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Jimi Hendrix live in Lemberg

Andrej Kurkow

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604368 , 416 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[5] 1

Am Gang kann man fast immer erkennen, wie alt jemand ist. Ein ganz junger Mensch geht fröhlich und neugierig. Ab und zu stellt er sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf etwas zu erhaschen, was er sonst nicht sehen würde. Solange er nicht größer als einsfünfzig ist, stört das auch keinen. In der Folge wird der Gang des Menschen für kurze Zeit ein wenig rüpelhaft und arrogant, oder aber geduckt, die Schultern hochgezogen und leicht nach vorne gebeugt. Das gefällt natürlich bei weitem nicht mehr allen und ruft Ängste hervor: Wer weiß schon, was ein Mensch mit einem solchen Gang anstellen kann?! Von da an ist es bei jedem anders. Der eine geht zwanzig Jahre lang gerade, der andere etwas seitlings – das hängt von der Stellung im Leben und der Größe der Angst ab. Aber diese Regel gilt nur tagsüber. Nachts kann man seine Tagesgangart und sein Alter ablegen und anders gehen. Die Nacht macht frei. Vor allem die Nacht vom 17. auf den 18. September.

In dieser Septembernacht 2011 waren Schritte aus der Hrnschewskyj-Straße, der Seljona, der Fjodorow-Straße und der Samarstyniwska zu vernehmen sowie aus Richtung des Stryjski-Parks, in dessen Bäumen schon seit je Scharen von fetten Krähen übernachten, die sich tagsüber auf der Lemberger Mülldeponie bei Hrybowytschi vollgefressen haben.

[6] Es waren die Soloschritte von einzelnen Menschen, die niemals, auch nicht zu Zeiten der ewig währenden Sowjetunion, in der Lage gewesen waren, in Reih und Glied zu marschieren. Hätte irgendein Eintrommler versucht, ihre Schritte auf Kurs zu bringen, hätte er sofort eine »leichte Körperverletzung« davongetragen. Zu »schwerer Körperverletzung« waren diese Leute absolut nicht imstande. Selbst wenn sich immer mal wieder einer, den sie erst kurz zuvor in ihren engsten Kreis aufgenommen hatten, in anderem, übertragenem Sinne als Eintrommler entpuppte. Der engste Kreis war erst in letzter Zeit wirklich sehr eng geworden. Früher, vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren, gehörten ihm noch mehr als fünfzig Leute an, und jedes Jahr wurde er Mitte September sogar bedeutend größer. Dann erweiterte er sich um Gleichgesinnte, die per Autostopp, Zug oder einfach zu Fuß anreisten.

Am Redemptoristenkloster des heiligen Alfons ging ein Mann mit etwas nervösen Schritten vorbei. Man konnte hören, dass er es eilig hatte. Er hastete durch die Samarstyniwska, die ihre steinerne Hand im Laufe der Zeit auch bis Brjuchowytschi hätte ausstrecken können, das aber aus irgendwelchen Gründen nicht getan hatte. Auf die Länge dieser Straße können die Pariser Boulevards heute noch neidisch sein, und würde man die Samarstyniwska in gleich große Stücke teilen und diese so anordnen, dass sie sich in der Mitte im rechten Winkel kreuzen, dann erhielte man eine vollwertige deutsche Kleinstadt mit einer reichen Geschichte. Es gibt nichts, was die Samarstyniwska in ihrem langen und immer noch andauernden Leben nicht gesehen [7] hätte. Straßen leben lange und überleben die Menschen, die von Generation zu Generation in ihnen wohnen. In der Samarstyniwska wurde immer viel gebetet, es wurden Wodka und Likör hergestellt und getrunken, im Filmarchiv des Bezirk-Filmverleihs wurden Filme aufbewahrt und im Schewtschenko-Kino auch gleich vorgeführt, es wurde erklärt, wie man Gärten anlegt und Gemüse zieht, es wurde Fahrunterricht erteilt und es wurden sogar kranke und verletzte Milizionäre behandelt. Das ist übrigens auch heute noch so. Man pflegt sie gesund oder hält in der Krankenhauskapelle einen Trauergottesdienst für diejenigen ab, die man nicht wiederherstellen konnte. Alles muss Regeln folgen, und jede Bewegung muss Anzeichen einer künftigen Vollendung aufweisen, wie auch jeder Satz, egal, wie viele Kommas er haben mag, mit einem Punkt, einem Doppelpunkt oder einem noch emotionaleren Satzzeichen enden muss.

Das nicht gerade ereignislose Leben des eiligen Fußgängers hatte sich vorwiegend am Ende der Samarstyniwska abgespielt, und er trug diese Straße immer in sich. Er spürte sie, wie ein guter Autofahrer, ohne eigens darauf zu achten, die Ausmaße seines Autos spürt und im Voraus weiß, durch welche Einfahrt es passt und durch welche nicht.

Ein breitkrempiger brauner Lederhut verdeckte das Gesicht des Mannes. Langes, schon ziemlich graues Haar, das bis zu den Schultern reichte, hing darunter hervor. Alle anderen Details sind unwichtig. Außer vielleicht die hohen, militärisch wirkenden, fest zugeschnürten Stiefel, zuverlässiges Schuhwerk aus heimischer Produktion, das seit fünfzig Jahren als »Scheißezerquetscher« bezeichnet wird. Die [8] Chinesen haben solche Stiefel nie produziert, ihnen wird dafür zu viel hochwertiges Hartgummi und zu viel grobes Leder benötigt. Nun werden diese Stiefel nur noch in Weißrussland und Transnistrien hergestellt. Aber auch in Lemberg gibt es noch ein paar Schuhmachermeister, die es nicht nur verstehen, eine große Nadel durch dickes Schweinsleder zu führen, sondern auch, Leder und Sohle fester miteinander zu verbinden, als es der Sowjetmacht in fast fünfzig Jahren mit der West- und der Ostukraine gelang. Am Klang der Schritte erkennen diese Könner, ob ein Schuster gepfuscht hat oder sein Handwerk versteht. Denn zwischen den Sohlen der beiden Stiefel muss eine Harmonie bestehen. Gerade in Lemberg mit seiner feinen Klangkultur ist das besonders wichtig. Der rechte Absatz darf nicht anders klingen als der linke! Beide Absätze müssen sich wie ein Paar anhören. Ein Paar, das den Weg liebt.

In der Hosentasche des Mannes klingelte das Handy.

»Alik, hast du noch weit?«, fragte die Stimme eines alten Freundes.

»Wir sind doch keine Deutschen und müssen uns nicht beeilen«, antwortete der Mann. »Wo bist du denn?«

»In der Lytschakiwska.«

»Alles klar«, sagte Alik. »Ich bin gleich da.«

Als Alik sich dem verschlossenen Tor des Lytschakiwski-Friedhofs näherte, kamen unter den Bäumen in der Nähe langsam etwa zehn Gestalten hervor. Sie umringten Alik, der den Schlüssel für das Friedhofstor aus der Tasche zog.

Er drehte den Schlüssel gerade im Schloss, als plötzlich hinter ihnen eilige Schritte zu hören waren. Alik wandte sich um und erblickte einen an die zwei Meter großen, ein [9] wenig gebückt gehenden Riesen. Seine langen grauen Haare schienen zu sagen: Ich gehöre zu euch.

»Labas vakaras«, wünschte er leise auf Litauisch einen guten Abend. »Entschuldigt, fast wäre ich zu spät gekommen!«

»Audrjus?!«, fragte Alik erstaunt und musterte den Riesen vom Scheitel bis zu den spitzen Schuhen. »Bist du mit dem Zug gekommen?«

»Ja, über Kiew.« Er nickte. Alle traten sie nacheinander zu Audrjus und umarmten ihn.

»Lange nicht gesehen«, sagte Alik, dann wandte er sich wieder zum Friedhofstor, drehte den Schlüssel um, und der Stahlbügel sprang aus dem Vorhängeschloss.

Sie gingen schweigend über den Friedhof. Auf der kleinen Anhöhe sahen sie sich um. Alik bedeutete den anderen, ihm zu folgen, und führte sie zwischen den Gräbern und schmiedeeisernen Grabumfriedungen hindurch. Bei einem Eisenkreuz, das wirkte, als hätte es sich vor den anderen Gräbern hinter dem Stamm eines alten Baumes und zwei hohen Büschen versteckt, blieben sie stehen. Die in die Jahre gekommenen Langhaarigen drängten sich um das unscheinbare Grab, das von keiner Umfriedung geschützt war. Das verrostete Schild in der Mitte des Kreuzes war unleserlich, man konnte weder den Vor- noch den Nachnamen des Verstorbenen entziffern. Einer der Männer kniete sich vor dem Kreuz an den Rand des Grabhügels und zog ein Tütchen aus der Tasche. Er öffnete es, stellte eine kleine Büchse mit weißer Farbe ins Gras und holte einen Pinsel hervor.

Sorgfältig schrieb er mit weißer Ölfarbe auf das Kreuz: »JIMI HENDRIX 1942 – 1970«.

[10] In der windlosen Stille knackte ein Ast irgendwo ganz in der Nähe. Alik lauschte angestrengt.

Wieder knackte es. Die Blätter auf dem Boden raschelten jämmerlich unter den Füßen eines herbeieilenden Unbekannten.

»Der Wächter?«, überlegte Alik.

Auf demselben Weg, den sie gekommen waren, die Gräber und Grabumfriedungen umgehend, näherte sich ihnen ein kleiner Mann mit Mütze. Ein ganz normaler Nicht-Hippie. Die um das Grab Versammelten sahen ihm gleichgültig entgegen. Neugier ist etwas für junge Leute, alle Anwesenden aber waren schon jenseits der fünfzig.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der ungebetene Gast laut und deutlich wie ein Nachrichtensprecher und wahrte einen höflichen Abstand. »Ich wollte schon lange… Ich wollte mit Ihnen reden…«

»Reden Sie«, meinte Alik ruhig.

»Erkennen Sie mich nicht?«, fragte der Mann und nahm die Mütze vom Kopf.

Trotz der Dunkelheit war das Gesicht des Neuankömmlings durch den Mond ausreichend beleuchtet. Alik sagte es dennoch nichts. Ein gewöhnliches Gesicht, wie es das Schicksal millionenfach hervorbrachte, mit Ohren, einer Nase und Augen. Als würde es der staatlichen Einheitsnorm entsprechen, ohne Makel und ohne einprägsame oder hervorstechende Eigenheiten.

Alik schüttelte den Kopf.

»Na so was.« Der Stimme des Mannes mit den kurzgeschnittenen Haaren war anzuhören, dass er gekränkt war. »Wir hatten einmal eng miteinander zu tun, wenn auch, [11] selbstverständlich, gegen Ihren Willen. Ich bin KGB-Hauptmann Rjabzew.«

»Du lieber Himmel«, entfuhr es Alik. Er kniff die Augen zusammen, sah aber dem unerwarteten Gast immer noch ins Gesicht. »Und was machen Sie hier, Herr Hauptmann? Sie müssen ja schon...