dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Ein Leben als Zwerg

Urs Widmer

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257605846 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

[7] ICH heiße Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter groß und aus Gummi. Hinten, so etwa im Kreuz, hatte ich einmal ein rundes Etwas aus Metall, und wenn mir jemand, ein Mensch mit seinen Riesenkräften, auf den Gummibauch drückte, pfiff es. Pfiff ich. Das Metallding ist aber längst von mir gefallen, und ich pfeife nicht mehr. Die Menschen – die Kinder der Menschen vor allem – denken, ich sei ein Spielzeug. Ein Spielzwerg. Sie haben recht, aber sie kennen nur die halbe Wahrheit. Wenn ein Menschenblick auf einen von uns fällt, auf einen Zwerg, wird er steif und starr und ist gezwungen, in der immer selben Haltung zu verharren. Eine Lebensstarre, die jeden von uns so lange beherrscht, als Menschenaugen auf uns ruhen. Sie überfällt uns eine Hundertstelsekunde bevor der Blick uns erreicht und verläßt uns ebenso sofort, wenn der Mensch wieder woandershin blickt. Ich habe dann die Arme am Körper wie in einer etwas nachlässigen Habtachtstellung und mache ein dummes Gesicht. Mein Mund steht offen, und meine Augenlider sind bis über die Mitte der Iris gesenkt. Wenn aber niemand schaut, sind wir [8] Zwerge äußerst fix. Wir können wie Irrwische durch Wohnungen sausen, Tischbeine hinauf, Tischbeine hinunter, wir gehen die glatten Wände hoch, wenn es sein muß. Es kommt vor – es ist vorgekommen –, daß uns ein Menschenblick trifft, wenn wir an einem Ort sind, an den wir ganz und gar nicht gehören. Dann erstarren wir eben dort, wir können ja nicht anders, und die Menschen betrachten uns nachdenklich und kratzen sich am Kopf und tun uns in die Spielzeugkiste zurück. Aber dann vergessen sie den Vorfall wieder, Zwerge sind nicht so wichtig für Menschen. – Zwerge sind unsterblich. Es soll welche geben, die tausend und zehntausend Jahre alt sind. Ja. Wir essen nicht, wir trinken nichts. Nichts rein, nichts raus, das ist unser Überlebensgeheimnis. Wir sind unsterblich: aber wir zerbröseln. Wenn einer von uns einmal zu lange in der Sommersonne liegt oder auf der voll aufgedrehten Heizung, beginnt der Gummi brüchig zu werden. Ich zum Beispiel bin übel dran. War mehrmals in den vergangenen Dezennien zu großer Hitze ausgesetzt, einmal zwei Stunden einem Heizstrahler, und nie wandten die im Zimmer herumtobenden Kinder so lange die Blicke ab, daß ich in eine kühle Ecke hätte weghechten können. Ein halber Schuh ist mir schon weggebrochen, und wenn ich mich jäh [9] bewege, bröseln Gummibrocken an mir herunter. Es ist unter uns Zwergen – den klügeren unter uns – eine oft diskutierte Frage, wie lange man ein Zwerg ist, unsterblich, und wann man ein Haufen Gummistaub geworden ist. Ob man dann noch denken kann, fühlen, jubeln in ewiger Lebensfreude. Plötzlich einmal in tausend Stücke zu zerfallen, das könnte mir durchaus passieren. Dann lebe ich immer noch, bin aber meine Einzelteile geworden – hier die Nase, dort der Mund, fernab die Füße mit den anderthalb Schuhen. Die Putzfrau käme und wischte mich in ihren Müllsack.

ICH heiße Vigolette alt, weil ich ein violettes Jöppchen trage und der älteste der Vigoletten bin. Schon lange lebe ich mutterseelenallein (Zwerge haben keine Mütter) auf einem Regal, einem Menschenregal, hoch über dem Fußboden. Das Regal ist mehr oder minder leer, verstaubt, mit mir sind nur noch ein Zahnarzt aus angemalter Tonerde und sein ebenfalls toniger Patient, dem er mit einem Metalldraht einen Zahn ausreißt. Die beiden sind etwa gleich groß wie ich. Aber anders als wir Zwerge sind sie tatsächlich leblos, tönerne Volkskunst, auch wenn sie niemand anschaut. Ich sehe auch kaum mehr hin, sage nur hie und da, wenn ich [10] sehr einsam bin, ein paar aufmunternde Worte zu ihnen. »Maul auf, dann geht’s schneller«, zum Patienten, und zum Zahnarzt: »Nie gehört, daß es Dentalzangen und Anästhesiespritzen gibt?« Die beiden antworten mir nie, logisch nicht, sie sind aus Salvador de Bahía und dort in Massenhandarbeit hergestellt worden. – Sonst liegen auf dem Regal nur noch ein paar uralte Nadeln für 78-Touren-Grammophone herum, bei denen ich aufpassen muß, daß ich mir nicht ein weiteres Stück Gummi ausreiße, wenn ich auf eine trete.

AUCH die Namen der andern Zwerge gehorchten dem Muster, nach dem ich benannt bin. Rotsepp hieß Sepp und war rot, die Himmelblöe hatten alle drei himmelblaue Jacken an, und Lochnas alt hatte – sozusagen von Geburt weg, obwohl die Frage unserer Geburt ein weites Feld ist – ein Loch in der Nase. Allerdings steckte Grünsepp nur zu Beginn in einem grünen Anzug, später in einem gelben, und die Böse waren nicht im geringsten bös, sondern herzensgut und hilfsbereit; allenfalls ein bißchen knurrig zuweilen. Und Dunkelblöe, der Älteste und so etwas wie der geheime Chef dieser Zwergendemokratie, trug eine runde Hornbrille und hatte eine so tiefe Stimme, daß alle ihn für [11] klug und weise hielten. Überhaupt die Stimmen. Wir Vigolette – neben mir waren da noch Vigolette neu und noch später auch Neu Vigolette – sprachen durch die Nase, ich tue das immer noch, obwohl mir die Nase längst weggebröselt ist. Wir klangen tatsächlich wie die Deppen – ich klinge auch heute noch so, nur, allein spreche ich kaum mehr –, und darum hielten uns die anderen für einigermaßen beschränkt. Ich bin beschränkt, o. k., aber da solltet ihr einmal die Himmelblöe oder die Lochnase sehen. Ich war immerhin der einzige, der wußte, daß er nichts wußte. Ich war der Klügste von uns und stritt mich immer mit Dunkelblöe herum, der darauf bestand, mehr als nichts zu wissen, nämlich etwas, und sein Etwas war zufälligerweise stets das, wovon gerade die Rede war. Das erklärte er uns dann, etwa, daß Katzen für Zwerge keine Gefahr darstellten, Hunde jedoch sehr wohl, weil sie die Neigung verspürten, auf uns herumzukauen. Trotzdem kam er dann einmal zwischen den Zähnen der Hauskatze ins Zimmer und schaute entschieden erbärmlich; das Menschenmädchen von damals befreite ihn und schimpfte, statt mit ihm, mit der Katze. – Wir Zwerge, alle siebzehn, waren einst zusammen, für ewig und so selbstverständlich, daß keiner je an eine Trennung dachte. Der Gedanke, dereinst allein zu sein, war [12] undenkbar; hätte uns, hätte er uns auch nur gestreift, in eine Schreckensstarre verfallen lassen, gegen die die Spielzeugunbeweglichkeit ein weiches Ausruhen gewesen wäre. Und doch, irgendwie versprengte uns ein Schicksal, das ich bis heute nicht erfaßt habe, ich landete auf diesem Regal, in diesem Menschenzimmer. Hier lebe ich seither schier bewegungslos, obwohl mich nie, fast nie ein Menschenblick streift und ich stundenlang herumtosen könnte. Ich wage es einfach nicht, die gut zwanzig Zwergenlängen lotrecht zum Erdboden hinabzusteigen, die glatten Regalwände hinunter. Was, wenn ich beim ersten Schritt unten auf dem Parkett meinen andern halben Fuß auch noch verlöre? Einfüßig schaffte ich es nicht mehr in meinen Horst. Von hier aus habe ich sowieso einen guten Überblick.

ICH sehe: einen Tisch, eine Schreibmaschine darauf, viel Papier. Einen Stuhl. Ein Telefon. Das Fax, das so jäh loskeucht, daß ich immer erneut erschrecke, ruckelnd seine Meldung ausspuckt und, wenn diese endlich in dem Auffanggitter zur Ruhe kommt, kläglich pfeift, als rufe es um Hilfe. Links ist ein Regal voller Bücher, geradeaus ein Fenster, durch das ich so etwas wie einen Bambushain [13] erahne – hie und da, selten, eine Amsel oder einen Spatz –, und rechts ein weiteres Regal mit roten, blauen oder gelben Ordnern. »Einnahmen«, »Ausgaben«, »Texte«, »Briefe«, »Verträge«. Ein Bild, das eine Siphonflasche zeigt, und ein anderes, auf dem ein Mann mit einer wie holzgeschnitzten Nase zu sehen ist. Gerümpel am Boden, das Grammophon zum Beispiel, das die Nadeln bräuchte, wäre es jemals in Betrieb, und ein Ständer mit zwei drei Dutzend 78-Touren-Platten. Ja, manchmal sitzt an dem Tisch der Mann, dem ich gehöre. Der mir gehört. Er ist mein Schicksal, ich bin seins. Ich weiß es, er nicht.

WENN ich es nicht zweifelsfrei wüßte, ich würde es nicht glauben: daß dieser alte Mann mit seiner Glatze, seinem bizarren Haargewusel auf den Schädelseiten (Putzwolle oder so was, grau), seinem Schnauz, seinen Tränensäcken unter den stier glotzenden Augen jener verwandelte Bub mit den schwarzen Wuschelhaaren und der hellen Stimme ist! Hätte ich nicht jeden Tag seiner Verwandlung miterlebt, ich schwörte bei Gott – Zwerge haben keinen Gott –, daß der da ein ganz anderer ist. Keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Jungen, nicht so viel. Der da ist gewiß sterblich, das sieht ein [14] Blinder. Seine Tage sind gezählt, die Wetten gehen nur noch, ob 300 oder 3000. Der kleine Junge wirkte durchaus so, als könnte er ewig bleiben. Ein Zwerg auch er, ein Riesenzwerg von allem Anfang an allerdings. Aber das blieb er nicht. Er wurde wahrhaftig ein Riese, ein durch die weite Welt pflügender Gigant, und tat Dinge, die mit mir gar nichts mehr zu tun hatten, obwohl er mich oft – später erst seltener – in seiner Hosentasche mitnahm. Mich zuweilen, mitten in seinem Erwachsenengetöse, heimlich mit den Fingern betastete. Er lärmte in Gaststätten herum und saß stundenlang in Flugzeugen. Trotzdem: ich war sein Liebling und bin es vielleicht immer noch. Warum sonst behielte er mich immer bei sich, in meinem Zustand!, während die andern Zwerge irgendwo in einer Schachtel auf einem Dachboden verrotten oder längst in der Abfalltonne gelandet sind, niemand mehr weiß wann, wo, mein...