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Die Rougon-Macquart - Alle 20 Bände: Germinal + Nana + Der Totschläger + Die Bestie im Menschen + Das Paradies der Damen + Das Glück der Familie Rougon...

Emile Zola

 

Verlag e-artnow, 2014

ISBN 9788026808831 , 16686 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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1,99 EUR


 

Erstes Kapitel.


Wenn man Plassans durch das Römertor verläßt, das auf der Südseite der Stadt liegt, findet man rechts von der Straße nach Nizza hinter den ersten Häusern der Vorstadt ein wüstes Stück Land, das in der Gegend unter dem Namen »der Saint-Mittre-Grund« bekannt ist.

Der Saint-Mittre-Grund ist ein längliches Viereck in ziemlicher Ausdehnung, das sich in gleicher Höhe mit dem Fußsteig der Straße hinzieht, von der er nur durch einen Streifen dürren Rasens getrennt ist. Auf einer Seite des Grundstückes, rechts, zieht sich ein Sackgäßchen hin mit einer Reihe von Hütten. Links und im Hintergrunde ist das Gebiet durch zwei von Moos zerfressene Mauern abgeschlossen, über die hinweg man die Maulbeerbäume des Jas-Meiffren erblickt, eines größeren Besitztumes, zu dem der Eingang weiter unten in der Vorstadt zu finden ist. So von drei Seiten eingeschlossen, ist der »Saint-Mittre-Grund« eigentlich ein großer Platz, der nirgends hinführt und daher nur von Spaziergängern aufgesucht wird.

Einst war hier ein Kirchhof, der unter dem Schutze des Saint-Mittre stand, eines provençalischen Heiligen, der in dieser Gegend sehr verehrt wurde. Die älteren Leute erinnerten sich im Jahre 1851 noch, die Mauern dieses Kirchhofes, der Jahre hindurch geschlossen geblieben, gesehen zu haben. Der Boden, den man seit mehr denn einem Jahrhundert mit Leichen vollstopfte, atmete den Tod aus, und man war genötigt, am anderen Ende der Stadt einen neuen Gottesacker zu eröffnen. Nachdem er aufgelassen worden, schwand der ehemalige Friedhof mit jedem jungen Jahre mehr und bedeckte sich mit einem üppigen Pflanzenwuchs. Dieser fette Boden, in den die Totengräber keinen Spatenstich mehr tun konnten, ohne Menschenknochen aufzuwerfen, war von einer ungeheuren Fruchtbarkeit. Nach den Mairegen und den sonnigen Tagen des Juni sah man von der Straße aus die Spitzen der Gräser über die Mauern hinausragen; im Innern war ein Meer von tiefem, sattem Grün, da und dort blühten breite Blumen von seltsamem Farbenglanze. Im Schatten der eng zusammenstehenden Stengel roch man das feuchte Erdreich, das von gärenden Säften strotzte.

Eine Merkwürdigkeit dieses Grundstückes waren zu jener Zeit die Birnbäume mit den verkrümmten Zweigen und unförmigen Knoten, nach deren riesigen Früchten keine Hausfrau von Plassans Verlangen trug. Man sprach in der Stadt von diesen Birnen nur mit Ekel; aber die Vorstadtjungen waren nicht so heikel; sie erklommen des Abends scharenweise die Mauern, um die Birnen zu stehlen, noch ehe sie völlig reif waren.

Das blühende, reich sprießende Leben der Gräser und Bäume hatte bald den Tod des ehemaligen Kirchhofes von Saint-Mittre bewältigt. Der menschliche Moder wurde gierig von den Blumen und Früchten aufgesogen, und kam man an diesem Orte vorbei, so spürte man nur mehr den scharfen Duft der wilden Nelken. Wenige Sommer hatten dies zustandegebracht.

Um jene Zeit kam die Stadt auf den Gedanken, von diesem bisher brach gelegenen Gemeindebesitz Nutzen zu ziehen. Man riß die längs der Straße und des Sackgäßchens stehenden Mauern nieder und beseitigte Gräser und Birnbäume; dann verlegte man den Kirchhof. Der Boden ward bis zu einer Tiefe von mehreren Metern aufgegraben, und man warf in einem Winkel die Gebeine zuhauf, die sich in der Erde vorfanden. Die Jungen, die über den Verlust der Birnbäume untröstlich waren, spielten fast einen Monat Ball mit den Schädeln; es fanden sich Leute, die sich den schlechten Spaß machten, nächtlicherweile Schenkel- und Schienbeine an die Türglocken der Stadt zu hängen. Dieses Ärgernis, das in Plassans heute noch unvergessen ist, hörte nicht eher auf, als bis man sich entschloß, die Gebeine in einer Grube auf dem neuen Kirchhofe zu verscharren. Allein, in der Provinz werden die Arbeiten mit bedächtiger Langsamkeit ausgeführt, und die Bewohner des Ortes sahen eine Woche hindurch von Zeit zu Zeit einen einzigen Leichenkarren mit menschlichen Resten dahinziehen, als ob er Kalk führte. Das Schlimmste dabei war, daß dieser Karren Plassans in seiner ganzen Länge passieren mußte und daß er, auf dem schlechten Pflaster forthumpelnd, bei jedem Stoße Knochenstücke und Häuflein fetter Erde als Spur zurückließ. Keinerlei kirchliche Zeremonie, nur eine langsame, rohe Abfuhr. Niemals fand in einer Stadt ein so widerliches Schauspiel statt.

Mehrere Jahre hindurch blieb der ehemalige Kirchhof von Saint-Mittre ein Gegenstand des Schreckens. Am Rande einer großen Straße für alle Welt offen daliegend, blieb der Ort öde und verlassen, abermals eine Beute wilden Wachstumes. Die Stadt, die ohne Zweifel das Grundstück veräußern wollte, damit es mit Häusern bebaut werde, fand keinen Käufer; vielleicht war es die Erinnerung an den Knochenhaufen und an den vereinzelt durch die Straßen ziehenden, an einen hartnäckigen, bösen Traum gemahnenden Leichenkarren, welche die Leute zurückschreckte; vielleicht auch erklärt sich die Tatsache durch die Lässigkeit der Provinz, durch jenes Widerstreben, das sie gegen alles Niederreißen und Wiederaufbauen hat. Die Stadt behielt das Grundstück, und schließlich geriet der Wunsch, es zu verkaufen, ganz in Vergessenheit. Man unterließ sogar, das Gebiet mit einem Pfahlzaun einzufrieden; jedermann konnte ungehindert ein und aus gehen. Nach und nach gewöhnte man sich im Laufe der Jahre an diesen öden Winkel; man ließ sich auf das Gras am Raine nieder; man ging wohl auch quer über das Stück Feld, kurz: der Ort belebte sich immer mehr. Als die Füße der Spaziergänger den Rasenteppich abgenützt hatten und der festgestampfte Boden grau und hart geworden war, glich der ehemalige Kirchhof einem schlecht geebneten öffentlichen Platze. Um jede peinliche Erinnerung völlig zu tilgen, gewöhnten sich die Bewohner, fast ohne es zu merken, allmählich daran, die Benennung des Gebietes zu ändern; man begnügte sich damit, bloß den Namen des Heiligen zu behalten und legte diesen auch dem Gäßchen bei; man sagte: das »Saint-Mittre-Feld« und das »Saint-Mittre-Gäßchen«.

All dies ist schon lange her. Seit mehr denn dreißig Jahren hat das Saint-Mittre-Feld sein eigenartiges Aussehen. Die Stadt, viel zu lässig und sorglos, um das Grundstück auszunützen, hat es gegen ein geringes Entgelt an die Wagner der Vorstadt verpachtet, die daselbst einen Zimmerplatz eingerichtet haben. Heute noch liegen stellenweise Haufen von riesigen Balken, zehn bis fünfzehn Meter lang, herum, gleich umgestürzten hohen Pfeilern. Diese Balkenhaufen, diese parallel hingelegten Maste, die sich fortsetzen von einem Ende des Feldes bis zum anderen, sind die ewige Freude der Jungen. Einzelne Balken sind herabgeglitten, so daß stellenweise der Boden mit einer Art Parkett, aus runden Stücken bestehend, bedeckt ist, auf dem man nur mit dem Aufgebot halsbrecherischer Balancierkünste dahinschreiten kann. Den ganzen Tag sind Scharen von Kindern da, die sich dieser Leibesübung hingeben. Man sieht sie über die großen Bohlen springen, die schmalen Kanten entlang schreiten, rittlings dahinrutschen, all die verschiedenen Spiele treiben, die gewöhnlich mit einer Keilerei, mit Geheul und Gezeter endigen; oder auch es setzen sich ihrer je ein halbes Dutzend, eng aneinander gedrängt, auf die beiden Enden eines quer über die anderen gelegten Balkens und schaukeln sich stundenlang. Das Saint-Mittre-Feld ist ein Unterhaltungsplatz geworden, auf dem die Vorstadtjungen seit einem Vierteljahrhundert die Hosen zerreißen.

Was diesem verlorenen Winkel vollends einen seltsamen Charakter verliehen hat, ist der alte Brauch der durchziehenden Zigeuner, hier ihre Zelte aufzuschlagen. Sobald eines dieser Häuser auf Rädern, das einen ganzen Stamm enthält, in Plassans eintrifft, läßt es sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes nieder. Der Platz ist denn auch niemals leer; es findet sich stets eine dieser Banden mit ihrem seltsamen Treiben, eine Truppe von braunen Männern und furchtbar dürren Weibern, zwischen denen ganze Scharen schmutziger Rangen sich am Boden wälzen. Dieses Volk lebt ohne Scham im Freien vor aller Welt, kocht seine Suppe, nährt sich von namenlosen Dingen, breitet seine Lumpen aus, schläft, prügelt sich, küßt sich, stinkt von Schmutz und Elend.

Das öde Leichenfeld, wo einst die Drohnen allein die dickblätterigen Blumen in der stillen, schwülen Sonnenglut umsummten, ist ein geräuschvoller Ort geworden, erfüllt von dem Gezanke der Zigeuner und dem Geschrei der jungen Vorstadt-Taugenichtse. Eine Sägerei, die in einem Winkel die Balken des Zimmerplatzes zerlegt, liefert mit ihrem Kreischen eine beständige dumpfe Begleitung zu den hellen menschlichen Stimmen. Die Sägerei ist ganz einfach; das Stück Holz wird quer auf zwei erhöhte Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, der eine oben auf dem Balken sitzend, der andere unten, geblendet durch den herabfallenden Sägestaub erhalten eine starke und breite Säge in fortwährender auf- und absteigender Bewegung. Stundenlang neigen sich diese Männer so hin und her gleich Gliederpuppen mit der Regelmäßigkeit und Starrheit von Maschinen. Das von ihnen zu Brettern gesägte Holz ist im Hintergrunde längs der Mauer zwei bis drei Meter hoch aufgeschichtet und gleichmäßig in Kubikform gelegt. Diese Mühlsteinen ähnlichen Vierecke, die manchmal mehrere Jahre lang hier liegen bleiben, bis sie von Moos und Unkraut überwuchert werden, sind mit ein Reiz des Saint-Mittre-Feldes. Es ziehen sich zwischen ihnen verschwiegene, stille Pfade hin, die zu einem etwas breitern Wege führen, der zwischen den Holzstößen und der Mauer freigelassen blieb. Es ist dies ein verlassener Winkel, ein schmaler grüner Fleck, von welchem...