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Die letzte Liebe des Präsidenten

Andrej Kurkow

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257606034 , 704 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

[5] 1

Kiew. Mai 1975. Sonntagnacht.

In der Luft hing der Duft blühender Akazien und Kastanien. Ich war vierzehn Jahre, nach einer kleinen Sauferei im Zentrum zu Fuß unterwegs nach Hause. Ich ging durch die völlig menschenleere Tupolew-Straße: links das Flugmotorenwerk, rechts der Zaun der Gemüsefabrik. Hinter dem Zaun schimmerte rötliches, diffuses Kunstlicht: in den Gewächshäusern ließ man die Frühtomaten und Gurken nicht schlafen. Von weit her hörte ich Schritte. Und ich hörte meine eigenen. Ich paßte meinen Rhythmus dem Rhythmus der fremden Schritte an, ging im Gleichschritt mit jemandem, der mir entgegenkam. Dann sah ich ihn. Wir hielten uns an den Rechtsverkehr (dabei wußte ich noch nicht, daß es Linksverkehr überhaupt gab). »Woher?« rief ich meinem Altersgenossen zu. – »Von der Blücherstraße, nach Swjatoschino!« antwortete er. – »Ich von der Saksaganski zur Tupolew!« Dann riefen wir uns gegenseitig »Viel Glück!« zu und gingen aneinander vorbei. Der Abstand zwischen uns wurde größer. Ich war aus seinem Tritt geraten, langsam verstummten seine Schritte, und in meinem Körper war jetzt auch die Wirkung des vorhin getrunkenen Portweins verklungen. Rechts tauchte unser kleiner Park auf, hinter dem die Schachbrettreihen der Sechzigerjahre-Wohnblocks anfingen. Die erste Reihe, das waren die [6] ›Sechzehner‹-Häuser, ich wohnte im zweiten Haus der zweiten Reihe. Achtzehn-A, fünfter Stock. Ich hatte den Schlüssel in der Tasche, mit dem ich ganz leise aufschließen mußte. Aber schon als ich in den Hof einbog, sah ich, daß bei uns in der Küche Licht brannte. Sie warteten auf mich… Gleich würde es einen Zehn-Minuten-Skandal geben. Dann wäre alles still, und der Montag würde beginnen.

2

Kiew. Mai 2015. Montag.

Die Sommersprossen entdeckte ich auf meinem Körper ganz plötzlich, einen Monat nach der Operation. Erst sah ich sie auf der Brust, dann wanderten sie zu den Schultern hoch und überzogen schließlich die Unterarme. Mit der Zeit wurde der ganze Körper rötlich, sogar Handrücken und Finger. Der Dermatologe zuckte nur die Achseln und erklärte, nach einer Flechte sehe es nicht aus, am ehesten hänge das mit Genetik zusammen.

»Herr Präsident, hatten Sie Verwandte mit Sommersprossen?« fragte er.

»Wir hatten Schlaganfälle, Infarkte und Brustdrüsenkrebs«, sagte ich. »Keine Zwillinge und keine Tuberkulose. Von Sommersprossen weiß ich nichts.«

Trotzdem sah ich alle Familienfotos durch, die in zwei alten Ledermappen auf dem Dachboden lagen. Den Geschmack des Dachbodenstaubs habe ich bis jetzt noch auf der Zunge. Ich sah auf den Schwarzweißfotos kein einziges deutlich sommersprossiges Gesicht, dafür belebte ich in der [7] Erinnerung die Gesichter von Cousinen, Cousins, Onkeln und Tanten wieder.

Der Onkologe, den sie am nächsten Tag kommen ließen, verwarf den Gedanken an Hautkrebs.

»Krebs tritt herdförmig auf, und Sie sind durchgehend gepünktelt. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie sehen ja, wie sich das Klima wandelt. Die globale Erwärmung… Das kann ein Dutzend Gründe haben, aber Ihre Haut ist gesund. Und was ist das da für eine Narbe? Herzoperation?«

Die Narbe ist zu meiner Schwachstelle geworden. Gleich nach der Operation. Als ich sie sorgfältig im Spiegel besah, erkannte ich, daß genau diese Narbe das Epizentrum meiner Sommersprossen war. Eigentlich war sie eine einzige langgezogene, zarte Sommersprosse. Auch wenn das komisch klingt, denn eine Sommersprosse ist schließlich ein Punkt, und ein Punkt kann nicht langgezogen sein.

3

Kiew. März 2015.

Nach der Operation erwachte ich frühmorgens. Das Bett in meinem zweiräumigen Luxuskrankenzimmer stand direkt unter einem breiten, nach Osten hinausgehenden Fenster. Ich schlug die Augen auf und kniff sie gleich wieder zu. Ich hörte Vogelgezwitscher. Kein heutiges, sondern sozusagen eines aus der Vergangenheit. Die Vögel sangen früher anders. Vielleicht schwungvoller. Kennen Sie den Unterschied zwischen dem Klang einer CD und einer alten Vinylplatte, zerkratzt und mit Tee oder Bier übergossen? Die [8] Platte klingt ›schmutzig‹, aber echter. Genauso sangen auch die Vögel früher echter, aber jetzt glaubte ich ihnen nicht mehr. Wie ich auch dem Fernseher nicht glaubte, der verkündete, daß ich bloß erkältet war und man daher meinen Besuch in Malaysia auf Juni verschoben hatte.

»Die Vögel singen schlecht«, sagte ich zu meinem Assistenten, der auf einem Stuhl bei der Tür wachte.

Seine Hand fuhr zum Nachttischchen mit dem Telefon. Aber dann sah er sich noch mal unsicher nach mir um, nickte und ging hinaus. Fünf Minuten später hörte ich unter dem Fenster leises Hin und Her. Mein Assistent kam wieder und bat um zehn Minuten Geduld.

Nach zehn Minuten verstummte das Treiben, und kurz darauf zwitscherten die Vögel los. Und sie zwitscherten jetzt wirklich gut, fröhlicher und optimistischer.

Ich wollte von meinem Assistenten wissen, wie sie es geschafft hatten, das Vogelgezwitscher zu verbessern. »Man hat drei Schälchen mit Vitaminfutter unter Ihr Fenster gestellt.«

Dieser Morgen am Fenster, das nach Osten ging, war die exakte Wiederholung eines anderen Morgens – im Jahr 1965, an dem ich genauso die Augen zugekniffen hatte. Und jetzt zwitscherten die Vögel vorm Fenster genauso fröhlich. Damals war ich beim Aufwachen ein vierjähriges Kind, und jetzt war ich vierundfünfzig. Runderneuert durch die besten Chirurgen. Vor der Tür meines Krankenzimmers stand eine Leibwache, meine Ärzte schrieben Bulletins über meinen Gesundheitszustand, meine Berater nutzten meine Abwesenheit, um ihre Freunde näher an die staatlichen Freßtröge ranzuschieben. Aber daran wollte ich jetzt nicht [9] denken. Ich blieb in der Erinnerung beim Zwitschern der Vögel von 1965 und verglich es mit dem Tirilieren, das jetzt vor dem Fenster ertönte. Die Brust fühlte sich an wie in einem eisernen Schraubstock. Die Naht würde zusammenwachsen, ihr blieb gar nichts anderes übrig. Und die Sommersprossen stellten sich erst später ein.

4

Kiew. März 2015.

»Na, wie geht es dem Patienten?« Der Chefarzt beugte sich über mich. Erstaunt sah ich den gestickten blauen Dreizack auf der Brusttasche seines blütenweißen Kittels.

Der Chefarzt war nicht älter als fünfzig, aber die dicken grauen Haare, alle in einer Welle zur Seite gekämmt, verliehen seiner Erscheinung Patriarchenwürde.

»Hier, bitte.« Er zog aus der Kitteltasche eine Praline ›Ferrero Rocher‹ und streckte sie mir hin.

Ich spähte hinter seinen Rücken – niemand da. Eine komische Geste! »Weshalb bieten Sie mir das an?« fragte ich drohend.

»Das kriegen alle.« Er trat einen halben Schritt zurück. »Jedem auf dieser Station steht bei Visite eine Praline zu.« Und um die Wahrheit seiner Worte zu untermauern, zog er eine Handvoll einzeln verpackter Pralinen aus der anderen Kitteltasche und ließ sie gleich wieder verschwinden. »Das ist bei den Behandlungskosten inklusive… Oder vielleicht wollen Sie wissen, warum es keine einheimischen Pralinen sind?«

[10] »Nein.« Ich war nun beruhigt und streckte die Hand aus, um das mir Zustehende entgegenzunehmen.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir Ihnen erlauben, Besucher zu empfangen. Von heute abend an. Aber höchstens zwei Stunden täglich.«

»Ist das nicht noch ein wenig früh?« fragte ich mit leiser Hoffnung.

»Um die Wahrheit zu sagen: ja, aber Ihr Stabschef setzt mich unter Druck. Vielleicht sagen Sie es ihm selbst!«

Ich seufzte.

»Gut, wir empfangen.« Ich wandte mich an meinen Assistenten. »Hast du die Besucherliste schon?«

Er nickte.

5

Kiew. Mai 1977.

Das erstaunlichste Geschenk zu meinem sechzehnten Geburtstag war ein Pickelausdrücker. Schanna hatte ihn gebracht. Eigentlich lagen in dem von ihrem Vater aus Syrien mitgebrachten Maniküreset zwei solche Ausdrücker: einer für große Pickel und einer für kleine, nur den für große hatte Schanna für sich behalten. Irgendwann später mal zeigte sie mir dieses Set: ein Dutzend verchromter kleiner Werkzeuge mit Perlmuttgriffen. Zur Entfernung von unter den Nägeln festsitzendem Schmutz, zum Zurückschieben und sanften Abschneiden von Nagelhaut und ähnlichem. Nur die Bestimmung dieser zwei kleinen Werkzeuge, die aussahen wie Miniaturlöffel mit einem akkuraten Löchlein [11] in der Mitte, konnte Schanna zuerst einfach nicht begreifen. Aber zur arabischen Gebrauchsanweisung gab es Bildchen, und da wurde ihr alles klar. Sie hatte große Pickel an der Stirn, und ich hatte kleine Mitesser auf der Nase. An der Nase probierte ich ihr Geschenk dann auch aus. Am Tisch tranken sie gerade auf mein Wohl, aber ich schloß mich im Badezimmer ein, Nase an Nase mit meinem Spiegelbild, führte den Ausdrücker mit dem Löchlein an einen Mitesser und drückte den kleinen Löffel fest. Der weiße Talgwurm lief gleich durch das akkurate Löchlein wie ein Faden durchs Nadelöhr und ringelte sich wie eine winzige Natter. Ich nahm den Löffel weg und hielt mir den besiegten Feind vors Auge, dann wischte ich ihn mit einem Stück Klopapier ab.

Als ich an den Tisch zurückkam, war meine Nase röter als eine Möhre. Die Stimmung zog gleich mit der geleerten Flasche rotem ›Schampanskoje‹, und die liebevollsten Blicke schenkte ich an jenem Abend Schanna. Als meine Eltern dann demonstrativ ins Kino gingen, schalteten wir das Licht aus, den Kassettenrekorder ein und erklärten...