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Mystic River

Dennis Lehane

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604375 , 656 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] 1

Der »Point« und die »Flats«

Als Sean Devine und Jimmy Marcus Kinder waren, arbeiteten ihre Väter in der Coleman-Süßwarenfabrik und brachten jeden Abend den Gestank von warmer Schokolade mit nach Hause. Der Geruch steckte in ihrer Kleidung, setzte sich in ihren Betten und den Vinyl-Rückenlehnen ihrer Autositze fest. Die Küche von Seans Eltern roch wie ein Karamelllutscher, das Badezimmer wie ein Chew-Chew-Riegel. Als sie elf waren, hatten Sean und Jimmy einen derartigen Ekel vor Süßigkeiten entwickelt, dass sie ihren Kaffee für den Rest ihres Lebens schwarz tranken und auf Nachtisch grundsätzlich verzichteten.

Samstags sah Jimmys Vater meist auf ein Bier bei den Devines vorbei. Jimmy brachte er mit, und während aus einem Bier schnell sechs wurden, zwei, drei Whiskey inklusive, spielten Jimmy und Sean draußen im Garten, manchmal auch mit Dave Boyle, einem Jungen mit zierlichen Handgelenken und verhuschtem Blick, der immer Witze erzählte, die er von seinen Onkel hatte. Durch das Fliegengitter des Küchenfensters drang vereinzelt lautes Gelächter zu ihnen heraus. Sie hörten, wie die Laschen von den Bierdosen gezogen wurden und die schweren Zippos auf- und zuschnappten, wenn Mr. Devine und Mr. Marcus sich ihre Luckys ansteckten.

[10] Seans Vater war Vorarbeiter und hatte den besseren Job. Er war groß und blond und besaß ein offenes, gewinnendes Lächeln, mit dem er Seans Mutter schon des Öfteren besänftigt hatte; ihre Wut verrauchte dann, als hätte er sie einfach ausgeknipst. Jimmys Vater war für das Beladen der Lieferwagen zuständig. Er war klein; sein dunkles Haar fiel ihm wirr in die Stirn, und irgendetwas in seinen Augen schien ständig zu flackern. Außerdem bewegte er sich wie ein Wiesel; man blinzelte nur kurz, und plötzlich befand er sich am anderen Ende des Raums. Dave Boyle hatte keinen Vater, nur eine Menge Onkel, und er war an jenen Samstagen nur dabei, weil er an Jimmy hing wie eine Klette; wenn er sah, wie Jimmy mit seinem Vater das Haus verließ, stand er auch schon, ein wenig außer Atem, neben ihrem Auto und fragte, traurig und erwartungsfroh zugleich: »Wie sieht’s aus, Jimmy?«

Sie lebten alle in East Buckingham, ein Stück westlich vom Stadtzentrum, einem Viertel mit winzigen Eckläden, kleinen Spielplätzen und Metzgereien, in deren Schaufenstern rosafarbenes, noch blutiges Fleisch hing. Die Bars hatten irische Namen; am Straßenrand standen Dodge Darts. Die Frauen trugen im Nacken verknotete Kopftücher und hatten Kunstledertäschchen mit Schnappverschluss bei sich, in denen sich ihre Zigaretten befanden. Bis noch vor ein paar Jahren waren ältere Jungs so plötzlich von den Straßen verschwunden, als hätten Außerirdische sie entführt. Nach etwa einem Jahr kehrten sie hohlwangig und hohläugig aus dem Krieg zurück, und so manches Mal kamen sie überhaupt nicht wieder. Tagsüber durchforsteten die Mütter Zeitungen nach Gutscheinen. Abends gingen die Väter [11] in die Kneipe. Jeder kannte jeden, und außer den älteren Jungs verließ nie jemand das Viertel.

Jimmy und Dave stammten aus den Flats unten am Penitentiary Channel südlich der Buckingham Avenue. Sie wohnten nur zwölf Blocks von Seans Straße entfernt, doch das Haus der Devines befand sich nördlich der Avenue, in jenem Teil des Viertels, der The Point genannt wurde, und für gewöhnlich gingen sich die Bewohner des Point und der Flats geflissentlich aus dem Weg.

Nicht, dass die Straßen des Point mit Gold gepflastert gewesen wären oder man dort mit dem Silberlöffel im Mund geboren wurde. Es war einfach nur der Point, eine Arbeitergegend, in der Chevys, Fords und Dodges vor schlichten Reihenhäusern oder dem einen oder anderen Haus im viktorianischen Stil parkten. Aber den Bewohnern des Point gehörten ihre Häuser; in den Flats wohnte man zur Miete. Im Point gingen die Familien zur Kirche, blieben zusammen, standen in Wahlmonaten mit Plakaten an der Straßenecke. In den Flats hingegen – tja, wer wusste schon genau, was dort vor sich ging – lebten manche Leute wie die Tiere, hausten zu zehnt in einer Wohnung, kippten ihren Müll auf die Straße; Sean und seine Freunde auf der Saint Mike nannten die Gegend Wellieville – das Pflaster, wo die Asozialen wohnten, Scheidungen an der Tagesordnung waren, Eltern von der Stütze lebten und ihre Kinder auf öffentliche Schulen schickten. Während Sean also mit schwarzer Hose, schwarzer Krawatte und blauem Hemd auf die Saint Mike’s Parochial ging, besuchten Jimmy und Dave die Lewis-M.-Dewey-School in der Blaxston Street, auch Looey & Dooey genannt. Dort trugen die Kids [12] Straßenklamotten, ziemlich cool, nur, dass sie so gut wie jeden Tag dieselbe Kluft anhatten, was wiederum entschieden weniger cool war. Sie wirkten irgendwie schmierig – speckiges Haar, speckige Haut, speckige Kragen und speckige Ärmel. Viele Jungen hatte dicke Aknepickel und brachen die Schule vorzeitig ab, und manche Mädchen trugen Umstandskleider bei der Abschlussfeier.

Ohne ihre Väter wären sie also wohl niemals Freunde geworden. Unter der Woche trafen sie sich nie, nur an den Samstagen, und ob sie nun im Garten spielten, durch die Kieshalden jenseits der Harvest Street streiften oder mit der U-Bahn fuhren – ohne ein bestimmtes Ziel, sondern nur, um durch die dunklen Schächte zu gondeln, das Rattern und Quietschen der Bremsen zu hören, wenn die Wagen die nächste Kurve nahmen und die Lampen flackerten –, kam es Sean manchmal so vor, als würde er die ganze Zeit den Atem anhalten. Wenn man mit Jimmy unterwegs war, konnte einfach alles passieren. Und wenn Jimmy wusste, dass es Regeln gab – in der U-Bahn, auf den Straßen oder im Kino –, ließ er sich davon jedenfalls nichts anmerken.

Einmal waren sie an der South Station, warfen sich auf dem Bahnsteig gegenseitig einen orangefarbenen Streethockeyball zu, doch dann kam Jimmy nicht an einen von Seans Würfen, und der Ball flog auf die Gleise. Bevor Sean auch nur blinzeln konnte, war Jimmy auch schon von der Plattform nach unten gesprungen, wo sich nicht nur Mäuse und Ratten tummelten, sondern sich auch die Stromschiene befand.

Die Leute auf dem Bahnsteig drehten durch, schrien lauthals auf Jimmy ein. Eine Frau wurde aschfahl im Gesicht, [13] während sie in die Knie ging und rief: »Komm sofort wieder hoch, verdammt noch mal, sofort!« Im selben Moment hörte Sean ein dumpfes Grollen – vielleicht eine Bahn, die gerade in den Tunnel an der Washington Street bog, oder auch nur ein paar Lastwagen, die oben über die Straße donnerten –, und die anderen Leute hörten es auch. Sie fuchtelten mit den Armen, reckten die Köpfe und sahen sich hektisch nach der U-Bahn-Polizei um. Ein Mann hielt seiner kleinen Tochter die Hand vor die Augen.

Jimmy spähte ins Dunkel unter dem Bahnsteig. Dann hatte er den Ball gefunden und wischte mit dem Ärmel irgendwelchen schwarzen Dreck davon ab, ohne sich um die Leute zu scheren, die auf der gelben Linie knieten und ihm die Hände entgegenstreckten.

Dave stieß Sean an und platzte laut heraus: »O Mann!«

Jimmy ging in der Schienenmitte auf die Treppe am anderen Ende des Bahnsteigs zu, wo der dunkle Schlund des Tunnels gähnte. Im selben Augenblick ließ ein weiteres, mächtigeres Grollen den Bahnhof erbeben, und die Leute zuckten zusammen, stießen nervös die zu Fäusten geballten Hände in die Hüften. Jimmy ließ sich Zeit, schlenderte regelrecht das Gleis entlang, und dann sah er über die Schulter zu Sean und grinste.

»Er lacht«, sagte Dave. »Er hat sie echt nicht mehr alle.«

Als Jimmy die erste Stufe der Betontreppe erklomm, wurde er von mehreren Händen nach oben gerissen. Sean beobachtete, wie seine Beine nach links schwangen und sein Kopf nach rechts kippte; ein massiger Mann hielt ihn fest, und Jimmy wirkte so klein und leicht wie eine Strohpuppe, doch trotzdem presste er den Ball fest an seine [14] Brust, ließ ihn auch nicht los, als irgendwer an seinem Ellbogen zerrte und er mit dem Schienbein gegen die Bahnsteigkante knallte. Sean spürte, dass Dave die Muffe ging, während er gleichzeitig die Leute im Blick behielt, die Jimmy auf den Bahnsteig zerrten. Von der Sorge, der Angst, der Hilflosigkeit, die sich eben noch auf ihren Mienen gespiegelt hatte, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen starrte er nun in die primitiven Gesichter von Ungeheuern, so von Wut verzerrt, als wollten sie jeden Moment die Zähne in Jimmy schlagen und ihn anschließend zu Tode prügeln.

Dann hatten sie Jimmy auf die Plattform gezogen und hielten ihn fest, gruben ihre Finger in seine Schultern, sahen sich nach jemandem um, der ihnen sagen würde, was sie jetzt tun sollten. Sekundenbruchteile später brach die U-Bahn durch den Tunnel, und irgendwer stieß einen spitzen Schrei aus, doch dann lachte jemand – ein schrilles Gackern, das Sean unwillkürlich an Hexen denken ließ, die um einen brodelnden Kessel tanzten –, weil die Bahn, ein Zug, der Richtung Norden ging, am anderen Ende des Bahnhofs hereindonnerte, während Jimmy die Leute um sich herum ansah, als wollte er sagen: Na, kapiert?

Neben Sean stieß Dave einen seiner hohen Lacher aus und erbrach sich in die eigenen Hände.

Sean wandte den Blick ab und fragte sich, was er eigentlich mit alldem zu tun hatte.

***

An jenem Abend wurde Sean von seinem Vater in den Hobbykeller gerufen. Der Hobbykeller platzte aus allen [15] Nähten: schwarze Schraubstöcke, Kaffeedosen voller Nägel und Schrauben, fein säuberlich gestapeltes Holz unter der zerschrammten Werkbank, die den Raum in zwei...