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Shooter - Vom Kriegshelden zum Staatsfeind Nr. 1

Stephen Hunter

 

Verlag Festa Verlag, 2014

ISBN 9783865523174 , 640 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

KAPITEL 1


Es war ein kalter, nasser Novembermorgen im westlichen Arkansas, eine trostlose Dämmerung nach einer trostlosen Nacht. Schneeregen peitschte durch die Föhren und sammelte sich auf den aus dem Erdboden ragenden Steinbuckeln; wütende Wolken rasten niedrig am Himmel vorbei. Ab und zu pfiff der Wind durch die Schluchten und wirbelte die Graupel auf wie Pulverdampf. Es war der Tag vor Beginn der Jagdsaison.

Bob Lee Swagger hatte sich eine Stelle knapp vor dem letzten Aufstieg zum Hard Bargain Valley ausgesucht, dem flachen, ausgedehnten Plateau hoch oben in den Ouachitas. Er lehnte in absolutem Schweigen und absoluter Stille mit seinem Gewehr auf den Knien an einer alten Kiefer. Dies war Bobs frühestes Talent: das Talent der Stille. Er hatte sie ganz von selbst und ohne Anleitung für sich entdeckt, schöpfte sie aus einem Reservoir in seinem Inneren, das von Anspannung unberührt blieb. Diese fast tiergleiche Art, die Reaktionen seines Körpers fast bis zur Totenstarre herunterzufahren, hatte ihn damals in Vietnam zu einer Legende gemacht.

Die Kälte kroch durch seine wollenen Beinwärmer und unter seine Daunenweste, kletterte seine Wirbelsäule hinauf wie eine listige kleine Maus. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen den Drang an, sie klappern zu lassen. Von Zeit zu Zeit spürte er ein Pochen in der Hüfte, das von einer alten Verletzung stammte. Er befahl seinem Geist, den Phantomschmerz zu ignorieren. Er befand sich nun in einem anderen Zustand, weit weg von Wünschen und Empfindungen.

Er verdiente sich Tim.

Hören Sie, hätte er zu Ihnen gesagt, falls Sie einer der zwei oder drei Männer auf der Welt gewesen wären, mit denen er sprach – der alte Sam Vincent zum Beispiel, der ehemalige Staatsanwalt von Polk County, oder auch Doc LeMieux, der Zahnarzt, oder Vernon Tell, der Sheriff – man kann ein Tier nicht einfach erschießen. Das Schießen ist der einfache Teil. Jeder Trottel aus der Stadt kann sich auf einen Hochsitz hocken, heißen Kaffee schlürfen und warten, bis irgendein Reh vorbeigetänzelt kommt, so nahe, dass er es fast mit der Hand berühren kann. Dann schiebt er den Lauf seines Supermarktgewehrs hinaus, zieht den Abzug durch und bläst dem Vieh die Eingeweide raus. Wahrscheinlich stöbert er es dann drei Landkreise weiter auf, wo es ausgeblutet daliegt, mit weit aufgerissenen Augen, in denen man noch seine Todesqualen erkennt.

Aber verdient hat man sich seinen Abschuss erst, hätte Bob Ihnen gesagt, wenn man das Gleiche auf sich genommen hat, was das Tier auf sich nehmen musste, und zwar genauso lange. Fair ist fair, so ist das nun mal.

Durch die Föhren und die jungen Triebe konnte er in knapp 150 Metern Entfernung die Lichtung sehen, etwas tiefer gelegen, die sich nach und nach mit dem spärlichen, gedämpften Licht des anbrechenden Tages füllte. Die Fährte verlief über diese Lichtung und er wusste, dass die Tiere hier in der Morgen- und Abenddämmerung eins nach dem anderen durchschlüpften: ein Hirsch und sein Harem. In der letzten Nacht hatte Bob zwölf von ihnen gesehen, drei Hirsche mit ihren Herzensdamen, einer davon sogar ein prächtiger, fetter Achtender.

Doch er war wegen Tim hier. Dem alten Tim, von Narben übersät, abgekämpft und mit vielen Abenteuern auf dem Buckel. Und Tim würde allein sein: Er hatte keinen Harem und brauchte auch keinen mehr. In einem Jahr hatte ihm ein Stadttölpel aus Little Rock einen Zacken aus dem Geweih geschossen. Danach schien er die ganze Saison über etwas aus dem Gleichgewicht gewesen zu sein. Ein anderes Mal hatte Tim ein ganzes Jahr lang gehinkt, weil Sam Vincent, nicht mehr ganz so agil wie früher, schlampig gezielt und ihn mit einem Teilmantelgeschoss, Kaliber 444 – zu viel des Guten, aber Sam liebte seine alte Winchester –, in die Läufe getroffen hatte. Tim blutete damals so stark, dass es jedem anderen Hirsch den Rest gegeben hätte.

Tim war ein zäher Bursche, das wusste Bob, und es war das größte Kompliment, das er für irgendjemanden, egal ob lebendig oder tot, übrighatte.

Bob saß seit 17 Stunden dort. Er hatte die ganze Nacht über in der Kälte gehockt und als gegen vier Uhr der Schneeregen einsetzte, blieb er trotzdem an Ort und Stelle. Es war so nass und kalt, dass er sich mehr tot als lebendig fühlte. Dann und wann traten ihm Bilder aus einer anderen Zeit vor Augen, doch er verscheuchte sie und versuchte, seine Aufmerksamkeit weiterhin auf das zu richten, was 150 Meter vor ihm lag.

Komm schon, du alter Mistkerl! Ich hab dich verdient.

Dann sah er etwas. Doch es waren nur eine Ricke und ihr Kitz, die auf ihre träge, zutrauliche, einfältige, tierische Art den Bergpfad hinunter kamen und talwärts zogen, um im Wald zu äsen. Dort würde irgendein vertrottelter Glückspilz aus der Stadt sie sicherlich töten.

Bob blieb einfach sitzen, direkt an seinem Baum.

Dr. Dobbler schluckte und versuchte, in den Augen von Colonel Shreck zu lesen. Doch Shreck hatte wie immer eine grimmige Miene aufgesetzt, die seinen ungehobelten Gesichtszügen eine Maske überstülpte. Er strahlte Macht und Ungeduld aus und jagte jedem im Raum Angst ein. Shreck war furchterregend. Er war der furchterregendste Mann, den Dobbler je gekannt hatte, sogar beängstigender als Russell Isandhlwana, der Drogendealer, der Dobbler in der Dusche des Staatsgefängnisses von Norfolk, Massachusetts, vergewaltigt und den Doktor für drei sehr, sehr lange Monate zu seinem Leibeigenen gemacht hatte.

Es war schon spät. Draußen prasselte der Regen auf das Dach der Wellblechhütte. Ein Gestank nach rostigem Metall, altem Leder, Staub, ungewaschenen Socken und abgestandenem Bier hing im Raum. Es roch wie in einem Gefängnis, doch dies war kein Gefängnis, sondern das Hauptquartier einer Organisation namens RamDyne Security, die sich hier auf mehreren Hundert Morgen unbedeutenden und unfruchtbaren Landes mitten in Virginia ausbreitete.

Die Planer saßen im vorderen Teil des abgedunkelten Raums; der grobschlächtige Jack Payne, der zweitfurchterregendste Mann der Welt, hatte gegenüber am Tisch Platz genommen. Mehr Leute gab es nicht – ein winziges Team für die gewaltige und düstere Aufgabe, die vor ihnen lag.

Auf eine kleine Leinwand wurden vier Gesichter projiziert, die in der Dunkelheit leuchteten. Jedes davon stand stellvertretend für 100 potenzielle andere. Diese Männer waren von der Rechercheabteilung entdeckt, von der Planungsabteilung gründlich überprüft und dann von den Profis des Operationsstabs beobachtet und durch ein Auswahlverfahren zu diesem mürrischen Quartett zusammengeschrumpft worden. Dobblers Aufgabe bestand darin, ihr psychologisches Profil zu erstellen, damit Colonel Raymond Shreck eine endgültige Entscheidung treffen konnte.

Jeder dieser verbliebenen vier besaß natürlich irgendeine Schwäche. Dr. Dobbler arbeitete sie heraus. Schließlich war er immer noch Psychiater, wenn auch inzwischen ohne Zulassung. Schwächen waren sein Beruf.

»Zu narzisstisch«, sagte er über einen der Männer. »Er gibt zu viel Geld für seine Frisur aus. Traue niemals einem Mann mit einem 75-Dollar-Haarschnitt. Er erwartet eine Sonderbehandlung. Wir brauchen jemanden, der zwar etwas Besonderes ist, aber noch nie wie etwas Besonderes behandelt wurde.«

Über Nummer zwei: »Zu schlau. Brillant, taktisch brillant. Aber immer am Taktieren. Immer am Vorausdenken. Nie entspannt.«

Über den Dritten: »Wunderbar dumm. Aber langsam. Er ist genau, was wir brauchen, was bestimmte Qualitäten und die Erfahrung im technischen Bereich betrifft. Gehorsam wie ein Hund. Aber langsam. Zu langsam, zu begriffsstutzig, zu sehr darum bemüht, anderen zu gefallen. Zu festgefahren.«

»Sie schwafeln schon wieder, Dobbler«, unterbrach ihn Colonel Shreck brutal. »Geben Sie uns einfach nur die Informationen und versuchen Sie nicht, Ihren Charme spielen zu lassen.«

Dobbler zuckte zusammen.

»Nun«, meinte er schließlich, »dann bleibt nur noch einer übrig.«

Jack Payne hasste Dobbler. Dieses Weichei mit seinem großen Kopf, dem zottigen Bart und den langen, empfindlichen Fingern war der Inbegriff eines Waschlappens. Er hatte Titten. Er war schon fast eine Frau. Und er musste aus allem eine Show machen.

Jack Payne war ein mürrischer, garstiger kleiner Mann, tätowiert und unnahbar, mit winzigen, ausdruckslosen Augen in seinem fleischigen Gesicht. Ungeheuer stark und mit einer hohen Schmerzgrenze, die jede Skala sprengte. Zu seinen Spezialitäten gehörte es, Aufträge zu erledigen – um jeden Preis. Er griff nach der abgesägten Remington 1100 in ihrem speziell angefertigten Schulterholster unter seinem linken Arm. Im Röhrenmagazin unter dem Lauf steckten sechs Schrotpatronen im Kaliber 12/70. In jeder Patrone befanden sich neun Kugeln mit einem Durchmesser von 8,4 Millimetern. Das Teil konnte 54 Geschosse in weniger als drei Sekunden abfeuern. Damit ließen sich eine Menge Aufträge erledigen.

»Die Einzelheiten über ihn sind beeindruckend«, erklärte Dobbler gerade. »Er hat 87 Menschen getötet. Das heißt, er hat 87 Männern aufgelauert und sie ausgeschaltet, unter widrigsten Umständen. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass das beeindruckend ist.«

Eine Pause entstand.

»Ich habe 87 Männer an einem Nachmittag getötet«, sagte Jack.

Jack hatte eine lange Belagerung seines A-Teams im südlichen Hochland Vietnams miterlebt. In den letzten Tagen hatten die Schlitzaugen ihnen Angriffswelle um Angriffswelle geschickt.

»Aber alle auf einmal. Mit einem M60«, erwiderte Colonel Shreck. »Ich war...