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GB84 - Roman

David Peace

 

Verlag Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 2014

ISBN 9783954380251 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

ERSTE WOCHE


Montag, 5. März – Sonntag, 11. März 1984

Terry Winters saß in seiner Dreizimmerwohnung in einem Vorort von Sheffield, South Yorkshire, am Küchentisch. Seine drei Kinder zankten sich ums Rührei. Seine Frau machte sich Sorgen um die Wäsche und das Wetter. Terry kümmerte sich nicht um sie. Er zog eine Karteikarte aus der rechten Jackentasche, las sie, schloss die Augen. Er wiederholte laut, was er gerade gelesen hatte. Er schlug die Augen auf und las die Karte noch einmal. Kontrollierte das Gesagte. Alles richtig. Dann steckte er die Karte in die linke Jackentasche. Er nahm eine zweite Karte aus der rechten Tasche, las sie, schloss die Augen. Dann wiederholte er laut, was er gerade gelesen hatte. Er schlug die Augen auf. Die Kinder stritten sich um einen Toast. Seine Frau machte sich noch immer Sorgen um die Wäsche und das Wetter. Sie kümmerten sich nicht um ihn. Er las die Karte erneut. Wieder alles richtig. Er steckte die Karte in die linke Tasche, zog eine weitere aus der rechten. Er las sie. Dann schloss er die Augen. Terry Winters lernte seinen Text auswendig.

Neil Fontaine steht vor der Tür zur Suite des Juden im vierten Stock des Claridge’s. Er hört das Telefon klingeln und die Stimmen drinnen lauter werden. Er denkt an den Zufall der Zustände, das Miteinander der Motive, den Sinn der Sache. Neil Fontaine steht vor der Suite des Juden im vierten Stock, hört die Korken knallen und die Gläser klingen. Er denkt an den Beginn von Kriegen und das Ende von Epochen, an den Zeitpunkt eines Meetings, das Öffnen eines Umschlags –

Die Schließung einer Zeche und die Ausrufung eines Streiks –

Das Licht in einem Flur. Den Schatten an der Wand –

Furcht und Elend in diesem Neuen Reich.

Neil Fontaine steht vor der Suite des Juden. Drinnen prosten sie sich zu.

Sie frühstückten auf der anderen Straßenseite im County Hotel, Upper Woburn Place, Bloomsbury. Vier Tische. English Breakfast. Terry Winters trank nur Tee mit Zucker. Dick wollte noch mehr Toast. Keiner sagte ein Wort. Alle waren verkatert –

Alle außer dem Präsidenten. Der saß noch im Frühzug aus Sheffield.

Sie wischten die Teller mit dem letzten Stück Toast sauber. Tranken ihren Tee aus. Terry Winters zahlte. Sie bestellten vier Taxis zum Hobart House. Terry bezahlte. Sie bahnten sich einen Weg durch die Presse und den Graupel und gingen hinein.

Der Präsident wartete schon, zusammen mit Joan, Len und Neuigkeiten aus South Yorkshire –

Stabile Mehrheit

Noch eine letzte Zigarette, noch ein Blick auf die Uhr. Dann gingen sie nach oben –

Ins Mausoleum

Zimmer 16, Hobart House, Victoria:

Helle Lichter, Qualm und Spiegel

Orangene Anti-Terror-Vorhänge, stets zugezogen, farblich abgestimmte Teppichböden, wandhohe Spiegel, Tische rings um den Raum. In der Mitte –

Niemandsland.

Am oberen Ende das National Coal Board; rechte und linke Vertreter der Bergbaugewerkschaften BACM und NACODS –

Am unteren Ende die National Union of Mineworkers.

Fünfzig Personen hatten sich zur Sitzung des Nationalen Beratungskomitees des Kohlebergbaus eingefunden –

Doch diesmal gab es keine Beratung. Nur Provokation, echte Provokation –

Fünfzig Personen schauten zu, wie der Aufsichtsratsvorsitzende des NCB seinen Stellvertreter aufspringen ließ.

Der Mechaniker legt auf. Er schließt die Autowerkstatt und holt die Hunde aus dem Haus seiner Mutter in Wetherby. Er setzt die Hunde hinten in den Wagen und nimmt die A1 nach Leeds. Er fährt auf den Parkplatz, lässt die Hunde im Wagen, geht ins Truckercafé

Paul Dixon wartet schon. Er sitzt an einem Tisch mit Blick zu Tür und Parkplatz.

Der Mechaniker setzt sich Dixon gegenüber.

»Gut gebräunt«, meint Dixon. »Die Werkstatt läuft wohl.«

»Sie könnten auch mal vierzehn Tage Sonne gebrauchen«, erwidert der Mechaniker.

»Haben nicht alle so viel Glück wie Sie, Dave«, sagt Dixon.

Der Mechaniker schüttelt den Kopf. »Hab ich alles Ihnen zu verdanken, Sergeant.«

»Schön, dass Sie die Vorteile unserer besonderen Geschäftsbeziehung zu schätzen wissen«, sagt Dixon.

Der Mechaniker lächelt. »Deshalb heißt es ja auch Sonderabteilung, richtig?« sagt er.

Paul Dixon lacht. Er bietet dem Mechaniker eine Zigarette an.

Der schüttelt wieder den Kopf. »Man muss wissen, wann man aufhören sollte.«

»Und wie wär’s dann mit einer schönen Tasse Yorkshire Tea, Dave?«

Wieder lächelt der Mechaniker. »Kaffee, schwarz.«

Paul Dixon geht an die Theke. Er bestellt, bezahlt, bringt das Tablett herüber.

Der Mechaniker hat den Platz gewechselt. Er schaut jetzt in Richtung Ausgang, zum Parkplatz.

»Warten Sie auf jemanden?« fragt Dixon.

Der Mechaniker schüttelt den Kopf. »Ich sehe nur nach den Hunden, Sergeant.«

Paul Dixon setzt sich mit dem Rücken zur Tür. Er reicht dem Mechaniker seinen Kaffee.

Der Mechaniker schaufelt vier Löffel Zucker in den Kaffee, rührt um. Hält inne, blickt auf

Dixon beobachtet ihn. Die Hunde im Wagen bellen

Sie wollen nach Hause. Wollen raus.

Terry Winters schlief nicht. Keiner von ihnen schlief –

Es war nie dunkel, immer hell –

Die hellen Lichter im Zug zurück in den Norden. Die Fernsehteams vor dem St. James’s House. Die Neonröhren im Foyer. Im Fahrstuhl. In den Fluren. Im Büro –

Immer hell, niemals dunkel.

Terry rief Theresa an und sagte ihr, er wüsste nicht, wann er wieder zu Hause sei. Dann holte er die Akten hervor, zückte sein Adressbuch und seinen Taschenrechner –

Er rechnete die ganze Nacht über, wieder und wieder und wieder.

Mittwoch früh saß Terry Winters als Erstes mit den Finanzbeauftragten der zwanzig unabhängigen Regionalbezirke und Unterabteilungen im gegenüberliegenden Royal Victoria Hotel. Vor Beginn des Meetings ließ Terry sie alle aufstehen. Sie sollten im Raum nach versteckten Mikrofonen und Wanzen suchen und sich gegenseitig abtasten.

Dann zog Terry Winters die Vorhänge zu und schloss ab. Terry ließ sie ihre Fragen mit Bleistift aufschreiben und in Umschlägen versiegeln. Dann ließ er die Umschläge nach vorne reichen.

Er setzte sich ans obere Ende des Tisches und öffnete einen Umschlag nach dem anderen. Er las die Fragen und beantwortete sie mit Bleistift auf der Rückseite der Blätter. Dann steckte er die Antworten zurück in die Umschläge und verschloss sie mit Klebeband. Er reichte sie dem jeweiligen Fragesteller –

Die Finanzbeauftragten lasen schweigend die Antworten und gaben sie dann zurück, damit die Zettel verbrannt werden konnten.

Terry Winters stand auf. Dann sagte er ihnen, womit sie zu rechnen hätten –

Die Regierung würde sich auf ihr Geld stürzen und die Gewerkschaft vor Gericht zerren.

Er sagte ihnen, was getan werden musste, um ihre Spuren zu beseitigen –

Nichts auf Papier; keine Anrufe; nur persönliche Besuche, Tag und Nacht –

Er verteilte Blätter mit Codes und Daten, die sollten sie auswendig lernen und die Zettel vernichten.

Die Finanzleute dankten ihm und kehrten in ihre Bezirke zurück.

Terry Winters fuhr auf direktem Weg ins St. James’s House und machte sich sofort wieder an die Arbeit. Er arbeitete den ganzen Tag, wie alle anderen auch –

Jeder in seinem Büro.

Die Leute kamen und gingen. Gespräche hier, Gespräche dort. Verabredungen, Übereinkünfte.

Pause für die Nine o’Clock News, News at Ten, Newsnight. Notizbücher, Videos, Kassettenaufnahmen:

»Ich möchte deutlich klarstellen, wir haben es hier nicht mit Nettigkeiten zu tun. Wir werden uns nicht aus unseren Jobs herausregieren lassen. Jeder einzelne Bezirk wird entscheiden, und meiner Meinung nach wird es zu einem Dominoeffekt kommen.«

Jubel. Applaus –

Dominoeffekt. Entscheidungsschlachten. Unbarmherziges Gemetzel.

Dann wieder zurück an die Arbeit. Alle. Die...