dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Sternenflüge - Roman

Gregory Benford, Larry Niven

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641139209 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

2

Tananareve Bailey blickte zurück, mit müdem Gesicht; Schweiß tropfte von ihrer Nase. Niemand hinter ihr. Sie war die Letzte und konnte kaum mehr mit den anderen Schritt halten. Ihre Verletzungen waren einigermaßen geheilt, und sie hinkte nicht mehr, aber die Erschöpfung machte sich immer deutlicher bemerkbar und ließ sie langsamer werden. Das Atmen fiel ihr schwer, ihr Hals brannte, und sie kam um vor Durst.

Es lag ein sehr anstrengender Weg hinter ihnen, durch einen Bereich, den Tananareve in Gedanken »Hinterbühne« nannte. Hinter den Spiegeln der Schale erstreckte sich ein regelrechtes Labyrinth, nicht für Reisende, sondern allein für Arbeiter bestimmt. Einen Luxus wie gekennzeichnete Straßen gab es dort nicht, und fast überall herrschte Düsternis. Manchmal war zwischen den Aggregaten so wenig Platz, dass sie kriechen und sich durch schmale Lücken zwängen mussten. Diese Schicht unter der Schale bildete den größten Teil der gewaltigen Konstruktion und hatte einen Durchmesser von fast einer Astronomischen Einheit, war aber nur wenige Meter dick. Sie bestand aus Maschinen, Streben und Kabeln. Kontrolle und Steuerung der Spiegel weiter oben erforderten komplexe Installationen und Schwenkvorrichtungen. Der Weg durch dieses Chaos änderte immer wieder die Richtung, führte nach unten und oben, nach rechts und links.

Tananareve war schweißgebadet, und ihre Arme taten weh. Ihre Gefährten bewegten sich in der niedrigen Schwerkraft von achtzehn Prozent Erdnorm mit weiten Sprüngen, sofern der Platz es erlaubte. Tananareve hatte versucht, ihrem Beispiel zu folgen, was jedoch zu einem schmerzhaften Klicken in Hüfte und Rippen führte. Sie benutzte eine andere Methode, eine Art gleitendes Laufen, wobei sich nicht vermeiden ließ, dass sie gelegentlich gegen Hindernisse stieß und manchmal auch fiel.

Beth, Lau Pin, Mayra und Fred befanden sich vor ihr. Tananareve verharrte und hielt sich an einem Stützelement fest. Sie hätte eine Pause benötigt, um neue Kraft zu schöp fen, aber das kam unter den gegenwärtigen Umständen nicht infrage. Sie verschnaufte nur für einen Moment, schloss die Augen und entspannte sich, so gut es ging. Vergiss die Schale, dachte sie. Erinnere dich an …

… die Erde, die aromatische Luft ihrer Kindheit, die immergrünen Wälder, in denen sie mit ihren Eltern gewandert war. Sie glaubte, das eigene sorglose Lachen in einer Welt zu hören, die nur aus Bäumen zu bestehen schien. Ihr Herz war noch immer dort, im Boden jener Wälder, in den Stämmen der weit aufragenden Bäume, und gleichzeitig wusste sie, dass die Erde, an die sie sich erinnerte, gar nicht mehr existierte. Ihre Eltern waren seit Jahrhunderten tot, trotz der Langlebigkeitsbehandlungen. Dennoch hielt sie die Erinnerungen fest, als sie den Moment der Entspannung genoss.

Die wenigen Sekunden des Friedens verstrichen viel zu schnell. Tananareve wusste, dass sie nicht innehalten durfte. Sie musste die Flucht fortsetzen, schob die Erinnerungen beiseite und öffnete die Augen.

Im schwachen Licht konnte sie die fünf Fingerschlangen vor ihren Gefährten kaum erkennen. Sie wanden sich erstaunlich schnell und waren vermutlich durch evolutionäre Entwicklung an die Aufgabe angepasst, im Gerüst der Schale Reparaturen vorzunehmen. Beth hatte das eine oder andere über die Geschichte der Schlangen herausgefunden, ohne sicher sein zu können, alles richtig übersetzt zu haben. Sie befanden sich schon so lange in der Schalenwelt, dass ihr Ursprungsplanet zu einer Legende geworden war, einem seltsamen, mythischen Ort, zu einer Welt, die um eine weiße Sonne kreiste und auf der es Nachtphasen gab.

»Beth«, sendete Tananareve über Kurzstreckenfunk. »Ich bin ziemlich erledigt … Ich brauche eine Ruhepause.«

»Wir sind alle erschöpft«, lautete die Antwort. Weiter vorn drehte sich Beth um und blickte zurück. Sie war so weit entfernt, dass Tananareve ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte. »Nächste Pause in fünf Minuten.«

»Bin gleich bei euch.« Tananareve biss die Zähne zusammen und setzte sich wieder in Bewegung.

Sie wollten zu einer automatischen Frachtdrohne. Die Schlangen hatten davon erzählt, und die Stützen und Streben, an denen sie jetzt vorbeikamen, waren nach vorn geneigt, was bedeutete, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Tananareve glaubte, die Drohne bereits zu sehen, in einer Reihe aus gleichförmigen Zylindern. An der Seite bemerkte sie eine große gewölbte Luke und … Sterne hinter einem Fenster. Ja, es waren tatsächlich Sterne! Freude stieg in ihr auf und verdrängte einen Teil der Erschöpfung. Inzwischen kam sie wegen der Hüftverletzung nur noch wie in Zeitlupe voran.

Ohne die Fingerschlangen wäre dieser Plan unmöglich gewesen.

Tananareve schloss zu den anderen auf und konnte es kaum abwarten, endlich etwas zu trinken. Die drei Schlangen trugen Tarnfarben, Brauntöne und geflecktes Schwarz. Die Muster ähnelten sich sehr, doch Tananareve hatte inzwischen gelernt, sie auseinanderzuhalten. Ihre Masse war etwas größer als die eines Menschen, und sie sahen aus wie Schlangen, aus deren Ende vier Arme wuchsen, jeder mit einer Kralle versehen. Muskulöse, kräftige Geschöpfe, mit glatter Haut und ausgestattet mit Rucksäcken in Form von Stoffröhren.

Beths Gruppe hatte Fingerschlangen zum ersten Mal bei der Flucht aus dem Garten gesehen, in dem sie gefangen gewesen waren. Tananareve war auf ein Nest von ihnen gestoßen, woraufhin sie geschwind fortgekrochen waren, mit »Gepäck«, das sie in einer Schlinge hinter sich herzogen. Seltsame Geschöpfe, offenbar mit einer gewissen Intelligenz ausgestattet. Tananareve hatte die Gelegenheit genutzt, einige faszinierende Fotos von ihnen zu machen.

Inzwischen war klar: Die Fingerschlangen hatten die Menschen offenbar schon eine ganze Weile beobachtet, vermutlich seit der ersten Begegnung. Als Fred ihre Gruppe zu einer fremden Computerstation geführt hatte, war von den schlangenartigen Geschöpfen nichts zu sehen gewesen. Fred hatte den Computer dazu gebracht, ihnen die Sprache der Vogel-Leute beizubringen. Sprachen gehörten zu Freds vielen Talenten – er lernte sehr schnell. In weniger als einem Tag begriff er die quasilineare Logik und Syntax, und als er sich einen gewissen Grundwortschatz angeeignet hatte, machte sein Lernen noch schnellere Fortschritte. Einige weitere Tage, und er beherrschte die neue Sprache fließend. Sie alle waren mit Schlaflernern ausgestattet, und die anderen nutzten Freds Daten, um ebenfalls Kenntnisse der Schlangensprache zu gewinnen.

Die Wesen erschienen einfach, ohne irgendeine Vorankündigung. Typisch für Schlangen – agieren, sich nicht mit Symbolen oder Gerede aufhalten. Als die Fingerschlangen durch die Tür krochen und irgendwie Lau Pins Schloss überlisteten, richtete Fred einen Gruß an sie, mehr nicht. Auch er war nicht besonders gesprächig – er redete nur, wenn es um etwas Wichtiges ging, wie er oft betonte.

Nach dem Gruß und einer Antwort in Schlangen-Sprache rief Tananareve den Besuchern zu: »Ehre euch! Wir haben uns verirrt!«

Fünf Schlangen formten einen Ring, ein Zeichen für »beginnendes erfolgreiches Bestreben«. Tananareve bewegte die Hand auf eine Weise, die der Schlaflerner sie gelehrt hatte, was die Fingerschlangen zu einem weiteren Symbol veranlasste. Anschließend ging das Schlangenprotokoll von Gesten und Zeichen in den komplexeren Bereich der Sprache über. Zum Glück bestand die höchste Form der Schlangen-Sprache aus einer abgewandelten Version der Sprache, mit der sich die Vogel-Leute verständigten, eine Subform, die Silben verkürzte und Begriffen wie dünn und sehnig besondere Bedeutung beimaß.

Die Fingerschlangen schienen Rebellen zu sein, wenn Tananareve den Zusammenhang richtig verstand. Und sie waren neugierig. Nie zuvor hatten sie Menschen gesehen und deshalb begonnen, ihnen zu folgen, um mehr über sie herauszufinden. Die Schlangenwesen arbeiteten für andere, legten aber großen Wert auf ihre Unabhängigkeit. Wissen war ihre starke Seite, und die Fähigkeit, Werkzeuge von besonderer Form herzustellen und zu benutzen. Sie besuchten alle Bereiche der Schalenwelt, erzählten sie, und gingen technischen Aufgaben nach. Vor allem warteten sie die nur wenige Meter dicke Schicht zwischen Lebenszone und Außenhülle. In gewisser Weise gewährleisteten sie die Stabilität der dünnen Barriere, die viele Milliarden Lebewesen vor dem tödlichen Vakuum des Alls schützte.

Die Schlangen wollten möglichst viel über die Menschen erfahren und stellten entsprechende Fragen. Mit der grundsätzlichen Struktur des humanoiden Körpers waren sie einigermaßen vertraut, vielleicht deshalb, weil sie spitz zulaufende »Arme« hatten, die von etwas ausgingen, das einer menschlichen Schulter ähnelte. Darüber sprachen sie, und über tausend andere Dinge, die miteinander nicht in Zusammenhang standen. Schlangen dachten seltsam. Kultur, Biologie, Gesang, Nahrung – alles schien in einem großen Kontext-Knäuel zusammengefasst zu sein, in dem sich kaum ein Sinn erkennen ließ. Doch wenn ihnen etwas wichtig erschien,...