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Verfall und Untergang

Evelyn Waugh

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604214 , 304 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[13] Präludium

Alma Mater

Mr. Sniggs, der Prodekan, und Mr. Postlethwaite, der Schatzmeister, saßen allein in Mr. Sniggs’ Zimmer, das auf den Gartenhof des Scone College ging. Aus der Wohnung von Sir Alastair Digby-Vaine-Trumpington, zwei Aufgänge weiter, drang wildes Grölen und das Geräusch von splitterndem Glas. Von den Vorstehern des Scone College waren an diesem Abend nur sie beide im Haus, denn heute fand das jährliche Dinner des Bollinger Club statt. Alle anderen waren über Boar’s Hill und den Norden von Oxford verstreut, auf fröhlichen, streitlustigen Partys, in Kollegiumsräumen anderer Colleges oder auf Sitzungen akademischer Gesellschaften, denn das alljährliche Bollinger-Dinner ist für die Autoritätspersonen eine schwierige Zeit.

Die Bezeichnung »alljährlich« ist ungenau, denn oft muss das Clubleben nach einer solchen Zusammenkunft für Jahre ausgesetzt werden. Der Bollinger ist ein traditionsreicher Club, er zählt regierende Könige zu seinen ehemaligen Mitgliedern. Beim letzten Dinner vor drei Jahren wurde ein Fuchs, den man in einem Käfig mitgebracht hatte, mit Champagnerflaschen gesteinigt. Das war vielleicht ein Abend gewesen! Das heutige Treffen war das erste seither, und zu diesem Anlass hatten sich Ehemalige aus ganz Europa eingefunden. In den letzten zwei Tagen waren sie nach Oxford [14] geströmt: epileptische Hoheiten aus den Villen ihres Exils, ungehobelte Adlige von ihren zerfallenden Landsitzen, aalglatte junge Männer mit zweifelhaften Neigungen aus Botschaften und Konsulaten, des Lesens und Schreibens kaum mächtige Gutsherren aus feuchten Granitgemäuern in den schottischen Highlands und ehrgeizige junge Anwälte und Kandidaten der Konservativen, die sich von der Londoner Saison und den plumpen Avancen der Debütantinnen losgerissen hatten; alles, was Rang und Namen hatte, war zum großen Fest gekommen.

»Die Bußgelder!«, sagte Mr. Sniggs und rieb mit seiner Pfeife sanft an seiner Nase. »Allmächtiger! Was das für Bußgelder gibt nach diesem Abend!«

In den Kellern des Professorenkollegiums lagert ein ganz besonderer Portwein, der nur heraufgeholt wird, wenn die College-Bußgelder die Summe von fünfzig Pfund überschreiten.

»Diesmal reicht es mindestens für eine Woche«, sagte Mr. Postlethwaite, »eine Woche Founder’s Port!«

Mittlerweile drangen aus Sir Alastairs Wohnung noch schrillere Töne. Jeder, der sie einmal gehört hat, zuckt schon bei der Erinnerung daran zusammen; es ist das Gebell des englischen Landadels auf der Jagd nach Splittern und Scherben. Bald würden sie alle auf den Hof hinaustorkeln, grölend und hochrot in ihren flaschengrünen Frackjacken, denn jetzt fing der Spaß erst richtig an.

»Meinen Sie nicht, es wäre klüger, das Licht auszumachen?«, fragte Mr. Sniggs.

Im Dunkeln schlichen die beiden Professoren zum Fenster. Der Hof unten war ein Kaleidoskop aus kaum erkennbaren Gesichtern.

[15] »Es müssen mindestens fünfzig sein«, sagte Mr. Postlethwaite. »Wenn sie nur alle zum College gehören würden! Fünfzig zu jeweils zehn Pfund. Allmächtiger!«

»Es wird noch mehr, wenn sie die Kapelle stürmen«, sagte Mr. Sniggs. »Ach, lieber Gott, mach, dass sie die Kapelle stürmen! Das erinnert mich an den kommunistischen Aufstand in Budapest, als ich im Schuldenausschuss war.«

»Ich weiß«, sagte Mr. Postlethwaite. Mr. Sniggs’ Erinnerungen an Ungarn waren im Scone College bestens bekannt.

»Welche Studenten wohl dieses Semester besonders unbeliebt sind? Deren Zimmer werden ja immer überfallen. Ich hoffe, sie waren klug genug, heute Abend auszugehen.«

»Partridge gehört sicher dazu; er besitzt ein Gemälde von Matisse oder so jemandem.«

»Ich habe gehört, er hat schwarze Bettlaken.«

»Und Sanders war mal mit Ramsay MacDonald essen.«

»Und Rending könnte es sich leisten, auf die Jagd zu gehen, sammelt aber stattdessen Porzellan.«

»Und raucht nach dem Frühstück im Garten Zigarren.«

»Austen hat einen Konzertflügel.«

»Den werden sie mit Vergnügen zertrümmern.«

»Sie werden sehen, das gibt eine stattliche Rechnung heute Abend. Aber mir wäre ehrlich gesagt wohler, wenn der Dekan oder der Rektor im Haus wäre. Sie können uns doch hier nicht sehen, oder?«

Es wurde ein schöner Abend. Sie zertrümmerten Mr. Austens Flügel, stampften Lord Rendings Zigarren in den Teppich und zerschlugen sein Porzellan, sie zerrissen Mr. Partridges Bettlaken und warfen den Matisse ins Klo; bei Mr. Sanders gab es außer den Fenstern nichts, was man [16] kaputtmachen konnte, aber sie entdeckten das Manuskript eines Gedichts, mit dem er sich für den Newdigate Prize bewerben wollte, und hatten viel Spaß damit. Sir Alastair Digby-Vaine-Trumpington wurde es vor Aufregung ganz schlecht, und so half ihm Lumsden of Strathdrummond ins Bett. Es war halb zwölf. Bald würde der Abend zu Ende sein. Aber ein besonderer Höhepunkt stand noch bevor.

Paul Pennyfeather studierte Theologie. Es war sein zweites ereignisloses Jahr am Scone College. Zuvor hatte er mit achtbaren Ergebnissen eine kleine, klerikal gesinnte Privatschule in den South Downs absolviert, wo er die Schülerzeitung herausgegeben hatte, Vorsitzender des Debattierclubs gewesen war und, wie es in seinem Zeugnis hieß, auf das Haus, in dem er Schülersprecher war, »einen gesunden und guten Einfluss ausgeübt« hatte. In den Ferien wohnte er am Onslow Square bei seinem Vormund, einem wohlhabenden Rechtsanwalt, der auf Pauls Fortschritte stolz war und von seiner Gesellschaft abgrundtief gelangweilt. Beide Eltern waren in Indien gestorben, als der Junge in der Grundschule gerade den Aufsatzpreis gewonnen hatte. Seit zwei Jahren lebte er nun hier von den Zinsen seines Erbes, die durch zwei großzügige Stipendien aufgebessert wurden. Er rauchte drei Unzen Tabak in der Woche – John Cotton, Medium – und trank anderthalb Pint Bier am Tag, das halbe zum Lunch und das ganze zum Dinner, eine Mahlzeit, die er ausnahmslos in der Hall des College einnahm. Er hatte vier Freunde, von denen drei schon mit ihm auf der Schule gewesen waren. Niemand im Bollinger Club hatte jemals von Paul Pennyfeather gehört, und er hatte seltsamerweise noch nie von ihnen gehört.

[17] Ohne die leiseste Ahnung, welche unabsehbaren Folgen der Abend für ihn haben sollte, radelte er von einer Sitzung des Völkerbundvereins, wo er einen höchst interessanten Vortrag über Plebiszite in Polen gehört hatte, vergnügt nach Hause. Er gedachte noch ein Pfeifchen zu rauchen und vor dem Zubettgehen ein Kapitel aus der Forsyte Saga zu lesen. Er klopfte ans Tor, wurde eingelassen, räumte sein Fahrrad fort und huschte scheu wie immer quer über den Hof zu seiner Wohnung. So viele Leute hier auf einmal! Paul hatte eigentlich nichts gegen Trunkenheit – er hatte sogar vor der Thomas-More-Gesellschaft einen ziemlich kühnen Vortrag darüber gehalten –, aber Betrunkene waren ihm einfach nicht geheuer.

Da schwankte aus dem Dunkel der Nacht Lumsden of Strathdrummond wie ein druidischer Wackelstein auf ihn zu. Paul versuchte, an ihm vorbeizukommen.

Nun wollte es der Zufall, dass die Krawatte von Pauls alter Schule starke Ähnlichkeit mit der blaßblau-weißen des Bollinger Clubs aufwies. Und Lumsden of Strathdrummond war wohl kaum in der Lage, den Unterschied von einem Viertelzoll in der Streifenbreite wahrzunehmen.

»Hier trägt so eine Kanaille die Boller-Krawatte!«, rief der schottische Gutsherr. Nicht von ungefähr hatte seine Sippe seit vorchristlicher Zeit die Stammesherrschaft über ungezählte Quadratmeilen öden Heidemoors inne.

Mr. Sniggs warf Mr. Postlethwaite einen etwas besorgten Blick zu.

»Offenbar haben sie einen erwischt«, sagte er. »Hoffentlich tun sie ihm nicht ernsthaft weh.«

»Anscheinend reißen sie ihm die Kleider vom Leib.«

[18] »Du liebe Zeit, ist das womöglich Lord Rending? Vielleicht sollte ich doch eingreifen.«

»Nein, Sniggs«, sagte Mr. Postlethwaite und legte seinem ungestümen Kollegen die Hand auf den Arm. »Nein, nein, nein. Das wäre unklug, schon aus Rücksicht auf das Ansehen des Kollegiums. In ihrem derzeitigen Zustand sind sie möglicherweise taub für disziplinarische Ermahnungen. Wir müssen um jeden Preis einen Skandal vermeiden.«

Die Menge teilte sich, und Mr. Sniggs seufzte vor Erleichterung. »Alles in Ordnung. Es ist nicht Rending. Es ist Pennyfeather – der ist unwichtig.«

»Gut, das erspart uns einen Haufen Ärger. Ich bin froh, Sniggs, wirklich. Na, der junge Mann hat aber eine Menge Kleidungsstücke verloren!«

Am nächsten Tag gab es eine erfreuliche Professorenkonferenz. »Zweihundertdreißig Pfund«, murmelte der Schatzmeister hingerissen, »die Schäden nicht gerechnet! Mit dem, was wir bereits gesammelt haben, macht das fünf Abende. Fünf Abende Founder’s Port!«

»Im Fall Pennyfeather«, sagte der Rektor, »liegt die Sache allerdings völlig anders. Ihnen zufolge ist er ohne Hosen über den ganzen Hof gelaufen. Das ist entschieden anstößig und keineswegs das Verhalten, das wir von einem Gelehrten erwarten dürfen.«

»Wie wäre es mit einer richtig satten Geldstrafe?«, schlug der Prodekan vor.

»Ich bezweifle, dass er die bezahlen könnte. Wie...