorts schmiegten sich Baugerüste an die Wände, und auch die Fliesen waren noch nicht überall zu Ende verlegt. Der neue Palace of Westminster war erst vor weniger als drei Monaten für die Abgeordneten freigegeben worden. Der alte Palast war zu einem Häufchen Asche niedergebrannt, nachdem ein verärgerter Feuergeist sich im Keller in die Luft gesprengt hatte.

Mr. Jelliby eilte die Treppe hinauf und einen hallenden, von Lampen gesäumten Korridor entlang. Mit einer gewissen Befriedigung stellte er fest, dass er nicht als Einziger zu spät kam. John Wednesday Lickerish, Justizminister und der erste Sídhe, der in die britische Regierung berufen worden war, hastete ebenfalls den rasch tickenden Zeigern seines Chronometers hinterher. Er bog aus einer Richtung um die Ecke, Mr. Jelliby aus einer anderen, und so rannten sie mit ziemlicher Wucht ineinander hinein.

»Ach! Mr. Lickerish! Bitte verzeihen Sie mir.« Mit einem Lachen half Jelliby dem Gentleman auf die Beine und klopfte ihm einige unsichtbare Staubpartikel vom Revers. »Ich fürchte, ich bin heute Morgen ein wenig ungeschickt. Alles in Ordnung?«

Mr. Lickerish warf Mr. Jelliby einen vernichtenden Blick zu und löste sich aus seinem Griff. Wie immer war er makellos gekleidet, jeder Knopf an seinem Platz, jedes [40] Stofffitzchen wunderschön und neu. Sein Wams war aus schwarzem Samt, seine Krawatte aus silbernem Tuch und einwandfrei gebunden, und außerdem gab es aufgestickte Blätter zu bewundern, Seidenstrümpfe und so steif gestärkte Baumwolle, dass man sie mit einem Hammer hätte zerschlagen müssen. Dadurch fällt nur der Dreck mehr auf, dachte Mr. Jelliby bei sich. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lächeln. Unter den Fingernägeln des Herrn Ministers zeichneten sich braune Halbmonde ab, als hätte er in der kalten Erde gewühlt.

»Morgen?«, sagte Mr. Lickerish. Seine Stimme war dünn, nur ein Rascheln wie ein Windstoß, der durch kahle Äste fährt. »Junger Mann, der Morgen ist längst vorbei. Es ist nicht einmal mehr Mittag. Es ist fast Nacht.«

Mr. Jelliby sah ihn unsicher an. Er wusste nicht genau, was Lickerish damit meinte, aber es war bestimmt nicht höflich, als jung bezeichnet zu werden. Soweit er wusste, war der Herr Minister nicht einen Tag älter als er. Aber das war schwer zu sagen. Mr. Lickerish gehörte zu den Hochelfen, und wie alle Hochelfen war er so groß wie ein kleiner Junge, hatte keine Haare, und seine Haut war so weiß und glatt wie der Marmor unter seinen Schuhen.

»Na schön«, sagte Mr. Jelliby fröhlich. »Auf jeden Fall sind wir spät dran.« Und sehr zum Ärger des Herrn Ministers schritt er bis zum Kabinettszimmer neben ihm her und [41] plauderte über das Wetter, die Weinhändler und sein Ferienhaus, das es in Cardiff fast ins Meer geweht hätte.

Der Raum, in dem der Staatsrat tagte, war klein, mit dunklem Holz vertäfelt und befand sich im Herzen des Gebäudes; die diamantverglasten Fenster gingen auf den Innenhof hinaus, in dem ein Weißdornbaum stand. Reihen von Stühlen mit hoher Rückenlehne drängten sich aneinander, und bis auf zwei waren alle besetzt. Der Ratsvorsitzende, ein gewisser Lord Horace V. Soundso (Mr. Jelliby konnte sich seinen Namen einfach nicht merken), hatte sich in der Mitte an einer Art Podium niedergelassen, das kunstvoll mit Schnitzereien verziert war: Faune und pralle Weintrauben. Offenbar hatte er gedöst, denn er setzte sich erschrocken auf, als die beiden Nachzügler eintraten.

»Ah«, sagte er, faltete die Hände über seinem mächtigen Bauch und runzelte die Stirn. »Mr. Jelliby und der Herr Justizminister haben also doch beschlossen, uns mit ihrer Anwesenheit zu beehren.« Er musterte sie mürrisch. »Bitte setzen Sie sich. Dann können wir nun endlich anfangen.«

Ein allgemeines Grummeln wurde laut, Füße scharrten und Beine wurden angezogen, während Mr. Jelliby sich seinen Weg zu einem freien Stuhl suchte. Der Hochelf entschied sich für einen Stuhl auf der anderen Seite des Raumes. Nachdem sie sich beide gesetzt hatten, räusperte sich der Vorsitzende.

[42] »Hoch geschätzte Ratsherren«, begann er, »ich wünsche Ihnen allen...