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Ein Russischer Roman

Meir Shalev

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257606041 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[5] 1

Eines Nachts im Sommer fuhr der altgediente Lehrer Jakob Pines aus dem Schlaf hoch. »Ich fick Liebersons Enkelin!« hatte jemand draußen gerufen.

Unverschämt, laut und klar stieg der Schrei zwischen den Kronen der Kanarischen Kiefern am Wasserturm empor, schwebte einen Augenblick raubvogelgleich auf der Stelle, ehe die Worte auf den Erdboden des Dorfes niederschossen. Ein schmerzlich wohlbekannter Schauder durchzuckte das Herz des alten Lehrers. Wieder einmal hatte nur er den abscheulichen Schrei gehört.

Lange Jahre war er nun schon emsig bemüht, Ritzen zu verstopfen, Risse zu flicken, beherzt in die Bresche zu springen. »Wie dieser holländische Junge da, den Finger im Schleusenloch«, pflegte er von sich zu sagen, sobald er wieder gegen eine neue Gefahr anstürmte. Fruchtfliegen, Staatslotterie, Rinderzecken, Anophelesmücken, Heuschreckenschwärme und Jazz bäumten sich wie schwarze Wogen um ihn auf, zerstoben an seinem Brustkorb, rannen in trüben Gischtfetzen an ihm herab.

Pines setzte sich im Bett auf und strich sich mit den Fingern übers Brusthaar, voll Wut und Verwunderung, daß das Dorfleben weiter seinen Gang ging, obwohl solche Unverschämtheit ihre häßliche Fratze in aller Öffentlichkeit zeigte.

Der ganze Moschaw schlummerte, wie die Leute der Jesreelebene sagen – Maultiere und Milchkühe in den Kuhställen, Legehennen im Hühnerhaus, die Menschen des Geistes und der körperlichen Arbeit in ihren bescheidenen Betten. Wie eine alte Maschine, deren Teile sich schon aufeinander eingeschliffen haben, war das Dorf nicht aus seiner nächtlichen Routine zu bringen. Euter füllten sich mit Milch, Trauben schwollen vor Saft, auf den Schultern der großen Kälber, die für den Transport [6] ins Schlachthaus bestimmt waren, wuchs erstklassiges Fleisch heran. Fleißige Bakterien, ›unsere einzelligen Freunde‹, wie der dankbare Pines sie im Unterricht nannte, mühten sich, die Wurzeln der Pflanzen mit frischem Stickstoff zu versorgen. Doch der alte Lehrer, ein umgänglicher Mann, der als Pädagoge für seine Geduld bekannt war, erlaubte niemandem, und gewiß nicht sich selber, auf den Lorbeeren des Erreichten auszuruhen. »Ich werde dich schon erwischen, Bürschchen«, murmelte er wütend und sprang schwerfällig aus dem Eisenbett. Mit bebenden Händen knöpfte er die alte Khakihose zu, schlüpfte in die schwarzen Arbeitsstiefel, die seinen Knöcheln Sicherheit verliehen, und zog in den Kampf. Seine Brille konnte er vor lauter Dunkelheit und Schreck nicht finden, aber das Mondlicht drang durch die Türritzen und wies ihm den Weg.

Draußen stolperte er über den Hügel eines Maulwurfs, der seiner subversiven Wühltätigkeit im Garten nachging, stand aber gleich wieder auf, wischte sich den Staub von den Knien, rief »Wer da? Wer da?« und lauschte angestrengt. Seine kurzsichtigen Augen durchbohrten die Dunkelheit vor sich, während sein großer weißhaariger Kopf eulenartig hin- und herschwenkte, als sitze er auf einer Achse.

Der unflätige Schrei kehrte nicht wieder. Wie immer, sagte er sich, er ruft nur einmal und nicht mehr.

Pines machte sich Sorgen. Die derben Worte waren ein klarer Aufruf, vom Weg abzuweichen, sich dem seichten Genuß hinzugeben, das Privatleben über alles zu stellen – kurz, ein eindeutiger Regelverstoß. Der alte Lehrer, der ›all unsere Kinder auf ein Leben des Glaubens und der Arbeit vorbereitet hat‹, mußte unwillkürlich an den großen Schokoladenraub denken, den einige seiner reiferen Schüler im Dorfladen verübt hatten, an Riva Margulis’ Kiste, die einst voll mit überflüssigen Versuchungen, ›allem möglichen Luxuskram‹ aus Rußland eingetroffen war und Genossen nebst Grundsätzen erschüttert hatte, und schließlich [7] an ›das teuflische Lachen der Hyäne, die damals – auch nur auf Hohn und Schaden bedacht – durch unsere Felder streunte‹.

Da ihm die heuchlerische Hyäne ausgerechnet jetzt einfiel, als er die Brille nicht auf der Nase hatte und halbblind umhertappte, verwandelte sich seine Sorge in Grauen. Ja er war beinah gelähmt vor jäher Angst.

Die besagte Hyäne hatte von Zeit zu Zeit die Dörfer heimgesucht – ein zur Verhetzung ausgesandter Bote aus den Welten, die sich jenseits der Weizenfelder und des blauen Gebirges erstreckten. In den vielen Jahren, die seit der Gründung des Dorfes vergangen waren, hatte der Lehrer ihr Hohngeheul mehrmals klar und schneidend aus dem Wadi emporklingen hören und war erschaudert.

Die Hyäne vermochte verheerenden Schaden anzurichten. Manchen der Gebissenen geriet der Arbeitsplan durcheinander; sie säten im Herbst die Hirse aus und beschnitten im Sommer die Reben. Anderen verwirrte sich der Verstand, sie begannen an der Sache zu zweifeln, nahmen nichts mehr ernst, ja gaben die Landarbeit sogar ganz auf – flüchteten in die Stadt, starben, verließen das Land.

Pines wußte vor Sorge nicht mehr ein und aus. Er hatte in seinem Leben schon genug Menschen vom Wege abkommen sehen – die geduckten Gestalten der Auswanderer am Hafen, die dürren Selbstmörder, die in ihren Gräbern ruhten –, war auch Abtrünnigen und Irrenden begegnet: »Diese parasitären Jerusalemer Talmudschüler, die sich von den Almosen der Diasporajuden ernähren, die Endzeitberechner aus Safed und jene kommunistischen Verführer, die Mitschurin und Lenin anhängen und die Arbeitslegion gespalten haben.« Lange Jahre nachdenklicher Prüfung hatten ihn gelehrt, wie leicht jemand aus der Bahn zu werfen war, der keine Widerstandskraft besaß.

»Vor allem wird sie Kinder angreifen, denn deren Weltanschauung ist noch nicht ausreichend gefestigt«, warnte er, wenn [8] man die Spuren des verächtlichen Geschöpfs bei den Bauernhäusern entdeckte. Die Schule müsse sofort unter Bewachung gestellt werden, forderte er. Nachts schloß er sich den bewaffneten Burschen, seinen ehemaligen Schülern, an, die auf die Felder hinauszogen, um den Unruhestifter zur Strecke zu bringen. Aber die Hyäne war schlau und wendig.

»Genau wie die übrigen Verräter, die wir gekannt haben«, sagte Pines auf der nächsten Dorfversammlung.

Als er eines Nachts draußen war, um Spitzmäuse und Laubfrösche für die naturkundliche Ecke in der Schule zu fangen, sah er die Hyäne die eingesäte Fläche jenseits der Mulde überqueren und mit dem leichtfüßig raumgreifenden Gang wilder Tiere auf ihn zukommen. Pines hielt inne, während das Tier seine orange funkelnden Augen auf ihn richtete und einen gurgelnden Lockruf ausstieß. Er sah die gesenkten großen Schultern, die schwellenden Kiefermuskeln, das getigerte Fell, das sich auf der gewölbten Wirbelsäule sträubte.

Die Hyäne beschleunigte ihren Gang, zertrampelte dabei zarte Platterbsensprossen, und bevor sie sich abwandte und von wandhohen Sorghumpflanzen verschluckt wurde, blickte sie den Pädagogen noch einmal verächtlich grinsend an, wobei sie geifernd die Zähne fletschte. Pines begriff ›das verächtliche Grinsen‹ erst jetzt, als er merkte, daß er das Gewehr vergessen hatte.

»Pines vergißt immer das Gewehr«, hatten die Bauern gesagt, sobald sie von der nächtlichen Begegnung erfuhren. Viele Jahre zuvor, kurz nach der Dorfgründung, war nämlich seine Frau Lea, mitsamt den zarten Zwillingstöchtern in ihrem Schoß, an Malaria gestorben, worauf Pines vor dem geliebten Leib, der, auch als er schon ruhig und kalt geworden war, noch grünen Schweiß ausschied, entflohen und auf das Akazienwäldchen im Wadi zugerannt war, in dem man sich seinerzeit das Leben nahm. Die ihm zur Rettung nachgeeilten Genossen fanden ihn [9] bitterlich schluchzend in den Golddisteln liegen. »Auch damals hat er das Gewehr vergessen.«

Jetzt, da in seinem bebenden Herzen die Erinnerung an das scheußliche Tier und an die tote Frau aufstieg – und an die bläulichen Embryos, die ›nicht gesündigt hatten‹ –, hörte Pines auf, ›wer da‹ zu rufen, kehrte in sein Zimmer zurück, fand seine Brille und eilte zu meinem Großvater.

Pines wußte, daß mein Großvater kaum je schlief. Er klopfte an die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. Als die Fliegengittertür gegen den Türrahmen schlug, wachte ich auf. Ich blickte zu Großvaters Bett hinüber. Wie immer war es leer, aber der Geruch seiner Zigarette wehte von der Küche herein.

Fünfzehn Jahre war ich damals alt. Die meisten davon hatte ich in Großvaters Baracke zugebracht. Seine Pflanzerhände hatten mich großgezogen. Seine Augen überwachten mein Wachsen und Tun, seine Lippen umwickelten mich mit dem dicken Raphiabast seiner Geschichten. ›Mirkins Waise‹ nannten sie mich im Dorf, doch Großvater, ein gutmütiger, eifriger und rächender Mann, sagte ›mein Kind‹ zu mir.

Alt und bleich war er. Als hätte er in der Kalkpaste gebadet, mit der er im Frühjahr die Stämme der Obstbäume bestrich. Von kleinem Wuchs, mit hervortretenden Adern, Schnurrbart und Glatze. Die Jahre hatten die Augen in ihre Höhlen zurücktreten lassen, bis sie nicht mehr glänzten. Nur zwei graue Nebelseen schimmerten dort.

In Sommernächten saß mein Großvater meist im verwaschenen Arbeitsunterhemd und kurzen blauen Hosen am Küchentisch, verströmte Rauchdunst und die süßen Düfte von Bäumen und Milch, ließ die von der Arbeit gekrümmten Beine baumeln und hing nachdenklich Erinnerungen und Unrecht nach. Stets schrieb er knappe Sätze auf Papierfetzen, die später wie ausschwärmende Kohlweißlinge durchs Zimmer stoben. [10] Unablässig harrte er der Wiederkehr derer, die er verloren hatte. »Daß sie vor meinen Augen zu Fleisch werden«, stand auf einem Zettelchen, das mir geradewegs in die Hände flatterte.

Seit ich nur sprechen konnte,...