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Die zwei Gesichter des Januars

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257603927 , 432 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[9] 1

Es war ein Morgen Anfang Januar um halb vier Uhr früh, als Chester MacFarland in seiner Koje auf der San Gimignano von einem beunruhigenden Kratzgeräusch geweckt wurde. Er setzte sich auf und sah durch das Bullauge eine grell erleuchtete Wand an sich vorüberziehen. Sein erster Gedanke war, daß sie gerade ein anderes Schiff schrammten, daher krabbelte er rasch aus dem Bett und spähte, immer noch im Halbschlaf und über die Koje seiner Frau gebeugt, hinaus. Die Wand war mit Graffitti, Krakeleien und Zahlen vollgemalt und entpuppte sich jetzt als nackter Fels. NIKO 1957, las er. W. MUSSOLINI. Und dann ein sehr amerikanisches PETE ’60.

Der Wecker schrillte los, Chester packte ihn und warf dabei die Scotchflasche um, die neben dem Bett auf dem Boden stand. Er drückte den Knopf, der das Klingeln beendete, dann griff er nach seinem Morgenmantel.

»Liebling… Was ist los?« fragte Colette verschlafen.

»Ich glaube, wir sind im Kanal von Korinth«, sagte Chester. »Oder wir rammen gleich ein anderes Schiff. Aber eigentlich sollte es doch der Kanal sein. Es ist halb vier. Kommst du mit rauf an Deck?«

»Ach… nein«, murmelte Colette und kuschelte sich tiefer in die Kissen. »Erzähl mir später davon.«

[10] Chester lächelte und drückte ihr einen Kuß auf die warme Wange. »Ich geh mal kurz rauf. Komme gleich wieder.«

Kaum war Chester durch die Tür an Deck hinausgetreten, lief ihm der Offizier über den Weg, der am Abend gesagt hatte, sie würden den Kanal von Korinth gegen 3.30 Uhr durchqueren.

»Sìsìsìsì! Il canale, signore!« rief er Chester zu.

»Danke!« Ein Kitzel von Abenteuerlust und Erregung durchfuhr Chester, und er reckte sich gegen den kühlen Wind, die Reling fest mit beiden Händen umklammert. Außer ihm war niemand an Deck.

Die Wände des Kanals ragten vier Stockwerke empor, wenn nicht höher. Auch als Chester sich über die Reling lehnte, sah er nichts als Schwärze in beide Richtungen. Man konnte nicht erkennen, wie weit der Kanal reichte, aber er erinnerte sich an die Landkarte Griechenlands: gut ein Zentimeter war er dort lang, was Chester auf rund sechs Kilometer hochrechnete. Von Menschen erbaut, diese wichtige Schiffsverbindung. Eine beeindruckende Vorstellung. Chester betrachtete die Spuren von Bohrern und Spitzhacken, die in dem orangefarbenen Fels noch zu sehen waren – oder war es nur harter Lehm? Er hob den Blick dorthin, wo die Kanalwand gegen die Dunkelheit abbrach, und weiter hinauf zu den Sternen, die den griechischen Himmel sprenkelten. Nur noch wenige Stunden, und er würde Athen sehen. Einen Moment lang wollte er den Rest der Nacht aufbleiben, sich seinen Mantel holen und an der Reling stehen, während das Schiff in Richtung Piräus durch die Ägäis pflügte. Allerdings wäre er dann am nächsten Tag [11] todmüde. Nach ein paar Minuten ging Chester zurück in die Kabine und kroch ins Bett.

Etwa fünf Stunden später, als die San Gimignano in Piräus angelegt hatte, kämpfte sich Chester wieder zur Reling – diesmal durch eine zeternde Menge von Passagieren und Trägern hindurch, die an Bord gekommen waren, um den Leuten mit ihrem Gepäck zu helfen. Er hatte geruhsam in der Luxuskabine gefrühstückt, weil er vorsichtshalber abwarten wollte, bis die meisten Passagiere an Land waren; doch nach der Anzahl Menschen, die an Deck und in den Korridoren herumwuselten, hatte der Landgang noch nicht begonnen. Die Stadt und der Hafen von Piräus waren ein staubiges Chaos. Chester war enttäuscht, daß er Athen nicht einmal in der Ferne erkennen konnte. Er zündete sich eine Zigarette an und musterte versonnen die geschäftigen und die reglosen Gestalten auf der breiten Mole. Gepäckträger in Blau. Einige Männer gingen in eher schäbig aussehenden Mänteln rastlos auf und ab und sahen dabei zum Schiff hinauf: sie wirkten eher wie Geldwechsler oder Taxifahrer als wie Polizisten, dachte Chester. Er ließ den Blick von rechts nach links und wieder zurück über die versammelte Menge schweifen. Nein, er konnte sich nicht vorstellen, daß hier jemand auf ihn wartete. Die Gangway war seit langem herabgelassen, und wenn sie ihn fassen wollten, wären sie dann nicht längst an Bord gekommen, statt ihn an Land abzupassen? Natürlich. Chester räusperte sich und zog an seiner Zigarette. Dann drehte er sich um und sah Colette.

»Griechenland«, sagte sie lächelnd.

»Ja, Griechenland.« Er nahm ihre Hand. Sie spreizte die [12] Finger und schloß dann die Hand fest über der seinen. »Ich kümmere mich besser mal um einen Träger. Sind die Koffer alle zu?«

Sie nickte. »Ich hab mit Alfonso geredet. Er bringt sie hinaus.«

»Hast du ihm Trinkgeld gegeben?«

»Aber ja. Zweitausend Lire. Glaubst du, das reicht?« Sie richtete den Blick ihrer großen dunkelblauen Augen auf Chester. Die langen rotbraunen Wimpern gingen zweimal nieder. Dann prustete ein Lachen aus ihr heraus, ein Lachen voller Glück und Zuneigung. »Du sagst gar nichts? Reichen zweitausend nun oder nicht?«

»Zweitausend sind perfekt, Liebling.« Chester küßte sie rasch auf die Lippen.

Alfonso tauchte mit der Hälfte ihres Gepäcks an Deck auf, stellte es ab und verschwand, um den Rest zu holen. Chester half ihm dabei, die Sachen über die Gangway an Land zu bringen, wo sich sogleich drei oder vier Gepäckträger um den Auftrag zu streiten begannen.

»Moment! Einen Moment mal bitte«, sagte Chester. »Zuerst brauche ich Geld. Muß mir was wechseln gehen.« Er schwenkte ein Heft voller Reiseschecks und trabte in Richtung einer Wechselstube an der Einfahrt des Hafens davon. Er wechselte zwanzig Dollar ein.

»Bitte!« sagte Colette und klopfte beschützerisch auf einen Koffer, worauf die diskutierenden Gepäckträger abwartend die Arme verschränkten, einen Schritt zurücktraten und sie beifällig musterten.

Colette – diesen Namen hatte sie sich mit vierzehn Jahren selbst zugelegt, weil ihr Elizabeth nicht gefiel – war [13] fünfundzwanzig Jahre alt, einssechzig groß und hatte rotblondes Haar, volle Lippen, eine makellos gerade Nase, die leicht mit Sommersprossen gesprenkelt war, und ziemlich atemberaubend hübsche dunkelblaue, beinahe lavendelfarbene Augen. Sie sahen alles und jeden groß und geradlinig an, wie die Augen eines neugierigen, intelligenten und immer noch dazulernenden Kindes. Männer, die sie so ansah, fühlten sich meist fasziniert und wie gelähmt von ihrem Blick; es lag etwas Sinnierendes darin, und fast jeder Mann, egal, welchen Alters, dachte sich: Sie sieht aus, als ob sie sich gerade in mich verliebt hat. Ist das möglich? Frauen hielten ihre Miene und sogar Colette selbst meist für reichlich naiv, zu naiv, um eine Gefahr darzustellen; was ein Glück für sie war, denn sonst wären andere Frauen ihrer Anmut mit Eifersucht oder Mißtrauen begegnet. Sie war jetzt etwas mehr als ein Jahr mit Chester verheiratet, und kennengelernt hatte sie ihn, als sie sich als Teilzeitsekretärin und Typistin vorstellen ging, auf seine Annonce in der Times hin. Bereits nach ein paar Tagen war ihr klar, daß Chesters Firma nicht ganz legal sein konnte – welcher Aktienmakler arbeitete schon in seiner Privatwohnung statt in einem Büro, und wo waren seine Aktien an der Börse überhaupt? –, aber Chester verfügte über sehr viel Charme; offenbar hatte er auch jede Menge Geld, und dieses Geld kam auch regelmäßig herein, also konnte er nicht weiter in Schwierigkeiten sein. Chester war schon einmal verheiratet gewesen, acht Jahre lang, mit einer Frau, die, zwei Jahre bevor Colette ihn getroffen hatte, an Krebs gestorben war. Chester war zweiundvierzig und sah noch recht gut aus, mit leicht ergrauten Schläfen und dem Ansatz eines [14] Bäuchleins, aber für Colette, die zu ihrem Leidwesen sehr leicht zunahm, waren Diäten an der Tagesordnung. Sie hatte kein Problem damit, für sie beide Speisepläne zu entwerfen, die ebenso appetitlich wie kalorienarm waren.

»Das hätten wir«, sagte Chester und wedelte mit einer Handvoll Drachmenscheine. »Ruf ein Taxi, Liebes.«

Es stand ein halbes Dutzend Taxis herum, und Colette suchte eines aus, dessen Fahrer freundlich grinste. Drei Träger halfen dabei, das Taxi mit den sieben Gepäckstücken zu beladen, von denen zwei auf dem Dach verstaut wurden, und dann fuhren sie ab in Richtung Athen. Chester saß vorn und hielt Ausschau nach dem Tempel oben auf dem Parthenonhügel oder einem anderen Wahrzeichen, das sich gegen den blaßblauen Himmel abheben würde. Statt dessen sah er plötzlich ein Walkie Kar vor sich, so groß wie ganz Athen, roter Lack und Chrom, mit dem scheußlichen Billiglenker aus Gummi und dem häßlichen Sicherheitsschalensitz. Chester erschauerte. Was für ein Blödsinn, was für ein unnötiges, idiotisches Risiko er da eingegangen war! Colette hatte es ihm ja gleich gesagt. Sie war zu Recht ziemlich sauer gewesen, als sie von der Geschichte erfuhr. Das mit dem Walkie Kar war so gekommen: Als Chester sich in einer Druckerei Visitenkarten machen lassen wollte, hatte er einen Stapel Handzettel herumliegen sehen, die für ein »Walkie Kar« warben. Sie zeigten ein Bild dieses kleinen Tretautos, eine kurze Beschreibung, den Preis – $ 12.95 – und unten angehängt ein Bestellformular, das sich entlang einer gestrichelten Linie abreißen ließ. Der Drucker hatte gelacht, als Chester sich einen der Zettel näher angesehen hatte. Das Unternehmen sei in Konkurs gegangen, sagte [15] er, nicht einmal die Druckkosten hätten sie ihm gezahlt. Ja, er war durchaus einverstanden,...