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Der Milchmann in der Nacht

Andrej Kurkow

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257606027 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

21

Kiew. Kurenjowka. ›Vogelmarkt‹.

Wieder ergab es sich, dass Dima zu der Katzenverkäuferin auf dem ›Vogelmarkt‹ nach einer Nachtschicht fahren musste. Die Schicht war äußerst erfolgreich verlaufen. Schamil hatte zweihundert Gramm Opium in einer aus Damaskus eingetroffenen Tasche erschnüffelt. Dima hatte, wie es sich gehörte, den Chef der Schicht gerufen. Ein Protokoll wurde geschrieben. Der Passagier wurde gleich bei der Gepäckausgabe verhaftet und abgeführt, doch das hatte Dima nicht mit angesehen. Das war schon nicht mehr [92] seine und Schamils Sorge. Dafür hatte der Chef ihn gelobt und Dima mit seinem Lob beruhigt.

Er fuhr im Kleinbus nach Hause, wusch sich und wählte die Nummer der Katzenverkäuferin.

»Sie können sich Ihren Murik abholen«, sagte sie. »Jetzt ist es neun Uhr? Sagen wir am selben Ort, um elf! Bloß ist es ein bisschen teurer geworden. Fünfundsiebzig.«

Die Verteuerung des grauen Straßenkaters bis zum Preis eines edlen Kognaks entlockte Dima eine stumme Grimasse. Doch die Katzenverkäuferin ahnte davon nichts.

Über Kiew leuchtete ein blauer Himmel. Festgestampfter Schnee bedeckte die Gehwege. Der Achtzehner-Trolleybus fuhr langsam, Fahrgäste gab es wenige. Dima saß auf dem hinteren Sitz, und die dicke türkische Polyester-Jacke wärmte gut, ganz wie ihm der Verkäufer auf dem Markt versprochen hatte. Unter die alten Uniformhosen hatte er lange Wollunterhosen angezogen, so dass kein Frost ihn schreckte. Auf den Knien hielt er die leere Einkaufstasche für den Kater, aus der er in der Garage die Ampullen herausholen und auf die Zeitung hatte zurücklegen müssen. »Das ist noch nicht der ›Vogelmarkt‹, oder?«, fragte er einen Alten, der mit zwei Beuteln voller leerer Bierflaschen an einer Haltestelle einstieg.

»Die nächste«, antwortete der Alte.

Dima blieb an dem schon beim ersten Besuch bemerkten schäbigen Café stehen und sah auf die Uhr. Bis zum Treffen blieben noch zehn Minuten. Er trat ein, nahm fünfzig Gramm Wodka, nur einen Kleinen also, schüttete ihn in sich hinein und fühlte, wie die Energie in seinem Körper sich ausbreitete.

[93] Die Katzenverkäuferin entdeckte er schon von fern. Sie trug dieselbe Kleidung, stand am selben Platz, und auch der Korb zu ihren Füßen war derselbe. Neben dem Korb lag ein grauer Sack.

Er ging hin, zog das Geld aus der Tasche und zählte ihr fünfundsiebzig Griwni ab. Sie nickte in Richtung Sack.

»Nehmen Sie ihn mit!«

»Im Sack?«, wunderte sich Dima, doch dann, als ihm klar wurde, was er gesagt hatte, musste er lachen. Er kaufte ja wirklich die Katze im Sack.

Die Frau zog den Sack auf, hob ihn ein wenig hoch, und Dima erblickte einen riesigen, dicken grauen Kater, eindeutig um vieles mächtiger als ihr verstorbener Murik.

»Aber der ist ja…« Enttäuscht und ratlos breitete Dima die Arme aus. »Er ist ja dick…«

»Ja, er frisst wie ein Verrückter! Deshalb ist es auch teurer geworden…«

»Aber er sieht gar nicht wie ein Streuner aus…«

»Murik, Murik!«, rief die Frau ihn demonstrativ, und sofort wandte er ihr sein sattes Maul zu und maunzte. »Sehen Sie? Ich habe ihn eine Woche dressiert.«

»Murlo«, sagte Dima halb flüsternd und sah von oben auf dieses graue geschwänzte Dickerchen hinab.

Der Kater betrachtete Dima neugierig.

»Nehmen Sie ihn! Jetzt nehmen Sie schon! Einen zweiten von der Art gibt es nicht!«, schnatterte die Frau, die den Käufer offensichtlich möglichst schnell loswerden wollte.

»Auch den Sack?«, fragte Dima düster.

»Ja, das ist der Bonus!«

Dima hockte sich hin, setzte den Kater in seine [94] Einkaufstasche und legte dort hinein auch den leeren Sack. Ohne sich zu verabschieden, ging er zum Ausgang des ›Vogelmarktes‹. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Der Kater wog eindeutig mehr als zehn Kilo. So einem Kater gegenüber konnte kein Mitleid aufkommen, bei niemandem. Und schon gar nicht bei Walja.

Als er bei seiner Straße ausstieg, trug Dima die Tasche mit dem Kater in die Garage, ließ sie dort und ging ins Haus.

»Wo warst du?«, empfing ihn Walja.

»So halt, irgendwo…«

»Warst du nicht bei der Kirche?«

»Heute nicht.«

»Geh hin«, bat sie. »Vielleicht findest du Murik!«

Eigentlich wollte Dima jetzt ausgiebig mittagessen und nicht zur Baptistenkirche gehen. Aber er stritt nicht mit seiner Frau. Er hatte Geld genug für eine Portion Pelmeni bei sich, und ganz in Ruhe allein zu essen war auch nicht zu verachten. Besonders, wenn man entscheiden musste, was man mit diesem dicken Kater tun sollte, der auf Murik und Murlo hörte, und vermutlich auch auf jeden anderen Namen!

Im nächsten Budencafé, bei einem Teller heißer Pelmeni, beschloss Dima dann, dass er den Kater ein paar Tage ohne Essen in der Garage lassen würde, bis er magerer wäre und er ihn mit nach Hause bringen konnte.

Als er aus dem Budenwagen trat, sah Dima die Anzeige an einem Mast:

Verkaufe Import-Arznei gegen Krebs. 1 Ampulle –

20 Griwni. Telefon: 8 063 432 0985, nach Schenja fragen.

[95] ›Aha!‹, nickte Dima lächelnd. ›Schenja hat losgelegt mit dem Schwindel.‹

Und er lief zufrieden nach Hause, um seiner Frau mitzuteilen, dass Murik heute Morgen bei der Kiche gesehen worden sei, er ihn aber nicht gefunden habe. Er müsse übrigens noch öfter auf die Suche nach ihm gehen.

22

Kiew. Gruschewski-Straße.

Gelbliches Licht umgab Irina. Es kam aus den drei Strahlern, die an der ungemein niedrigen Decke hingen.

»Machen Sie sich keine Sorgen! Ihre Knochen sind alle heil. Nur Schürfwunden und blaue Flecken.« Jegor beugte sich über Irinas Gesicht und lächelte ihr aufmunternd zu.

»Verharmlosen Sie es nicht!«, ertönte daneben eine andere, unbekannte Männerstimme. »Eine Gehirnerschütterung ist es sicher!«

Irina wandte den Blick zu dem Arzt im weißen Kittel. Ein junger Kerl mit feinem, kleinem Schnurrbart und dünner Nase, beginnender Glatze und einem kleinen silbernen Ring im einen Ohr.

Sie sah sich um und begriff, dass sie auf einer Trage in einem Rettungswagen lag. Vor dem Viereck des Fensters Dunkelheit, drinnen im Körper eine Art dröhnende Leere.

»Wo bringen Sie mich hin?«, fragte sie.

»Nirgendwohin«, antwortete der Arzt ruhig. »Sie müssen ein Weilchen liegen. Versuchen Sie, mit den Fingern und Zehen zu wackeln!«

[96] Irina wackelte. Sofort spürte sie auch ihren Körper wieder, und er kam ihr nicht mehr so leer und dröhnend vor. Die Zehen an den Füßen bewegten sich jedoch irgendwie gar zu leicht. Sie hob den Kopf und half sich mit dem Ellenbogen auf, damit sie auf die Füße schauen konnte. Ach so! Man hatte ihr die Stiefel ausgezogen, deshalb hatten die Zehen so viel Freiheit!

»Irina, ich bringe Sie nach Hause! Keine Angst! Nicht ins Notfall-Krankenhaus.«

»Nein, lieber nicht«, stimmte der Arzt zu. »Dort haben sie so eine Sammlung von Infektionen, dass man lieber gleich zum Friedhof fährt!«

»Na, Sie haben ja einen schwarzen Humor!«, tadelte Jegor den Arzt. »Können Sie denn nichts Schönes sagen?«

»Leben Sie mal mit meinem Gehalt, dann möchte ich mal Ihren Humor sehen!«

Irina lag auf der Trage, lauschte dem Gespräch der beiden Männer und dachte ebenfalls ans Geld, versuchte zu erraten, ob sie mehr bekam als der Arzt oder nicht.

»So, stehen Sie auf!«, holte Jegor sie aus ihren Gedanken. »Zuerst langsam die Füße auf den Boden setzen.«

Er streifte ihr vorsichtig die Stiefel über und zog ihr selbst den Reißverschluss hoch.

»Und jetzt aufstehen…«

Irina stellte sich auf die Füße, sah, dass sie ohne Mantel war, und schämte sich für ihre Kleidung.

Jegor half ihr, aus dem Rettungswagen zu steigen. Neben ihnen fuhren Wagen durch den aufgeweichten, hochspritzenden Schnee. Da war auch die vertraute Haltestelle, und der dunkle Park.

[97] »O Gott! Es ist ja schon spät!«, erschrak Irina.

»Kommen Sie«, flüsterte Jegor ihr zu. »Ich habe im Hof Ihrer Milchküche meinen Wagen abgestellt.«

Im Gehen warf Irina einen Blick auf die Fenster ihrer Arbeitsstelle. Die Fenster des ganzen ersten Stocks leuchteten mit hellem, gelbem Licht, von einem Eingang zum anderen.

Jegor setzte Irina auf den Vordersitz, schlug die Tür zu, und Irina fühlte sich wie in einer verschneiten Kate. Dunkel und kalt. Dazu das Schaben des Besens, genauer, der Bürste, mit der er den Schnee vom Wagen fegte.

Sie fuhren langsam durch die Stadt. Erst auf dem Prospekt des Sieges floss der Strom der Wagen schneller.

Um nicht an ihren schmerzenden Körper zu denken und nicht zu verstehen zu versuchen, was von den Kannen mit der Ziegenmilch wehtat und was davon, dass ein Wagen sie angefahren hatte, erzählte sie Jegor von ihrem Gespräch mit der Chefin, und auch von den Milchkannen, die sie und die alte Vera zu zweit geschleppt hatten.

Ihre Erzählung versiegte allzu schnell, und im Wagen hing eine Pause. Sie wollte Jegors Stimme hören – fest, entschieden, und, wenn möglich, fürsorglich. Doch Jegor schwieg, schwieg eine ganze Weile. Dann sagte er: »Sie ist gar keine Nelly Igorewna. Sie hat sich selbst so genannt, damit es vornehmer klingt. Und dass Sie einen höheren Lohn verlangt haben, war richtig! Zweifeln Sie nicht daran!«

»Haben Sie etwas über das Kind erfahren?«, fragte Irina hoffnungsvoll.

»Noch...