dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Abgrundtief - Odd Thomas 6 - Roman

Dean Koontz

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641117610 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

1

Noch vor der Morgendämmerung erwachte ich im Dunkeln vom Läuten einer winzigen Glocke, des fingerhutgroßen Glöckchens, das ich an einer Kette um den Hals trug: drei spontane Eruptionen silbernen Klangs, nach jeder ein kurzer Moment der Stille. Ich lag auf dem Rücken im Bett, vollkommen regungslos, und doch läutete das Glöckchen erneut dreimal. Die Vibrationen, die meinen nackten Brustkorb durchzuckten, erschienen viel zu heftig, um von einem so winzigen Klöppel hervorgebracht worden zu sein. Es folgte ein drittes dreimaliges Läuten und dann: nichts als Stille. Ich wartete und machte mir Gedanken, bis die Morgendämmerung am Himmel herunterkroch und über die Schlafzimmerfenster strich.

Später an jenem Morgen im frühen März, als ich mich zu Fuß auf den Weg ins Ortszentrum machte, um Bluejeans und Socken zu kaufen, begegnete ich einem Typen mit einer .45er-Pistole und dem Verlangen, ein paar Morde zu begehen. Mit ebenso großer Gewissheit, wie sich die Sonne von Osten nach Westen bewegt, wurde der Tag von diesem Zusammentreffen an immer garstiger.

Ich heiße Odd Thomas. Ich habe akzeptiert, dass ich sonderbar bin. So gesehen überrascht es mich nicht mehr, dass ich so zuverlässig von Ärger angezogen werde wie Eisen von einem Magneten.

Vor neunzehn Monaten, als ich zwanzig war, hätte ich bei dieser Schießerei in dem Einkaufszentrum, die Schlagzeilen machte, von Kugeln durchlöchert werden sollen. Zu dem Vorfall kam es in Pico Mundo, einem Wüstenstädtchen in Kalifornien. Es heißt, ich hätte sehr vielen Menschen in meinem Heimatort das Leben gerettet. Dennoch sind viele gestorben. Ich nicht. Damit muss ich leben.

Stormy Llewellyn, das Mädchen, das ich mehr als das Leben selbst liebte, war eine derer, die an jenem Tag gestorben sind. Ich habe andere gerettet, aber sie konnte ich nicht retten. Auch damit muss ich leben. Das Leben ist der Preis, den ich dafür bezahle, sie im Stich gelassen zu haben – ein hoher Preis, der jeden Morgen, wenn ich aufwache, bezahlt werden muss.

In den neunzehn Monaten, die seit jenem Todestag vergangen sind, bin ich auf der Suche nach dem Sinn meines Lebens umhergereist. Ich lerne, indem ich dorthin gehe, wohin ich gehen muss.

Momentan hatte ich ein anheimelndes möbliertes Häuschen mit drei Schlafzimmern in einem ruhigen Küstenort ein paar hundert Meilen entfernt von Pico Mundo gemietet. Von der Veranda vor dem Haus blickte man aufs Meer, und gelbe Bougainvilleen rankten sich über das halbe Dach.

Annamaria, die ich erst seit Ende Januar kannte, hatte eines der Schlafzimmer belegt. Sie erweckte den Eindruck, als würde sie in etwa einem Monat ihr Kind zur Welt bringen, doch sie behauptete, sie sei schon lange Zeit schwanger, und sie beharrte darauf, dass sie noch länger schwanger sein würde.

Obwohl sie viele Dinge sagte, die sich meinem Verständnis entzogen, glaubte ich fest daran, dass sie immer die Wahrheit sagte. Sie war geheimnisvoll, aber sie schwindelte nicht.

Wir waren Freunde, kein Liebespaar. Eine enigmatische Geliebte wird sich höchstwahrscheinlich als Katastrophe erweisen, die bloß noch nicht eingetreten ist, aber eine bezaubernde Freundin, deren gewohnte Wärme von Momenten kühler Unergründlichkeit durchwirkt ist, kann eine faszinierende Gefährtin sein.

An dem Morgen, an dem ich zu einem Einkaufsbummel aufbrach, folgte mir Annamaria bis auf die Veranda. Sie sagte: »Die Sommerzeit fängt erst in fünf Tagen an.«

Am unteren Ende der Treppe drehte ich mich zu ihr um und sah sie an. Sie war keine Schönheit, aber sie war auch nicht unattraktiv. Ihre klare, blasse Haut erschien mir so glatt wie Seife, und ihre großen, dunklen Augen, in denen sich das funkelnde Meer widerspiegelte, schienen so tief wie eine ganze Galaxie zu sein. In Turnschuhen, einer grauen Khakihose und einem ausgeleierten Pullover wirkte sie so zierlich wie ein Kind – ein kleines Mädchen, das die Klamotten seines Vaters trug.

Da ich nicht sicher war, warum sie die Sommerzeit erwähnt hatte, sagte ich: »Ich werde nicht lange fort sein. Noch vor Sonnenuntergang bin ich zurück.«

»Die Dunkelheit senkt sich nicht nach einem vorhersagbaren Zeitplan herab. Sie kann zu jeder beliebigen Tageszeit über dich hereinbrechen, wie du nur zu gut weißt.«

Sie hatte mir einmal erzählt, es gäbe Leute, die sie töten wollten. Obwohl sie nicht mehr dazu gesagt und sich auch nicht zur Identität jener geäußert hatte, die sie gern ermorden würden, glaubte ich, dass ihre Bemerkung ebenso sehr wie alles andere, was sie sagte, der Wahrheit entsprach.

»Wenn dir Gefahr droht, bleibe ich hier.«

»Du bist derjenige, der in Gefahr schwebt, junger Mann. Ob hier oder dort, überall bist du derjenige, der ständig auf dem Rand der Klippe steht.«

Sie war achtzehn, ich hingegen fast zweiundzwanzig, doch wenn sie mich junger Mann nannte, kam es mir immer richtig vor. Sie besaß eine Ausstrahlung von Zeitlosigkeit, als hätte sie in jedem anderen Jahrhundert der dokumentierten Menschheitsgeschichte oder sogar in ihnen allen gelebt haben können.

»Tu, was du tun musst«, sagte sie, »aber komm zu uns zurück.«

Tu, was du tun musst … Das klang unheilvoll bedeutungsschwanger und war nicht gerade die Wortwahl, die man normalerweise benutzen würde, wenn ein Freund loszog, um Socken zu kaufen.

Hinter Annamaria beobachtete uns Tim mit feierlichem Ernst durch eine Fensterscheibe. Links und rechts von ihm drängten sich unsere beiden Hunde mit den Pfoten auf der Fensterbank dicht an ihn und blickten mich an, ein Golden Retriever namens Rafael und ein weißer Deutscher Schäferhund namens Boo. Tim war erst neun Jahre alt und seit einem guten Monat bei uns, nachdem wir ihn von einem Anwesen namens Roseland in dem verschlafenen Städtchen Montecito gerettet hatten; von dieser Tortur habe ich in einem früheren Band meiner Erinnerungen berichtet. Wir waren jetzt seine einzige Familie. Aufgrund seiner einzigartigen Geschichte würden wir demnächst eine Identität erschaffen müssen, in die er im Lauf der kommenden Jahre hineinwachsen konnte.

Mein Leben ist so seltsam wie mein Name.

Tim winkte mir zu. Ich winkte Tim zu.

Kurz bevor ich das Haus verließ, hatte ich den Jungen gefragt, ob er mich begleiten wollte. Aber Annamaria hatte mit einem wohlwollenden Lächeln gemeint, weder Xerxes noch Leonidas hätten kleine Kinder aufgefordert, sie zu den Thermopylen zu begleiten.

Im Jahre 480 vor Christus hatten dreihundert Spartaner unter dem Befehl von Leonidas eine Zeit lang zweihunderttausend Perser unter Xerxes in der Schlacht bei den Thermopylen in Schach gehalten, bevor sie abgeschlachtet wurden. Es gelang mir nicht, die Ähnlichkeit zwischen meinem bescheidenen Einkaufsbummel und einem der erbittertsten militärischen Gefechte in der Geschichte der Menschheit zu erkennen.

Obwohl jeder Versuch, eine Erklärung aus Annamaria herauszuholen, wenn sie derart rätselhafte Bemerkungen von sich gibt, fruchtlos ist, spielte ich mit dem Gedanken, sie zu einer ausführlichen Darlegung aufzufordern. Aber sie hatte bereits die Tür für mich geöffnet und mich aus der Küche herausgelotst, war mir auf die Veranda gefolgt und stand jetzt da und blickte lächelnd auf mich herunter, während ich sie vom unteren Ende der Treppenstufen ansah. Der Moment, sie zu näheren Erläuterungen zu drängen, schien ungenutzt verstrichen zu sein.

Annamarias Lächeln ist so tröstlich, dass man, wenn man sie strahlen sieht, fast glauben könnte, diese Welt hätte nichts Bedrohlicheres zu bieten als das, was man mit Puh und Christopher Robin im Hundertmorgenwald fände – und das trotz ihrer Anspielungen auf das Abschlachten der Spartaner.

Ich sagte: »Das Glöckchen hat letzte Nacht geläutet.«

»Ja, ich weiß.«

Ich war davon überzeugt, dass sie es von ihrem Zimmer aus durch zwei geschlossene Türen nicht gehört haben konnte.

Sie hatte mir schon früher gesagt, wenn die Glocke in der Nacht läutete, würden wir kurz darauf an einen anderen Ort weiterziehen.

Jetzt sagte sie: »Ich sehe dich wieder, wenn der Wind das Wasser weiß und schwarz weht.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und zog sich in das kleine Haus zurück.

Hinter dem Strand erstreckte sich das Meer blau bis zum Horizont. Der Tag blieb weiterhin ruhig und mild, und der Himmel war so klar, dass es schien, als sollte ich in der Lage sein, trotz des Sonnenscheins, der sie verbarg, die Sterne wahrzunehmen.

Keinesfalls verblüfft, aber doch reichlich durcheinander, lief ich mit einer Skepsis, die ich vor wenigen Minuten noch nicht verspürt hatte, die halbe Meile nach Norden ins Ortszentrum. Im Schatten uralter Lebenseichen zog sich die dreispurige Geschäftsstraße durch den Ortskern, von gerade mal sechs Häuserblocks mit Läden, Restaurants und malerischen Gasthäusern flankiert. Wenn man eine richtige Stadt wollte, musste man an der Küste nach Santa Barbara rauffahren.

Ich wusste nicht, dass mir demnächst ein Kerl anbieten würde, mich zu kastrieren, oder dass er eine Pistole bei sich tragen würde, die mit einem Schalldämpfer ausgerüstet war. Ja, ich besitze gewisse paranormale Gaben, unter die gelegentlich auch ein prophetischer Traum fällt, aber im Wachen sehe ich keine Momente in der Zukunft.

Als mir der Laster, der meine Neugier anstachelte, erstmals auffiel, erkannte ich nicht, dass ein furchtbarer Feind hinter dem Steuer saß. Ich erhaschte nicht einmal einen flüchtigen Blick auf den Fahrer.

Mit meiner erbarmungslosen Neugier habe ich mir schon großen Ärger eingehandelt. Sie hat mir...