dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Vita Nuova - Guarnaccias vierzehnter Fall

Magdalen Nabb

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257605990 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[5]1


Maresciallo Guarnaccia stand am Rand des Swimmingpools: Die dunklen Gläser einer Sonnenbrille schützten seine Augen vor dem gleißenden Licht der tiefstehenden Sonne. Ein großes, gelbes Blatt dümpelte einsam auf der blauen Wasseroberfläche. Unter seinen Schuhsohlen klebten ebenfalls ein paar nasse Blätter. Die schwüle Wärme fühlte sich nach September an, aber das oberste Blatt seines Taschenkalenders zeigte erst den neunzehnten August. Guarnaccia kehrte dem Swimmingpool und damit auch dem gegenüberliegenden, steinernen Turm den Rücken zu und senkte den Blick. Kein Geräusch drang hier oben an seine Ohren, obwohl die roten Dächer und die marmornen Türme von Florenz direkt unter ihm lagen. An normalen Tagen musste der Verkehrslärm, der dort unten tobte, auch hier oben deutlich zu hören sein – wenn auch nur gedämpft. Doch im August war die Stadt, abgesehen von den Touristen, so gut wie ausgestorben. Der Swimmingpool lag am äußeren Rande der Hügelkuppe, und wer den Kopf aus dem Wasser streckte, blickte direkt auf die Kuppel des Doms, die Kirchturmspitze und den endlos blauen Himmel. Ganz schön beeindruckend. Das kühle Nass allerdings konnte den Maresciallo nicht locken, da konnte es so heiß sein, wie es wollte. Eigentlich konnte er diesem Anwesen hier oben [6]nichts Besonderes abgewinnen, auch wenn es eine schicke Extravaganz ausstrahlte. Ihm gefiel es hier nicht … diese Stille, dieses gleißende Licht kaum Schatten. Guarnaccia drehte sich noch einmal um und starrte über das Becken hinweg zu dem Turm hinüber, zu dessen Füßen zwei cremefarbene Liegestühle mit Blick zum Pool aufgestellt waren. Ein Sonnenschirm, ebenfalls cremefarben, spendete einem Tisch und ein paar Stühlen Schatten.

Eigentlich sollte sich hier anstelle des offenen, blau glitzernden Pools ein hübscher Obstgarten befinden oder vielleicht auch ein Weingarten. Die aufsteigende Sonne brannte durch das blaue Hemd hindurch sengend auf seine Schulter. Der Maresciallo trat einen Schritt zurück, suchte Schatten.

Von den beiden Frauen war nur die junge, hübsche in lautstarkes, verzweifeltes Wehklagen ausgebrochen. Sie ließ den Tränen freien Lauf und wrang die feuchten Taschentücher in den Händen. Die Mutter war stumm geblieben. Der Schock vielleicht. Aufrecht saß sie auf dem Küchenstuhl, das Gesicht gerötet, der Blick eher glasig als den Tränen nahe, Schweißperlen auf der Stirn. Mit keiner Geste versuchte sie ihre Tochter zu trösten, blieb einfach nur stumm und reglos sitzen. Die Küche war sehr groß und mit allerlei modernem Firlefanz ausgestattet, aber sie befand sich in einem Kellerraum mit hochgesetzten, kleinen Fenstern. Auf Guarnaccia wirkte dieser Raum ausgesprochen beklemmend und düster. Deswegen verabschiedete er sich auch recht bald mit der Entschuldigung, den Staatsanwalt empfangen zu müssen, und zog sich erleichtert nach draußen zurück. Der Garten lag ebenso ruhig und friedlich da wie der Pool. Ein großes, gelbes Blatt segelte nach unten und verfing sich in einer [7]Hemdepaulette. Der Maresciallo wischte es herunter. Ihm war viel zu warm. Wenn es doch nur schon September wäre! Bei dem Gedanken, dass er von nun an den herrlichen Duft des Herbstlaubes mit verwesenden Leichen in Verbindung bringen würde, drehte sich ihm der Magen um. Blödsinn, nichts als Blödsinn! Zum einen befand sich da noch immer der Pool mit dem gechlorten Wasser vor dem Turm mit den offen stehenden Türen, und zum anderen lag die tote Frau im zweiten Stock. Unmöglich, dass der Verwesungsgeruch bis zu ihm drang. Dennoch hielt Guarnaccia den Atem bewusst flach. Irgendwie steckte ihm der Geruch noch immer in der Nase. Er konnte zurück in die Küche, zögerte aber wegen der beklemmenden Atmosphäre dort, oder vielleicht war es ja auch dieser undefinierbare, unangenehme Geruch, der ihn davon abhielt. Nichts, was greifbar gewesen wäre. Diese Leute rochen nach Geld, viel Geld. Der Vater in einer Privatklinik, die älteste Tochter tot, wahrscheinlich ermordet, ein Enkelkind, jetzt Vollwaise; die andere Tochter steigerte sich in ein lautstarkes Lamento, und weit und breit kein Staatsanwalt in Sicht. Wo zum Teufel steckte der bloß? Wo immer er auch wohnte, im August gab es keine Verkehrsstaus, nirgendwo. Der Maresciallo marschierte um den Pool herum, machte kehrt, als er die Ecke des Turmes erreicht hatte, und zockelte dann zurück zu dem hohen, mit Eisenbeschlägen verzierten Haupttor. Die Villa war eines dieser jahrhundertealten, befestigten Landhäuser mit dicken Mauern, vergitterten Fenstern und hohen Zinnen. Die großen Augen hinter der Sonnenbrille registrierten sämtliche Details. Zwei Familienautos, ein Mercedes-Kabrio und ein schwarzer Mini, parkten im Schatten eines großen Baumes. [8]An das mächtige Tor zur Auffahrt schlossen die hohen Umfassungsmauern direkt an, dennoch würde es Unbefugten keine Probleme bereiten, in das Anwesen einzudringen. Guarnaccia hatte schon einen Blick hinter das Haus und die angrenzende Gartenanlage geworfen, wo offenbar ein zweiter Swimmingpool angelegt wurde. Doch im Augenblick war der Baulärm verstummt. Der Carabiniere des Capitano hatte sämtliche Arbeiten stoppen lassen. In einem der Dächer weiter unten klaffte ein großes Loch. Es gehörte zu einem Bauernhaus, das noch innerhalb der Umfriedung lag. Bestimmt gab es eine Tür in dieser Mauer und einen daran anschließenden Feldweg, über den man in friedlichen Zeiten – von denen es früher wohl nicht allzu viele gegeben hatte – die landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Hofes nach unten in die Stadt gebracht hatte. Ein steinernes, ziemlich verwittertes Wappen prangte am Tor zur Villa, keines, das der Maresciallo kannte. Beim Betreten des Hauses nahm er Schirmmütze und Sonnenbrille ab. Noch immer hörte er lautes Weinen, aber es klang jetzt ein wenig ruhiger und wurde von leisem Gemurmel unterbrochen. Ein moderner, grauer Steinfußboden, ein neues, schmiedeeisernes Treppengeländer, glatte, graue Stufen, die nach unten in die Küche führten. Reiche Leute, da stand ihm wohl Ärger ins Haus. Alles hing davon ab, welcher Staatsanwalt den Fall übernehmen würde. Beim Geräusch seiner schweren Schritte auf der Treppe schwoll das Weinen wieder an.

Es dauerte noch eine ganze Stunde, bis der Staatsanwalt endlich auftauchte. Und als er schließlich auf der Bildfläche erschien – sonnengebräunt, weißer Leinenanzug und kleiner[9] Schmerbauch unter dezent gestreiftem Hemd – , war das für den Maresciallo wie ein kräftiger Schlag in die Magengrube: Fulvio De Vita! Ganz offensichtlich war auch der Staatsanwalt nicht gerade entzückt, als er die dunkle, kompakte Statur des Maresciallo erkannte, die ihm den Weg versperrte. Sie reichten sich die Hände. Der Staatsanwalt war ein wenig außer Atem, als wäre er in halsbrecherischem Tempo hier heraufgejagt.

»Ah, Guarnaccia, ja, ja, ich erinnere mich …«

Ich auch, dachte der Maresciallo, ich auch, ganz besonders an unseren ersten gemeinsamen Fall. Damals war es auch August gewesen. Ganz klarer Selbstmord, hatte De Vita entschieden, weil er möglichst rasch seinen Urlaub hatte antreten wollen. Warum auch nicht, das Opfer damals war ja nur eine arme, unbedeutende alte Frau. Für diesen Fall hier würde er sämtliche Puppen, die ihm zur Verfügung standen, tanzen lassen.

»Entschuldigen Sie bitte, darf ich?«

Sie standen auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock des Turms und traten einen Schritt zurück, um den jungen Carabiniere mit der Videokamera seine Arbeit machen zu lassen. Der Maresciallo beobachtete den Mann. Er machte eine Aufnahme von der weißen Kreidezeichnung auf den ausgetretenen, roten Fliesen, trat dann in das Zimmer und nahm jede Einzelheit sorgfältig ins Visier, Detail für Detail. Um ein Vielfaches gründlicher und rascher als das menschliche Auge. Der Maresciallo selbst hatte sich zuvor einen Weg durch das Wohnzimmer gebahnt, wo die Tote hinter der geöffneten Schlafzimmertür direkt vor dem Bett hingestreckt [10]lag. Er hatte nach eventuellen Lebenszeichen gesucht, obwohl ihm das beim Anblick der roten Schleifspur, die sie hinterlassen hatte, als sie sich von der Tür zum Telefon am Bett geschleppt hatte, höchst unwahrscheinlich erschien. Die junge Frau hatte das Telefon nicht mehr erreicht. Den Arm hatte sie schon danach ausgestreckt gehabt, die Hand lag auf dem geschwungenen Fuß des Nachttisches. Aber die Kugel in ihrem Hinterkopf musste sie abrupt aufgehalten haben. Vielleicht hatte sie versucht, den Nachttisch zu sich heranzuziehen. Ein Foto in einem silbernen Rahmen lag umgeben von zersplittertem Glas auf dem weißen Läufer.

»Können wir sie umdrehen?«

Der Kameramann machte Platz, und zwei Kriminaltechniker in weißen Schutzoveralls drehten die Tote um.

»Sie hat wenigstens vier oder fünf Kugeln im Bauch«, riefen sie dem Staatsanwalt zu.

»Hat die Schwester irgendwelche Spuren am Tatort zerstört, Maresciallo?«

»Nein, hat sie nicht. Als sie die Tür geöffnet und die Tote entdeckt hat, ist sie gleich wieder davongestürzt.«

»Hat sie denn nicht einmal nachgeschaut, ob ihre Schwester wirklich tot war?«

»Hat sie nicht, zumindest hat sie das so ausgesagt.«

»Und? Sagt sie die Wahrheit?«

»Ich denke schon. Hier draußen gibt es keine Blutspuren, es wäre aber ziemlich schwierig gewesen, in das Zimmer zu gelangen, ohne in Blut zu treten.«

»Aha, dann wissen wir also nicht, ob irgendwas gestohlen wurde, oder?«

»Richtig, mit Gewissheit können wir das jetzt noch nicht [11]sagen, aber es gibt keine Anzeichen, dass der Turm nach Wertgegenständen durchsucht worden ist.«

...