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Verhaltensorientierte Soziale Arbeit - Grundlagen, Methoden, Handlungsfelder

Mathias Blanz, Frank Como-Zipfel, Franz J. Schermer

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2013

ISBN 9783170254107 , 266 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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2          Wissenschaftstheoretische und verhaltenswissenschaftliche Grundlagen der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit


Christoph Bördlein


Wissenschaftstheorie, Verhaltenswissenschaft und Soziale Arbeit


Die Verhaltensorientierte Soziale Arbeit ist in erster Linie eine Evidenzbasierte Soziale Arbeit. Evidenzbasiertes Arbeiten ist das bewusste, explizite und abwägende Heranziehen des gegenwärtig besten Wissens bei Entscheidungen über den Umgang mit individuellen Klienten. Es bedeutet, die besten Forschungsergebnisse mit der fachlich fundierten Einschätzung der Situation und den Werten des Klienten zu vereinbaren.

Evidenzbasiertes Arbeiten impliziert, dass die theoretischen Annahmen und eingesetzten Methoden wissenschaftlich abgesichert sein sollen. Unter »wissenschaftlich abgesichertem« Arbeiten kann man jedoch vielerlei verstehen. Dieses Kapitel steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Wissenschaft »Verhaltensorientierte Soziale Arbeit« bewegt und grenzt diesen Ansatz von anderen (z. B. eher geisteswissenschaftlich geprägten) Herangehensweisen ab. Zugleich stellt die Wissenschaftstheorie das Rüstzeug dar, mit dem die Praktikerin oder der Praktiker Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen kann, um so Theorien und Methoden beurteilen zu können.

Aufgrund der Kürze kann in diesem Kapitel nur ein Abriss der für die Verhaltensorientierte Soziale Arbeit relevanten Wissenschaftstheorie gegeben werden. Das Gleiche gilt für den zweiten Teil des Kapitels. Hier werden die verhaltenswissenschaftlichen Grundlagen der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit kurz umrissen.

2.1       Fallibilismus


Der Ausgangspunkt dieser Einführung in die Wissenschaftstheorie ist der Umstand, dass alle Menschen immer wieder Dinge für wahr halten, die sich später als falsch erweisen. Dies ist das Prinzip des Fallibilismus: Etwas, das wir als wahr akzeptieren, kann sich jederzeit als falsch erweisen. Eine Letztbegründung, die ewigen Bestand hat, ist nicht möglich. Wir können aber danach streben, uns möglichst nicht zu täuschen, also die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns täuschen, herabsetzen.

Der Begriff des Fallibilismus geht zurück auf den Philosophen Charles Sanders Peirce (1839–1914), wurde aber vor allem im Rahmen des Kritischen Rationalismus (Albert, 1991; Popper, 2005) nach Sir Karl Popper (1902–1994) vertreten und konsequent weitergedacht.

Der erste Schritt, um die Möglichkeit, sich zu täuschen, zu verringern, ist die Prüfung an der Realität. Dieses Prinzip ist nicht selbstverständlich und letztlich eine Errungenschaft der neuzeitlichen Wissenschaft. Man nennt das Prinzip der Bewährung von Aussagen an der beobachteten Natur auch Empirismus.

Jedoch hat die Prüfung an der Realität ihre Tücken. Nicht jeder empirische Beleg ist relevant und hilfreich. Will man beispielsweise die Vermutung prüfen, ein Kind werde von seinen Eltern misshandelt, ist die Aussage eines Nachbarn anders zu werten als der Befund eines Arztes oder die Zeugenschaft des Sozialpädagogen selbst. Auch bei einem empirischen Beleg können wir uns täuschen.

Quellen der Täuschbarkeit


Die Verhaltenswissenschaften konnten viele dieser Quellen der Täuschbarkeit genauer untersuchen. Dies betrifft unter anderem (vgl. Bördlein, 2002):

•  Wahrnehmungstäuschungen: Unsere Sinne liefern kein getreues Abbild der Welt »da draußen«.

•  Erinnerungstäuschungen: Unsere Erinnerung ist kein zuverlässiger Rekorder vergangener Ereignisse.

•  Fehler bei der Verarbeitung von Informationen: Sowohl die Beschaffenheit der Welt als auch unsere Möglichkeiten, Informationen zu verarbeiten, legen Fehler geradezu nahe.

Für letzteres ein Beispiel: Wir neigen dazu, nur nach Belegen zu suchen, die unsere einmal gefassten Überzeugungen bestätigen. Dieses Phänomen bezeichnet man auch als Confirmation Bias – Bestätigungstendenz (vgl. Bördlein, 2000). Wer der Überzeugung ist, dass Menschen süd- oder osteuropäischer Herkunft zu Kriminalität neigen, wird über kurz oder lang notwendigerweise diese Überzeugung bestätigt finden. Dies geschieht sowohl durch die einseitige Suche nach Indizien – es werden nur Belege gesammelt, die die Hypothese stützen (»Schon wieder ein Zeitungsbericht über rumänische Einbrecherbanden!«), nicht aber entkräftende Hinweise (in deutschen Zeitungsberichten wird für gewöhnlich nicht explizit erwähnt, dass die Täter bei einem Verbrechen Deutsche waren), was als Selective Exposure bezeichnet wird (Frey & Rosch, 1984) – als auch durch die Interpretation der Belege im Sinne der Hypothese. Dies geschieht unwillkürlich und kann nur durch bewusstes Gegensteuern verhindert werden.

Eine Möglichkeit, mit dem Problem des Fallibilismus umzugehen, geht auf den antiken Philosophen Pyrrhon aus Elis (360–270 v. u. Z.) zurück. Pyrrhon strebte die Ataraxie, die Meeresstille des Gemüts an, indem er alle dogmatischen Festsetzungen zurückwies. Zu jeder Behauptung gibt es eine Gegenbehauptung. Indem er so nach und nach alle Gewissheiten zerstörte, löste er sich von dem Zwang, eine Meinung haben zu müssen. Pyrrhonische Skepsis ist geistige Enthaltsamkeit. Für das tägliche Leben schlug Pyrrhon vor, sich nach dem Eindruck oder den Sitten der Vorväter zu orientieren. Da nun aber nicht alle Menschen denselben Eindruck haben, der erste Eindruck oft impraktikabel ist und auch nicht alle Menschen dieselben Vorväter haben, muss man sich spätestens dann, wenn man mit anderen Menschen in Kontakt tritt, auf gemeinsame Standards einigen. Ähnliches gilt für den erkenntnistheoretischen Relativismus und bestimmte Formen des Konstruktivismus. Der Relativismus behauptet in diesem Zusammenhang, dass das, was jemand für wahr hält, nur für diese Person selbst wahr ist. In der Tat nehmen verschiedene Menschen dieselbe Situation unterschiedlich wahr. Dies ist banal und richtig. Der erkenntnistheoretische Relativismus folgert jedoch, dass die verschiedenen Sichtweisen gleichberechtigt nebeneinander stehen und leugnet, dass es Kriterien gibt, anhand derer man eine »richtige« von einer »falschen« Sicht unterscheiden kann. Der Konstruktivismus betont (ebenfalls zu Recht), dass unsere Weltsicht konstruiert ist (unsere Sinne liefern keine reine Abbildung der Welt, Wahrnehmung ist immer hypothesengeleitet und interpretativ). Der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass unsere Wahrnehmung in der Tat nur eine Konstruktion ist. Aber auch schwächere Formen des Konstruktivismus, die anerkennen, dass es »eine Welt da draußen« gibt und dass unsere Wahrnehmung diese zumindest teilweise wiedergibt, beinhalten, dass prinzipiell nicht zwischen einer »richtigen« und einer »falschen« Sicht unterschieden werden kann.

Beide Positionen führen jeweils dazu, dass es verschiedene Realitäten gibt, die eventuell unvereinbar sind (z. B. die wissenschaftliche Sicht der Medizin und die Sichtweise eines Schamanen, wenn es um die Entstehung von Krankheiten geht). Wenn man sich aber (z. B. bei der Entscheidung, für welche Therapien die Versichertengemeinschaft aufkommen soll) auf ein gemeinsames Handeln einigen will, muss eine gemeinsame Basis gefunden werden. Relativistische und konstruktivistische erkenntnistheoretische Standpunkte sind reizvoll, solange sie im Vagen bleiben. Sobald eine konkrete Entscheidung ansteht, fallen sie in sich zusammen. Ist die Erde eine Scheibe oder eine Kugel? Spätestens dann, wenn man beabsichtigt, die Welt zu umsegeln, gibt es hier keine zwei gleichwertigen Positionen mehr, sondern nur wahr oder falsch.

Wenn man eine Wissenschaft anstrebt, deren Erkenntnisse zur Lösung realer Probleme anwendbar sind, dann muss man ein möglichst voraussetzungsfreies Regelwerk finden, das es ermöglicht, Entscheidungen zu treffen, bei denen man sich möglichst nicht täuscht.

2.1.1     Aussagen und Gesetze


Hypothetischer Realismus


Zunächst sind einige grundsätzliche Dinge zu klären. Vorausgesetzt wird, dass die Welt existiert und dass sie prinzipiell unserer Erfahrung zugänglich ist. Man bezeichnet diese Position als ontologischen, hypothetischen oder kritischen Realismus (vgl. Mahner & Bunge, 2000, S. 5), um sie vom naiven Realismus abzugrenzen, der annimmt, dass die Welt so ist, wie man sie wahrnimmt. Der kritische Realismus erkennt dagegen an, dass die Wahrnehmung der Welt hinterfragt werden muss, aber er betont zugleich, dass (für ein Handeln) hinreichend zuverlässige Erkenntnis möglich ist. Diese Annahme ist nicht selbstverständlich und sie lässt sich letztlich auch nicht beweisen....