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Letzte Zugabe

Dieter Hildebrandt

 

Verlag Blessing, 2014

ISBN 9783641140830 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Hochgeschätzte Damen und Herren des Dresdner Presseclubs, die als 160-köpfige Jury mich zum Preisträger des Erich-Kästner-Preises erkoren haben, und meine Damen und Herren, die sich diesen Vormittag freigehalten haben, um meinem Laudator Roger Willemsen zuzuhören, und nun gezwungen sind, meine Verteidigungsrede anzuhören.

Mir sind schon eine ganze Reihe von Preisen zugefallen, die, wie Gerhard Polt gesagt hat, unnachsichtig ihre Träger suchen und finden. Dieser Preis hat mich sehr gefreut. Ich danke Ihnen.

Die Reaktion einiger Kollegen war ungefähr so: »Was kriegst du schon wieder? Was? Den Erich-Kästner-Preis? Ja, schöön. Wieso das denn?«

Mein hochgeehrter Laudator Roger Willemsen hat versucht, in wohltuenden Sätzen die Gründe dafür darzulegen, und hie und da vielleicht etwas übertrieben. Aber gerade dafür danke ich ihm von Herzen. Das ist vielleicht das Einzige, das mich mit meiner Bundeskanzlerin verbindet: »Wir beide können Lob vertragen.«

Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit den Versuch wagen, ihn zu beschämen, indem ich Ihnen, meine Damen und Herren, ganz im Vertrauen mitteile: Einen Mann wie Roger Willemsen hätte ich, als ich in den 50er-Jahren in München in den Geisteswissenschaften herumstudierte, liebend gern als Professor gehabt. Ich hätte meine Doktorarbeit zu Ende gebracht, die ich abbrach, weil ich das peinigende Gefühl bekam, dass ich unwillentlich dauernd von jemandem abschreibe, und wäre etwas Vernünftiges geworden.

Stattdessen hörte ich missmutig Professoren zu, die die Weimarer Republik und das Dritte Reich mühelos überstanden hatten, schrieb Referate über Malte Laurids Brigge, Andreas Gryphius und seinen Horribilicribrifax, nahm an Kolloquien teil, in denen von Ossietzky, Tucholsky, Jacobson oder Erich Kästner nie die Rede war, geschweige denn von Erich Mühsam, Toller oder Feuchtwanger, begann mich zu ärgern, schrieb einige Texte, spielte sie in Laienspielgruppen vor, sofern ich Zeit dafür fand, denn ich musste mein Studium verdienen. Und da hatte ich das unverschämte Glück, einen Freund zu finden, der einen Fuß in die Tür meines angebeteten Theaters, nämlich der Kammerspiele, gebracht hatte und in diesem Haus eine Blitzkarriere startete – und das war August Everding. Ich wurde da nichts, aber reingelassen, wenn ich wollte.

Eines Vormittags, es war im November 1954, hielt Erich Kästner anlässlich des Gedankens an die Frauen und Männer des deutschen Widerstands eine Rede über die deutsche Vergesslichkeit. Unten, in den ersten Reihen des Theaters, saßen alle wiedergekehrten Emigranten, saßen Kortner, Hollaender und sein bester Freund Hermann Kesten. Kästner hat an diesem Morgen eine Rede gehalten, die meine Ohren für die Politik dieser neuen Republik weit geöffnet hat. Sie war eine der Ursachen, die mich bewogen haben, alle anderen Ziele aufzugeben und einen Platz zu finden, an dem ich meine Gedanken äußern könnte. Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich einen Teil der Rede zitieren.

Von der deutschen Vergesslichkeit

Als Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der Soldatenkönig, eben jener Hohenzoller, der den Sohn und präsumptiven Nachfolger beinahe hätte hinrichten lassen, ein Regiment inspizierte, schlug er, aus geringem Anlass, einen Major mit dem Krückstock. Daraufhin zog der Major, angesichts der Truppe, die Pistole und schoss, knapp am König vorbeizielend, in den Sand.

»Diese Kugel«, rief er, »galt Ihro Majestät.«

Dann jagte er sich, unter Anlegen der bewaffneten Hand an die Kopfbedeckung, die zweite Kugel in die eigene Schläfe.

Es lohnte sich nicht, diese kleine Geschichte zu erzählen, wenn es in unserer großen Geschichte viele ihresgleichen gäbe. Aber es ist eine verzweifelt einsame, eine zum Verzweifeln einsame kleine deutsche Geschichte.

Wir stehen vor jeder Autorität stramm. Auch vor dem Größenwahn, auch vor der Brutalität, auch vor der Dummheit – es genügt, dass sie sich Autorität anmaßen. Unser Gehorsam wird blind. Unser Gehorsam wird taub. Und unser Mund ruft: »Zu Befehl!« Noch im Abgrund reißen wir die Hacken zusammen und schmettern: »Befehl ausgeführt!« Wir haben gehorcht und sind es nicht gewesen. Und Courage blieb ein Fremdwort. Die Frauen und Männer des deutschen Widerstands haben versucht, haben wieder versucht, dieses Wort einzudeutschen. Sie setzten Ehre und Leben aufs Spiel, und sie verloren beides. Ihr Leben konnte man ihnen durch kein Wiedergutmachungsverfahren rückvergüten.

Stellen Sie sich vor, man hätte es gekonnt. Stellen Sie sich die allgemeine und die amtliche Ratlosigkeit nur vor. Diese Frauen und Männer als Heimkehrer aus dem Jenseits mitten unter uns! Welch ein Drama. Was für eine deutsche Tragikomödie.

Sie opferten Leben und Ehre. Hat man ihnen wenigstens ihre Ehre wiedergegeben? Nicht ihre Offiziersehre, nicht ihre Pastorenehre, nicht ihre Gewerkschaftsehre, nein, ihre mit Gewissensqualen und dem Tod besiegelte, mit Folter und Schande besudelte, am Fleischerhaken aufgehängte menschliche Ehre und wahre Würde?

Ich denke dabei nicht an die Umbenennung von Straßennamen, die Niederlegung von Behördenkränzen und ähnliche Versuche, den Dank des Vaterlandes nach dem Muster des Teilzahlungssystems in bequemen Raten abzustatten. Sondern ich frage: Hat man versucht, diese Männer und Frauen in unserer vorbildarmen Zeit zu dem zu machen, was sie sind? Zu Vorbildern?

Man gedenke ernstlich der Beispiele. Man schaffe die Vorbilder. Und man tue es, bevor der Hahn zum dritten Male kräht.

Als Erich Kästner diese unvergessliche Rede hielt, wusste er, dass im deutschen Bundestag Abgeordnete saßen, die nicht einmal hohe Nazis waren, sondern lediglich die Nachkommen der alten Deutschnationalen aus der Weimarer Republik, die laut verkünden durften, dass sie die Männer des 20. Juli für Verräter halten, die zu Recht aufgehängt worden seien.

Aber die nächsten Vorbilder, die wahrhafte Vorbilder bis zum heutigen Tage sind, wurden Monate später in diesem Jahr 1954 gefeiert. Es waren die »Helden von Bern«. Der Fußball gab uns die Ehre zurück. So wird es heute noch gesehen.

Mit Kästner gesagt:

»Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel:

Im Tunnel bleibt es immer dunkel.«

Erich Kästner war und ist mein Vorbild. Es begann mit den Kästnerkindern in seinen Kinderbüchern, die nicht über Kinder, sondern für sie geschrieben waren. Dann wurde es still um ihn. Bis Hans Habe die erste deutsche Zeitung nach Kriegsende herausgab. Die Neue Zeitung aus München. Kästner war ihr Feuilletonchef. Kurz danach gründete er das Kabarett Die Schaubude in der Münchner Reitmorstraße. Viele seiner Leser hatten nicht gewusst, dass Kästner in den Jahren von 1925 bis 1933 zu den wichtigsten politischen Satirikern Deutschlands gehörte. Neben Tucholsky, neben Mühsam und Ossietzky in der Weltbühne von Siegfried Jacobson, die allesamt zutiefst verhasst waren bei den Nazis, denn ihre klare politische Haltung, die sich in Verachtung von Krieg, Revanchismus und Kapitalismus ausdrückte, brachte sie auf die vordersten Plätze der schwarzen Liste der Braunen.

Natürlich wurde Kästner nach 1945 gefragt, was ihn denn nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland gehalten hat. Hat er sich arrangiert? Wie kam es, dass er überlebt hat? Waren es die berühmten Detektive? War es Emil? Hatte er Gönner?

Die Wahrheit ist, dass er es selbst nicht gewusst hat. Er rechnete ständig damit, dass morgens um sechs Uhr die Gestapo an seine Tür klopft. Zweimal wurde er verhaftet, aber wieder freigelassen. Vielleicht haben ein paar Geliebte ihre Hand im Spiel gehabt. Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Kästner war ein Vielgeliebter, ein »womanizer« würde man heute sagen. Nach eigenen Aussagen hat er natürlich in Angst gelebt.

Seine Freunde, die das Land verlassen hatten und in Angst um ihn im Ausland lebten, sagten: Er hat das Land nicht verlassen, weil er Angst hatte um seine Karriere, er hatte Angst um seine Mutter. Die Karriere war nie abgebrochen. Als er das erste Kabarett nach dem Kriege, Die Schaubude, eröffnete, strömten die Menschen wie ausgehungert in das kleine Theater. Den Großteil der Texte schrieb Kästner, ein paar Freunde aus alten Berliner Zeiten steuerten dieses oder jenes bei, und sein Star, die wunderbare Ursula Herking, riss die Menschen mit.

Es war schwer, sehr schwer, für diese Vorstellungen Karten zu bekommen. Für Geld bekam man nichts. Es spielte damals wirklich keine Rolle. Wer hineinwollte, musste mit Speck, Eiern oder Briketts bezahlen. Als dann, plötzlich und unerwartet, die Währungsreform kam, blieben die Zuschauer weg. Das Haus wurde geschlossen.

In dieser Zeit kästnerte es in München allerorten. Kästner-Abende – Kästner-Chansons – Kästner-Lesungen in Schwabing. Mitleidlos wurden seine Gedichte vertont, bearbeitet, inszeniert, verfeatured und massakriert. Niemand, so dachte man, wird ihn überreden können, selbst noch einmal in das politische Kabarett einzugreifen.

Trude Kolman, aus London gekommen, hat es geschafft. Sie gründete mit ihm zusammen Die Kleine Freiheit. Ein Kellerraum mit 160 Plätzen, einer kleinen Bühne, aber mit einem hochkarätigen Ensemble, in dem ich mit Glück den Job als Kartenabreißer, Programmheftverkäufer und Platzanweiser bekam. Der Lohn war auch für damalige Verhältnisse ein Mindestlohn. Aber für einen armen Studenten waren vier Mark ein Zehntel der Miete.

Als ich das erste Mal das Theaterchen betrat, das Haus, in dem der große Erich Kästner die Texte schrieb, hatte ich das Gefühl, einen großen Schritt auf meinem Weg zum Ziel, nämlich eines...