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Zwei Bärinnen

Meir Shalev

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604405 , 464 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[10] 2

Vorbereitungen

I

Wie hart würde die Rache sein, und wie schlicht und leicht waren die Vorbereitungen. Der Frau des Rächers, die hinter ihm stand, jede Einzelheit sah und begriff, erschienen sie wie die Vorbereitungen zu einem Ausflug, wie seine Vorbereitungen zu den Ausflügen, die sie vor Jahren gemeinsam unternommen hatten: das kräftige Ausschütteln des Rucksacks, der sich freute, mal wieder aus dem Abstellraum herauszukommen. Der prüfende Zug an den Schnürsenkeln der Wanderschuhe, die beinah schon alle Hoffnung aufgegeben hatten. Der Anwesenheitsappell der Knöpfe am Arbeitshemd.

Und auch die Unterschiede sah sie: Anstelle der Delikatessen, die er auf die damaligen, die gemeinsamen Ausflüge mitgenommen hatte, um ihr Herz zu erfreuen, packte er jetzt wenige, einfache Lebensmittel ein: ein paar Scheiben Brot, harte Eier, ungeschälte kleine Gurken, einen Becher saure Sahne. Das Wort »asketisch« fiel ihr unwillkürlich ein.

Und weitere Dinge bemerkte sie: Die Eier pellte er hier in der Küche, damit keine Schalenkrümel im Gelände zurückblieben und die Anwesenheit eines Menschen verrieten. Die Salami, eine ständige Begleiterin bei den [11] gemeinsamen Ausflügen von einst, signalisierte ihm, dass sie gern mitkommen würde, wurde jedoch übergangen. Ihr Geruch konnte Hunde anlocken, und dem Hund folgte womöglich sein Herrchen. Den schwarzen Kaffee, registrierte sie, kochte er noch hier im Haus und goss ihn in die alte Thermoskanne. Ein Lagerfeuer, einen Gasbrenner, frischgekochten Kaffee sieht und hört man, und ihr Geruch trägt weit.

Und sie erinnerte sich: Früher, bei den gemeinsamen Ausflügen, hatte er den Kaffee auf seinen kleinen, perfekt geschichteten Feuerchen gekocht. Hatte ihn aufwallen lassen, umgerührt, eingeschenkt, ihn ihr wie ein ausnehmend galanter Kellner serviert. Sie hatten damals einen kleinen Stieltopf, der auf jeden Ausflug mitkam. Aber auch der – wo ist er?, fragte sie sich unvermittelt, schon zwölf Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen – kam jetzt nicht in den Rucksack.

Sie wusste: Etwas Großes und Schlimmes stand bevor. Vergeltung würde geübt, Blut gerächt werden, es würde jemand sterben, vielleicht mehr als einer. Und doch trat ein Lächeln auf ihr Gesicht, als empfände sie Mitleid mit dem Stieltopf: »Dich Schüchternen und Verrußten nimmt er nicht mit? Macht nichts. Auch mich lässt er zurück« – wie einst David die zweihundert Mann zurückließ, die beim Tross blieben, als er mit gezücktem Schwert zu Nabal zog, Rachegedanken im Herzen.

Sie trat näher an ihn heran. Spürte er sie? Besaß er noch jene erschreckende und anziehende Fähigkeit zu spüren, was hinter seinem Rücken vorging? Ob ja oder nein, er drehte sich nicht um, schenkte ihr keinen Blick. Sie trat noch näher, fühlte angenehm deutlich die zwei Zentimeter [12] Größenunterschied zwischen ihnen und lächelte im Stillen: In der ganzen Moschawa gab es keinen Mann, der kleiner als seine Frau war, und erst recht keinen, dem das auch noch gut gefiel.

Früher, vor dem Unglück, als sie noch gemeinsam auf der Straße gingen – was für ein schönes Paar, sagten damals alle –, legte er ihr sogar den Kopf auf die Schulter, ein Rollentausch, der Beobachter irritierte, ihr selbst aber großes Vergnügen bereitete. »Das ist sehr wichtig, seine Liebste zum Lachen zu bringen«, sagte er damals oft. In ihren privaten zehn Geboten, die er verfasst und im Schlafzimmer an die Wand gehängt hatte, lauteten das dritte, das vierte und das neunte Gebot einhellig: »Du sollst deine Frau zum Lachen bringen.«

»Wo hat er bloß die biblischen Wendungen her?«, hatte sie damals gestaunt, als sie die Worte erblickte, und staunte sie nun, als sie ihr wieder einfielen. An einem besonders schlimmen Morgen, vor ein paar Jahren, hatte sie diese zehn Gebote von der Wand gerissen, zerfetzt und in den Mülleimer geworfen. Neue hatte er ihr nicht geschrieben, aber die alten waren unvergessen – sie hingen noch an den Wänden ihres Herzens.

»Sein Rücken ist so viel breiter geworden«, sagte sie sich jetzt.

Bei den einstigen, gemeinsamen Ausflügen waren sie immer nebeneinander gegangen, aber wenn der Weg schmal wurde, hatte sie das Tempo verlangsamt, um ihn vorzulassen. Dann hatte sie seinen knabenhaft schmalen Rücken angeschaut, und er hatte sich ab und zu umgewandt und gesagt: »Warum gehst du hinter mir? Übernimm du die Führung.«

[13] »Ich weiß nicht, wohin.«

»Folge dem Weg, er bringt dich schon ans Ziel.«

»Er ist nicht markiert.«

»Er ist markiert, aber nicht mit Farbe, sondern mit Spuren, mit zertretenem Gras, mit verschobenen Steinen, mit blanken Stellen am Fels. Man muss nur hinschauen und sehen. Und er hat auch seine eigene Logik, das ist das wichtigste Zeichen. Wege haben ihre Logik. Wenn man die erkennt, findet man sich leicht zurecht.«

»Ich habe heute frei. Ich hab keine Energie für neue Erkenntnisse und keinen Sinn für Logik. Versteh du den Weg, und ich genieße die Landschaft.«

»Wieso? Ich geh hinter dir her und guck auf deinen Po. Das ist viel schöner, und ich darf auch mal genießen.«

Obwohl er ihr Ehemann ist, betrachtet sie ihn so, wie Mütter ihre heranwachsenden Söhne ansehen: mit Verständnislosigkeit, Hoffnung, Angst, Belustigung und Neugier. Sie hat nie einen heranwachsenden Sohn gehabt, und seit dem Unglück weiß sie, dass sie auch nie einen haben wird, aber sie unterrichtet schon viele Jahre lang an der Oberschule der Moschawa und kennt daher diesen Blick, den Mütter auf ihre Söhne werfen und mit dem sie nun ihren Ehemann bedenkt.

Ich spüre das Flattern in meinem Innern: »Habe ich etwa im Leib noch Söhne? Habe ich noch Hoffnung?«

Diese schönen biblischen Worte pulsieren zwischen Gebärmutter und Herz: »Ja, wenn ich noch diese Nacht einem Mann gehörte und gar Söhne bekäme?« – Einem Mann? Meinem Mann? Dir?

[14] II

Sie hatten oft Ausflüge gemacht. Anfangs zu zweit, dann mit ihrem Sohn. Zuerst hatte er in ihrem Bauch geschaukelt und geschwommen, dann in einem Tragetuch vor ihrer Brust geschlummert, danach in einer Trage gesessen, die sein Vater ihm in der Rucksacknäherei seiner Reserveeinheit genäht hatte. In diesem selbstgefertigten Beutel hatte er ihn auf dem Rücken getragen, eben diesem Rücken, den er ihr jetzt zuwendet.

Ihre immer rasch tränenden Augen werden nun überschwemmt von Bildern: der Sohn als kleiner Reiter auf den Schultern seines Vaters. Der Vater trabt, wiehert wie ein Pferd, die Mutter läuft hinterher: »Pass auf! Ich bitte dich. Er ist ganz verängstigt. Er fällt gleich runter. Pass auf!«

Aber ihre Prophezeiung bewahrheitete sich nicht. Das Kind war zwar verängstigt, genoss es aber, nach Kinderart. Der Kleine lachte. Wuchs. Konnte stehen. Tat seine ersten Schritte. Purzelte um wie ein Baby und stand wieder auf wie ein Baby. Schon damals ließ er die Leichtfüßigkeit seiner Eltern erkennen – in seinem Gang, seinem Straucheln, seinem Lächeln, seinem Aufrappeln.

Zuerst waren sie in der nächsten Umgebung gewandert, zu den mit Klatschmohn und Chrysanthemen gesprenkelten Macchia-Flächen östlich der Moschawa und den rosa Flachsflecken am Hügel hinter der Avocadopflanzung. Später dann zu dem verborgenen Weiher im Norden, dem bescheidenen, weltabgeschiedenen Gewässer, das sie in der Sommerhitze aufsuchten und in dem ihr Bruder ihr Schwimmen und Tauchen beigebracht hatte, da war er ein [15] großer Junge gewesen und sie ein kleines Mädchen. Und als das Kind sicherer ging, nahmen sie es auch mit zu Opa Seevs Wadi, so nannten sie das trockene Bachbett, in dem der große Johannisbrotbaum stand – Großvaters großer Johannisbrotbaum, genauer gesagt.

Dort, in jenem Wadi, waren sie und ihr Bruder als Kinder mit ihrem Großvater gewandert. Dort hatte er ihnen beigebracht, Wildblumen zu bestimmen, ihre Samen zu markieren und zu sammeln. Unter jenem Johannisbrotbaum hatte er ihnen eine Geschichte erzählt, die sie später für ihren Sohn aufschrieb: die Geschichte vom Steinzeitmenschen, der einst in der nahen Höhle wohnte, der Höhle mit der tiefen Zisterne, in die manchmal ein verirrtes Tier – ein Schaf oder eine Ziege – fällt und alsbald zum Himmel stinkt.

Und von diesem Wadi wanderte sie später mit ihrem Ehemann weiter in die parallelen Schluchten, auf und ab stiegen sie – »wir schnüren nordwärts«, nannte er es im Stil seiner Soldaten – und erreichten Orte, an denen sich kein Mensch außer ihnen blicken ließ. Sie liebten sich gern in freier Natur und hatten da ein paar Lieblingsplätze. Und von dort weiter und höher, auf den Bergzug, bis sich ihnen der Ausblick auf die andere Seite bot, für sie beide eine vertraute und beglückende Landschaft und für ihren Sohn eine fremde und ferne, lockende und wunderbare Welt: Komm her, näher ran, fass an, riech mal, füll die wartenden Schubladen deines Gedächtnisses.

Und später zogen die beiden, nur Vater und Sohn, auch ohne sie los.

»Männertouren«, sagte er, und eines Tages setzte er obendrauf: »Die Mädels sind nicht eingeladen.«

[16] So hat er es gesagt, und ich habe bloß aufgelacht. Ahnte nicht, was kommen würde. Ich hatte nie diese berühmte Intuition, diese Vorahnung, die Frauen, und besonders Müttern, nachgesagt wird. Auch am Tag des Unglücks habe ich nichts gespürt.

Männertouren. Nur die beiden allein. Der kleine Junge soll von dem großen Jungen all den Unsinn lernen, den ein Vater seinem Sohn beibringen muss: ein Lagerfeuer anzünden, die Pflanzen erkennen, deren Blätter man zu Tee...