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Tod eines Engländers - Ein Fall für Guarnaccia

Magdalen Nabb

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257605877 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[5] ERSTER TEIL


1


Es war dunkel in dem kleinen Büro, nur die rote Nachtlampe auf dem Schreibtisch neben dem Telefon brannte, und die weißen Glacéhandschuhe auf dem Papierstapel hatten im Lichtschein eine hellrote Färbung angenommen. Eine schwarze Uniformjacke hing über einer Stuhllehne, und hinter der Tür, neben einer makellosen Uniformmütze, hing ein gleichfarbiger Militärmantel mit roten Litzen ordentlich auf einem Kleiderbügel. Im Zimmer war gerade noch Platz für ein Feldbett an einer weißgetünchten Wand; darauf lag, die Beine sorgfältig ausgestreckt, damit die Hose mit den roten Seitenstreifen nicht knitterte, der Carabiniere Bacci. Er hatte Nachtdienst. Sein Gesicht mit den florentinischen Zügen wirkte entspannt. Er schlief.

Er war sehr jung und schlief fest; ein Exemplar des Codice di Procedura Penale lag aufgeschlagen auf seiner Brust, ein Lehrbuch der Militärtaktik neben ihm auf dem Fußboden. Ursprünglich hatte er die ganze Nacht über wachbleiben und lernen wollen, doch die Enge des Zimmers, das sanfte rote Licht und die Stille hatten bewirkt, daß ihm die braunen Augen zugefallen waren, wenngleich er im Traum noch weiterlas.

Das Telefon schrillte laut und nachdrücklich. [6]Carabiniere Bacci war halbwach aufgesprungen und salutierte, noch ehe er richtig auf den Beinen stand. Als ihm klar wurde, woher das Geräusch kam, griff er, bevor es den Wachtmeister aufwecken würde, schnell zum Hörer.

»Wachtmeister Guarnaccia, Herr Wachtmeister … es wäre gut, wenn Sie sofort hier vorbeikommen könnten, der Engländer, er …«

»Einen Moment, bitte.« Carabiniere Bacci tastete nach dem Lichtschalter und griff nach einem Stift.

»Herr Wachtmeister?«

»Ich bin nicht Wachtmeister Guarnaccia, sondern Carabiniere Bacci. Mit wem spreche ich?«

Es entstand eine Pause, dann sprach die Stimme folgsam weiter: »Cipolla, Gianpaolo Maria.«

»Und die Adresse?«

»Meine Adresse?«

Die Stimme war so dünn, daß Carabiniere Bacci sich fragte, ob sie einem Mann oder einem Jungen gehörte.

»Ihre Adresse und die Adresse, von der aus Sie sprechen, wenn es nicht dieselbe ist.«

»Meine Adresse ist Via Romana dreiundachtzig rot.«

»Und von wo aus sprechen Sie?«

»Via Maggio achtundfünfzig.«

»Und dort ist ein Verbrechen verübt worden?«

»Ja, der Engländer … Ist der Wachtmeister denn nicht da? Meine Schwester wohnt gleich neben dem Revier, ihr Mann arbeitet als Gärtner im Boboli, daher kenne ich ihn, und der Wachtmeister …«

»Dürfte ich erfahren«, sagte Carabiniere Bacci mit all der Kühle seiner praktischen Erfahrung von zwei Monaten, [7]»was Sie mitten in der Nacht in der Via Maggio machen, wenn Sie in der Via Romana wohnen?«

Wieder eine Pause. Dann sagte die dünne Stimme: »Aber … es ist doch schon Morgen … ich arbeite hier.«

»Aha. Na gut. Bleiben Sie, wo Sie sind, ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.« Carabiniere Bacci zog sich die Jacke und den Mantel an und überprüfte sorgfältig den Sitz von Mütze und Handschuhen. Es verdroß ihn, daß er sich nicht waschen und rasieren konnte, aber vielleicht war es dringend … er zögerte, sah zur Tür, wo sein Mantel gehangen hatte und jetzt eine Beretta Neun zu sehen war, die dort im weißen Lederhalfter mit Gürtel hing. Der Wachtmeister lag mit einer beginnenden Grippe im Bett und schwitzte; deshalb hatte Carabiniere Bacci auch darauf bestanden, hier unten im Büro zu schlafen und nicht oben – völlig überflüssigerweise, wie der Wachtmeister fand –, aber Carabiniere Bacci galt eben als »Musterschüler«. Ruhig nahm er die Dienstwaffe, überprüfte sie und schnallte sie sich um, während er einen Blick auf die innere Tür warf. Vielleicht sollte er den Wachtmeister doch lieber wecken oder im Borgo Ognissanti anrufen, für den Fall, daß er Hilfe brauchte … aber wenn er in der Zentrale anrief, würden sie ihm bestimmt sagen, er solle sich nicht vom Fleck rühren, sie würden einen Beamten losschicken … Carabiniere Bacci war noch nie in seinem Leben am Schauplatz eines Verbrechens gewesen … dennoch … leise trommelte er mit den behandschuhten Fingern auf die Tischplatte. Der Wachtmeister hatte gesagt, wenn irgend etwas Wichtiges passiere – nicht, daß damit zu rechnen sei – im Polizeirevier Pitti passierte ohnehin nichts …

[8]Carabiniere Bacci konnte den Wachtmeister nicht leiden. Vor allem, weil er ein Sizilianer war und er ihn im Verdacht hatte, wenn nicht der Mafia anzugehören, so doch mit ihr zu sympathisieren, und er wußte, daß der Wachtmeister seinen Argwohn kannte, ihn darin sogar bestärkte. Offenbar fand er das komisch. Er mochte den Wachtmeiser aber auch deswegen nicht, weil er so dick war und ein peinliches – für Carabiniere Bacci peinliches – Augenleiden hatte, denn bei Sonnenschein mußte er heftig weinen. Und da er ständig darüber klagte, wie sehr er seine Frau und seine Kinder vermißte, die in Syrakus wohnten, hatten seine Tränen oft genug etwas unangenehm Realistisches – unangenehm für Carabiniere Bacci. Der Wachtmeister selbst pflegte unbeeindruckt davon seine Sonnenbrille hervorzuholen, die immer in einer seiner großen Taschen steckte, und allen Leuten zu erklären: »Keine Sorge! Es ist bloß ein Augenleiden. Immer wenn die Sonne scheint, fängt es an.«

Er beschloß, den Wachtmeister nicht zu wecken. Die Via Maggio lag gleich um die Ecke. Er konnte in zehn Minuten wieder zurück sein und den Wachtmeister dann aufwecken, wenn es notwendig schien. Er ging nach draußen und schloß hinter sich ab.

Der Anrufer hatte recht – der Morgen kündigte sich schon an. Ein schwerer, feuchter Dezembermorgen. Dichter, gelber Nebel lag über dem Arno, drang durch die schmalen Straßen und verschluckte die Schritte Carabiniere Baccis, als er unter dem dunklen steinernen Torbogen heraustrat und den leicht abschüssigen Platz vor dem Palazzo Pitti überquerte. Die wenigen geisterhaft anmutenden Autos, die die ganze Nacht dort gestanden hatten, [9]waren mit einer feinperligen Tauschicht überzogen. Er überquerte die ruhige Piazza und kam zu einer Gasse, die sich wie ein Schnitt durch die hohe Häuserzeile zwischen Piazza Pitti und Via Maggio zog. Ihn fröstelte in seinem dicken Mantel bei der Vorstellung, daß die ganze Stadt hinter geschlossenen Fensterläden schlief. Die Straßenlaternen brannten noch; da aber nur eine Lampe an jedem Ende der Gasse stand, mußte Carabiniere Bacci sich vorsichtig bewegen, sich an der unvermeidlichen Reihe von unerlaubt abgestellten Mopeds vorbeidrücken, die Nase leicht erhoben wegen des Kanalisationsgestanks im frühmorgendlichen Nebel, den erst der Berufsverkehr mit seinen Abgaswolken verdrängen würde. In der Mitte der Gasse, dort, wo es am dunkelsten war, stieß er gegen eine Coca-Cola-Dose, so daß sie aufreizend laut über die unebenen Steinplatten rollte. Als er auf die Via Maggio hinaustrat, blieb er stehen und überlegte, in welche Richtung er gehen sollte. Nach rechts führte die Straße mit den hohen Renaissance-Palästen in Richtung Arno, zur Santa-Trinità-Brücke hinunter, die im Nebel jetzt nicht zu sehen war. Nach links führte ein kürzerer Straßenabschnitt zu einem kleinen dreieckigen Platz und traf dort auf die Straße, die vom Palazzo Pitti herkam. Nachdem Carabiniere Bacci eingehend die roten und schwarzen Hausnummern studiert hatte, wandte er sich nach links, in Richtung Piazza, und ging auf die andere Straßenseite – 52 … 106 rot … 108 rot … die roten Nummern, blaß und alt, waren im grauen Halbdunkel kaum zu entziffern, während die großen schwarzen auf den weißen Schildern deutlich zu erkennen waren. Er suchte nach einer schwarzen Nummer … 54 … 110 rot … 56 … 58. In [10]Höhe des ersten Stockwerks schmückte ein unkenntliches Steinwappen die Fassade. Die hohen eisenbeschlagenen Türen reichten bis unter das Wappen, und in allen drei Obergeschossen waren die Fensterläden geschlossen. Nirgends ein Lichtschein, der ihm angezeigt hätte, von wo der Anruf gekommen war, und Carabiniere Bacci fiel jetzt ein, daß er vergessen hatte, nach dem Namen zu fragen. Im Erdgeschoß des Hauses befanden sich eine Bank und ein Geschäft, dessen metallene Rolläden heruntergelassen waren. Hier an diesem Haus endete die Via Maggio, und der Laden sah auf die kleine Piazza hinaus. Jetzt erinnerte er sich – ein Engländer – irgendwo hatte er es gelesen … »a nation of shopkeepers« … mit einem weißbehandschuhten Finger fuhr er am polierten Messingklingelschild herunter und studierte die Namen … Frediani … Cipriani … Cesarini … nein … A. Langley-Smythe, das war Parterre rechts, aber das Erdgeschoß kam bestimmt nicht in Frage! Das Namensschild daneben war leer, das war sicher die Hauswartswohnung. Ganz oben links sah er noch einen englischen Namen: Miss E. White, und in Klammern dahinter »Landor«. Aber der Anrufer hatte eindeutig von einem Mann gesprochen. Er drückte auf die Klingel der Erdgeschoßwohnung. Nichts rührte sich. Er klingelte wieder und hielt das Ohr ganz dicht an die Gegensprechanlage. Nichts. Es konnte ja sein, daß sich jemand einen Scherz machen oder ihm sogar irgendeine Art Falle stellen wollte, das kam oft vor … solche Geschichten hatte er schon gehört … er wurde etwas unruhig … vielleicht war es ein Sizilianer, der es auf den Wachtmeister abgesehen hatte … oder Terroristen? »Im Revier Pitti passiert nie etwas«, murmelte [11]er, und dann hörte er Schritte. Sie schienen ganz nahe zu sein, konnten aber nicht aus diesem Gebäude kommen, diese Türen ließen kein...