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Das Teekomplott - Ostfrieslandkrimi

Elke Bergsma

 

Verlag Lago, 2014

ISBN 9783957620057 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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3,99 EUR

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Jan Scherrmann legte seine rechte Hand über die Augen, um sie vor den grellen Strahlen der Sonne zu schützen. Es war ein brütend heißer Spätsommertag, wie man ihn hier oben an der Küste nur selten erlebte. Zum Glück aber wehte ein frischer Wind von der See her und verschaffte ihm mit jeder Böe, die ihm in unregelmäßigen Abständen über die verschwitzte Haut strich, eine erfrischende, wenn auch nur kurze Abkühlung.

Prüfend ließ er seinen Blick die Straße hinuntergleiten. Beim Anblick der spielenden Kinder, die johlend und jauchzend immer wieder durch das kühle Nass eines Rasensprengers hüpften, der ganz offensichtlich einzig zu diesem Zweck aufgestellt worden war, flog ein Lächeln über sein Gesicht. Er liebte dieses Idyll, das der kleine Ort an jedem einzelnen Tag des Jahres ausstrahlte. Canhusen. Für die Kinder, die das Glück hatten, hier aufzuwachsen, musste es das Paradies sein. Hier schien die Zeit stillzustehen. Scherrmann konnte sich gut vorstellen, dass sich hier in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas verändert hatte. Das war ihm auch von den Einheimischen bestätigt worden. Canhusen war und blieb Canhusen. In dem kleinen Dorf unweit von Emden war schon seit bestimmt zwei Generationen kein Baugebiet mehr ausgewiesen worden, nur hier und da hatte mal ein älteres Haus, dessen Bewohner verstorben waren, einem neuen weichen müssen. Gut ein Dutzend roter Klinkerhäuser scharrte sich um die kleine, jahrhundertealte Kirche, die im Zentrum des Ortes erhöht auf einer Warf stand und deren kleiner Glockenturm auf dem Dach wie ein gespitzter Bleistift in den blauen Himmel stach. Ergänzend zu diesem Ortskern gab es links der Einfallstraße nach Canhusen die im Volksmund »Alte Siedlung« genannte Straße Am Düsterland sowie ein paar Hundert Meter weiter Richtung Ortsmitte die »Neue Siedlung«, die gemäß ihrem Baumbestand den Namen Pappelallee erhalten hatte.

Jan Scherrmann lebte erst seit wenigen Monaten in Canhusen, er war ein Zugezogener, kam nicht mal aus Ostfriesland, sondern aus dem fernen Dortmund. Entsprechend kritisch war er von seinen neuen Nachbarn beäugt worden. Es kam nur äußerst selten vor, dass sich jemand von außerhalb in diesen Ort verirrte, von dessen Existenz selbst alteingesessene Ostfriesen häufig keine Ahnung hatten. Denn an Canhusen führten eigentlich alle Wege vorbei. Wer hier nicht ganz gezielt etwas zu tun hatte, der nahm das Dorf von der in einigen Hundert Metern vorbeiführenden Landstraße aus gar nicht wahr. Und was sollte man in Canhusen schon zu tun haben? Außer Idylle gab es hier wahrlich nichts. Hier wohnte man. Sonst nichts. Arbeit vor Ort hatten lediglich drei Landwirte, was dazu führte, dass Canhusen schon immer deutlich mehr Kühen ein zu Hause gab als Menschen. Ja, der kleine Ort war ein idyllisches Kleinod inmitten der hektischen Realität. Hier passierte nichts, rein gar nichts.

»Moin«, hörte Scherrmann einen etwas maulend klingenden Gruß hinter sich und drehte sich um. »Moin«, grüßte er zurück und fügte hinzu: »Na, Amelie, heute wieder Langeweile?«

Das fünfzehnjährige Mädchen starrte ihn mit vor dem Körper verschränkten Armen mürrisch an und nickte schwach. »Scheißkaff«, murmelte sie vor sich hin und ging dann mit hängendem Kopf wieder ihrer Wege. Scherrmann nickte wissend. Ja, für so manchen Jugendlichen war Canhusen nicht das Paradies, sondern die Hölle. Amelie war zweifelsohne aus dem Alter raus, in dem sie sich mit den anderen Kindern unter einem Rasensprenger vergnügte. Sie brauchte anderweitige Beschäftigung. Aber die gab es in Canhusen nicht. Und noch etwas gab es in Canhusen nicht: einen Bus. Kein öffentliches Verkehrsmittel stand zur Verfügung, um Mädchen wie Amelie zum Beispiel in die Stadt zu fahren, wo sie sich mit Freunden treffen oder shoppen gehen konnten. Nein, wenn Amelie irgendwo hinwollte, musste sie das Fahrrad nehmen oder sich von ihren Eltern chauffieren lassen. Was diese, angesichts von weiteren drei Kindern, jedoch kategorisch ablehnten. Also saß Amelie hier fest, wollte sie nicht nach der Schule, zu der sie an jedem Morgen und an jedem Mittag bereits mit dem Fahrrad nach Emden fuhr, nochmals mehrere Kilometer bei Wind und Wetter durch die Gegend radeln. Ja, für Amelie war es nach einer wunderbaren Kindheit inzwischen eine echte Strafe, in diesem Dorf zu wohnen. Während sich ihre Altersgenossen in der Stadt trafen, musste sie meistens absagen und saß dann, gerade abends, alleine in ihrem Zimmer vor dem Computer. Häufig vertrieb sie sich die Zeit mit irgendwelchen Computerspielen, auch wenn sie sich viel lieber mit ihren Freunden im Chat getroffen hätte. Aber die gingen ja aus und amüsierten sich, während sie hier vergammelte. Sie hasste Canhusen.

Scherrmann lief, nach einem letzten amüsierten Blick auf die spielenden Kinder, weiter Richtung Gemeindehaus. Die ehemalige Schule des Dorfes lag im Ortskern und wurde für kleinere Veranstaltungen genutzt. Am heutigen Abend beispielsweise würde sich hier wieder der Altherrenstammtisch treffen, wie an jedem Dienstag. Nachdem er, Scherrmann, die Idee mit der Fotoausstellung gehabt hatte, waren die fünf Herren des Stammtisches auf ihn zugekommen und hatten ihm angeboten, sich ihnen anzuschließen. Da er wusste, wie wichtig es in einem Dorf war, sich in die Gemeinschaft einzufügen, wollte man nicht für immer als Außenseiter gebrandmarkt sein, hatte er dankend zugestimmt – auch wenn er dadurch den Altersdurchschnitt der Runde erheblich senkte. Wie man ihm erzählt hatte, war der Altherrenstammtisch gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden, und zwar von denselben Leuten, die auch heute noch an ihm teilnahmen. Das eine oder andere Mitglied war allerdings inzwischen verstorben. Hinzugestoßen war im Laufe der Jahrzehnte wohl kaum jemand, sodass Scherrmann sich wahrlich geehrt fühlen konnte, in die eingeschworene Gemeinschaft aufgenommen worden zu sein.

Die Fotoausstellung würde ein echter Erfolg werden, das zeichnete sich schon jetzt ab. Scherrmann hatte die Herzen der Einwohner Canhusens im Sturm erobert, als er eines Tages vorgeschlagen hatte, zur Geschichte des kleinen Dorfes alte und neuere Fotos zu sammeln und im Gemeindehaus zu präsentieren. Mit Feuereifer waren vor allem die älteren Menschen ans Werk gegangen, hatten alte Schuhkartons voller Bilder sowie längst vergessene Fotoalben ausgegraben und sich beim Sortieren häufig in ihrer eigenen Geschichte verloren. Scherrmann hatte die Koordination der Ausstellung übernommen, zahlreiche Dias eingescannt, war bei der Auswahl der Fotos behilflich gewesen und hatte dabei viele lustige, aber auch die eine oder andere tragische Geschichte zu hören bekommen. Und nun standen an den Wänden des Gemeindehauses diverse Stellwände, die darauf warteten, mit den Erinnerungen der Canhuser bestückt zu werden und ihre Mitmenschen an dem einen oder anderen Ereignis der Vergangenheit rückblickend teilhaben zu lassen.

Scherrmann betrat den nicht allzu ausladenden, aber an diesem heißen Sommertag angenehm kühlen Raum und wurde von den bereits anwesenden drei Personen herzlich begrüßt. »Moin, Jan«, rief ihm Lübbo Krayenborg entgegen und klopfte ihm, als Scherrmann sich neben ihn stellte, freundschaftlich auf die Schulter. Der alte Herr hatte die Achtzig bereits überschritten, hielt sich aber, trotz eines Nierenleidens, rüstig auf den Beinen und leitete und koordinierte den Altherrenstammtisch seit dem ersten Tag seines Bestehens. Er war von eher kleiner, gedrungener Statur, erweckte durch sein selbstbewusstes Auftreten jedoch schnell den Eindruck nicht nur geistiger, sondern auch körperlicher Überlegenheit. Scherrmann war schnell klar gewesen, dass ohne Lübbo Krayenborg in Canhusen nichts lief. Viele nannten ihn scherzhaft Bürgermeister, obwohl Canhusen über einen solchen natürlich nicht wirklich verfügte. Der offizielle Bürgermeister saß in Hinte, akzeptierte aber von jeher die hervorgehobene Position seines heimlichen Rivalen. Nicht weil er ihn besonders schätzte, sondern weil er es sich ansonsten mit allen Canhusern ganz schnell verscherzt hätte. Und dass er sich das als Politiker, der noch Karriere machen wollte, nicht erlauben konnte, erklärte sich ja von selbst.

Lübbo hatte seine Frau Fenna mitgebracht, die erst vor wenigen Tagen mit einem großen Fest ihren achtzigsten Geburtstag in ebendiesem Gemeindehaus gefeiert hatte. Lübbo hatte aus diesem Anlass einen sündhaft teuren Catering-Service für einen ganzen Tag gebucht und eine bekannte ostfriesische Kapelle aufspielen lassen. Das ganze Dorf war bereits zum Frühstück eingeladen worden und hatte sich bis in den späten Abend hinein mit erlesenen Speisen und Getränken verköstigen lassen. Auf der Wiese vor dem Gemeindehaus hatte Lübbo einen Tanzboden errichten lassen und mit seiner Fenna bis tief in die Nacht schwungvoll seine Runden gedreht. Es war ein Fest gewesen, wie es Canhusen noch nicht erlebt hatte. Allein, es hatte vor allem den Gästen Spaß gemacht, keineswegs aber der Jubilarin selbst. Zwar hatte sich Fenna den ganzen Abend bemüht, einen fröhlichen und gelösten Eindruck zu machen, aber Jan Scherrmann hatte sie nicht täuschen können. Nicht nur ihm war bekannt, dass die alte Dame eigentlich viel lieber im Familienkreis mit ihrer noch lebenden Schwester Okka und ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln gefeiert hätte. Aber das hatte ihr Gatte nicht zugelassen. Nein, Fenna sollte sich feiern lassen an ihrem großen Tag, da kam gar nichts anderes infrage. Und wenn Lübbo das so beschlossen hatte, dann war es Gesetz. Egal, was seine Frau oder irgendwer dazu zu sagen hatte. Alles, was Lübbo sagte, war Gesetz, das kannte man in Canhusen nicht anders. Und somit widersprach ihm auch keiner. Insgeheim tat den...