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Das Kind, das nachts die Sonne fand - Roman

Luca Di Fulvio

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN 9783838759364 , 830 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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1


In dem abgelegenen Landstrich, den man unter dem althergebrachten Namen Raühnval kannte, wurde wohl niemals mehr so viel unschuldiges Blut vergossen wie an jenem Morgen des 21. September im Jahr des Herrn 1407.

Die Sonne hatte sich erst vor Kurzem über dem schmalen, eisigen Tal erhoben, das von abweisenden, über zehntausend Fuß hoch aufragenden Gipfeln umgeben war, die es nicht nur schützten, sondern auch vor der Außenwelt abschirmten. Diese Gebirgskette im Osten des Alpenbogens bildete die Grenze der italienischen Halbinsel und trennte so das Tal deutlich vom übrigen Reich und dem Rest von Europa.

Herr über dieses Lehen war Fürst Marcus I. von Saxia, der Vater des Erbprinzen Marcus II. von Saxia.

Der kleine Marcus II. von Saxia saß an diesem Morgen verschlafen, fröstelnd und nackt auf der mit warmen, weichen Gänsedaunen gefüllten Matratze seines riesigen Bettes und baumelte mit den Beinen in der Luft, obwohl er für seine neun Jahre recht groß gewachsen war. Seine Augen waren grün und blickten träge wie die einer Katze, die langen blonden Haare fielen ihm in glänzenden Locken auf die Schultern, und seine Haut war so weiß, dass man ihn für ein Mädchen hätte halten können.

Eilika, seine Kinderfrau, die sich Tag und Nacht um ihn kümmerte, ja sogar wie ein treuer Hund auf einem Strohlager am Fußende des Bettes ihres kleinen Herrn schlief, legte dem Jungen ein Leintuch um die Schultern, das sie zunächst in kochendes Wasser getaucht und dann ausgedrückt hatte.

Der kleine Erbprinz stöhnte vor Behagen bei der Berührung mit dem warmen Tuch und schloss die Augen.

»Versuch ja nicht, wieder einzuschlafen, Marcus«, ermahnte ihn Eilika, »oder die Krähe hackt dir dein Piephähnchen ab.«

Der Junge lachte und legte schützend eine Hand zwischen seine Beine.

Eilika tauchte noch ein Tuch in den Zuber, drückte es aus und verteilte ein wenig Lauge darauf. »Komm schon, kleiner Faulpelz, ich will dich einseifen.«

»Muss ich mich wirklich jeden Tag waschen?«, jammerte Marcus II.

»Die Befehle deiner verehrten Mutter müssen genau befolgt werden«, erwiderte Eilika. »Man soll doch sehen, dass du ein Prinz bist und über dem gemeinen Volk stehst, selbst ohne deine kostbaren Kleider. Deine Haut muss glänzen und duften, als wärst du ein kleiner Gott.«

»Waschen mag ich aber nicht …«, maulte das Kind.

»Das wissen wir sehr gut, Prinz Schweinchen«, sagte Eilika und hob ihn vom Bett herunter.

Der Junge lachte, und als seine Füße den feuchten Steinboden berührten, fröstelte er wieder. »Mir ist kalt!«

»Kannst du nicht mal selbst aufpassen, wo du deine adligen Füße hinsetzt?«, sagte Eilika mit einem nachsichtigen Seufzen. Sie lenkte seinen Schritt auf ein dichtes Bärenfell, das als Teppich diente. Dann drehte sie ihn um und rubbelte mit dem lauwarmen Tuch seine Pobacken ab.

Der Junge spitzte die Ohren. Die Geräusche von außen drangen nur gedämpft herein.

»Warum ist es draußen so still …?« Fragend sah er seine Kinderfrau an, dann strahlten seine Augen plötzlich vor Freude auf. Die Kälte war schlagartig vergessen, als er sich Eilikas Bemühungen entwand und nackt, wie er war, zum Fenster rannte. Er zog sich an den Steinen des Mauervorsprungs hoch und sah nach, ob sein Eindruck ihn auch nicht getrogen hatte. »Es hat geschneit!«, rief er aufgeregt, während Eilika ihn packte und zurück auf das Bärenfell schleppte.

»Um Gottes willen, lass dich anziehen, ehe du dir noch den Tod holst!«

»Schnee! Schnee! Es hat geschneit!«, wiederholte der kleine Marcus und hüpfte aufgeregt auf und ab.

»Heute Nacht ist der erste Schnee gefallen, oh, großartig, so eine Freude!«, schnaubte Eilika. »Du hast es gut, dass du dich über etwas freuen kannst, worüber die anderen sich beklagen.«

»Aber der Schnee ist doch wunderschön!«

»Du hast warme Kleider, kleiner Prinz. Und Handschuhe für deine zarten Händchen. Und Pelzmützen.« Eilika zog ihm ein Hemd aus dicker gekochter Wolle über und die Kniestrümpfe, die sie selbst für ihn gestrickt hatte. »Für alle anderen bedeutet Schnee nur, dass die Kälte ihnen bis auf die Knochen dringt.«

»Und warum ziehen sie dann nicht auch warme Kleider an?«

Eilika sah den Jungen an, nickte bedächtig und strich ihm über den Kopf. »Ja, das frage ich mich manchmal auch.« Und dann fügte sie leise hinzu, fast mehr an sich selbst gerichtet: »Aber nicht laut, sonst schneiden sie mir den Kopf ab.«

»Und ich lass ihn dir dann wieder annähen«, sagte Marcus lachend. »Schließlich bin ich der Prinz und alle müssen tun, was ich sage, nicht wahr?«

»Ja, Euer Hoheit«, stimmte Eilika lachend zu, die den Jungen wirklich gernhatte und sein heiteres und unbekümmertes Wesen liebte. »Aber jetzt halt still, damit ich dich anziehen kann, sonst wirst du gleich noch steifer als Trockenfleisch.« Sie streifte ihm die mit Kaninchenfell gefütterte Tunika aus Rehleder über, dann die Jacke aus Hirschleder mit den Hornknöpfen und schließlich die Wolfsfellstiefel mit der dicken Sohle aus doppelt genommenem Kuhleder. »So, jetzt bist du fertig«, sagte sie, während sie ihm noch schnell die Mütze aus Murmeltierfell aufsetzte, die ihm bis über die Ohren ging, und ihm die wetterfesten Handschuhe aus Otterfell reichte.

»Schnee! Juhu!«, jubelte der Junge und rannte aus dem Zimmer, die Treppen zum Großen Saal der Burg hinunter, wo es trotz der Wandteppiche, die die dunklen Steinmauern bedeckten, und der dicken Tannenscheite, die in den beiden Kaminen links und rechts von der Tafel brannten, düster und kalt war.

»Marcus II. von Saxia«, ermahnte ihn seine Mutter, als sie ihren Sohn erblickte, der wild hereinstürmte und sich gierig über zwei Zinnteller mit Apfel-Ingwer-Kuchen und Hirschpastete hermachen wollte, »lerne endlich, dich wie ein Prinz zu benehmen und nicht wie irgendein dahergelaufener Bauernjunge.«

Eilika, die atemlos hinterhergeeilt kam, verneigte sich vor der kleinen Tischgesellschaft und sagte zur Fürstin: »Verzeiht mir, Herrin.«

Die Fürstin bedeutete ihr, dass ja nichts Schlimmes geschehen sei, und während sie weiter ihre erst wenige Wochen alte Tochter stillte, zog sie ihren Erstgeborenen an sich. »Gib deiner Mutter einen Kuss, bevor du dir den Mund beschmierst und meine Wangen dann auch«, sagte sie zu ihm.

»Na, hast du dich gestern mit irgendeinem Jungen geprügelt?«, fragte Marcus I. von Saxia seinen Sohn und packte ihn im Nacken. »Beklagt sich jemand, weil du zu grob zu ihm warst? Muss ich dich bestrafen?«

»Nein, Vater. Ich bin brav gewesen«, erwiderte der Junge.

Das Gesicht des regierenden Fürsten verfinsterte sich einen Augenblick. Er war ein beeindruckend großer und kräftiger Mann, sein Körper und sein Gesicht waren mit zahlreichen Narben bedeckt. Insgesamt wirkte er eher wie ein gemeiner Soldat und nicht wie einer jener eleganten Fürsten aus Deutschland oder Italien. Er verstärkte den Griff um den Nacken seines Sohnes, der nun schmerzhaft das Gesicht verzog. »Hast du nicht mal einem Hund einen Tritt versetzt?«

Der Junge wandte sich ratlos zu Eilika um.

»Suche die Antwort nicht in den Augen einer Dienerin!«, brauste der Fürst auf. Er ließ den Blick über die Tischgesellschaft wandern. Zunächst war da der Hauptmann der Wache, ein Söldner, der an seiner Seite gekämpft hatte. Daneben saß sein Beichtvater und spiritueller Ratgeber, den ihm der Bischof von Bamberg empfohlen hatte. Als Dritten betrachtete er den Kompositions- und Musiklehrer, den seine Frau vom Hofe des römisch-deutschen Königs, Ruprecht III. von Wittelsbach, hatte kommen lassen. Schließlich kehrte sein Blick zu seinem Sohn zurück, und er sagte ganz ruhig: »Marcus, ich habe es dir schon so oft gesagt, und ich werde es so oft wiederholen, bis du es gelernt hast: Du musst ein Krieger werden.«

»Aber ich mag mich nicht prügeln …«, sagte der Junge.

»Wie lange würde ein Wolf in unseren Wäldern überleben, wenn er keinen Blutdurst spürte?« Marcus I. schlug mit der Faust auf den Tisch. »Denn das sind wir Fürsten von Saxia: Wölfe! Dazu geboren, zu befehlen und andere Wölfe zu unterwerfen.«

Der Junge wich einen Schritt zurück, um sich aus dem festen Griff des Vaters zu befreien.

»Mein Gemahl, du erschreckst ihn«, wandte die Fürstin ein.

Marcus I. von Saxia atmete tief durch und versuchte sich zu beherrschen. Sein Gesicht war gerötet, und die Adern an seinem Hals waren hervorgetreten. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, zog er den Erbprinzen an sich. »Sohn, hör mir gut zu. Ich weiß nicht, ob das stimmt, was die Kirche sagt, dass wir die Macht und unsere Stellung von Gottes Gnaden empfangen haben. Aber eins weiß ich genau: Um die Macht und die Stellung zu behalten, kannst du dich nicht auf Gott verlassen, sondern nur auf dich selbst. Auf deine eigene Stärke und Entschlossenheit, verstehst du?«

Der Junge nickte ernst.

»Deshalb musst du lernen zu kämpfen«, fuhr der Vater fort. »Du wirst im Blut leben, genau wie ich und alle unsere Vorfahren. Das ist unser Schicksal und unser Fluch. Jetzt achten die Leute dich, weil du mein Sohn bist. Aber du musst lernen, sie dazu zu bringen, dich deiner selbst wegen zu achten. Verstehst du das?«

Der Junge sah seinen Vater an und sagte schüchtern: »Werdet Ihr stolz auf mich sein, wenn ich heute einem Huhn einen kräftigen Fußtritt verpasse, Vater?«

Der Fürst sah ihn mit ernster Miene an. Dann lachte er schallend laut. »Ja, auch dann werde ich stolz auf dich sein, mein Sohn.« Er versetzte dem Jungen einen liebevollen Klaps auf den Kopf, dass ihm die Mütze aus Murmeltierfell herunterfiel. »Geh spielen«, sagte er und reichte ihm eine Scheibe...