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Juja - Roman

Nino Haratischwili

 

Verlag Verbrecher Verlag, 2014

ISBN 9783957320643 , 300 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

TEIL 1


1. DIE EISZEIT / BUCH 1 (1953)


»Ich war ein EMBRYO und wusste alles. Ich wurde ins Leben gepresst und vergaß mein Wissen. Ich wurde ins Leben gefickt. Man entnahm mir mein Wissen. Ich will Rache.

Ich war viel. Ich kannte die acht Seiten des Mondes. Ich habe im Hades alle Toten umarmt. Ich habe alle Gesichter gehabt.

Ich gehe und gehe und wachse und dies ist mein Mord. Jeder Schritt – eine Tortur, da niemals Frieden, da niemals Stille, da niemals Ich. Ich war ein EMBRYO und wusste alles und dann wurde ich gefressen, durch das blutende Geschlecht und durch viel Geschrei. Ich vergaß mein Wissen.

Alle Bäume entflammten, als ich fortschritt, alle Häuser stürzten ein und alle Augen verfinsterten sich. Mich berührte nichts. Das Nomadenland wurde zu meinem Bett.

Dann ward ich zum Staub und wurde vergewaltigt, auf der Wiese, alles Lebendige unter mich begrabend.

Dann schritt ich durch alle Gewässer der Welt, flog über alle Kirchenspitzen und Altäre, ich schrie dabei. Keiner hörte mich. Ich wurde stumm. Ein stummes Staubkorn.

Die Welt krachte ein und ich wurde unter ihr begraben. Ich will wieder ein EMBRYO sein. Im Blut wachsend und Allwissend.

Ich wollte nach Hause. Doch es gab ein Erdbeben, die Erde machte einen starken Stoß, dann übergab sie sich.

Ich wollte mit Gott reden, der dabei gewesen war, als man mich ins Leben fickte. Aber er kam nicht und so sagte ich – jetzt wird alles einerlei: Ich stifte den Wahnsinn, um danach zu meinem Achill in den Hades zu gehen. Ich entziehe ihn allen Frauen und dann werde ich in seinen toten Armen einschlafen und selbst zu Eis werden.

Und in 13.090.090.300 Jahren taue ich auf. Und mein Glück kommt.

Das beschloss ich und überquerte die Wüste, die aussah wie ein leerer Schädel. Und ich kroch weiter mit meinen Skorpionen, die ich streichelte und die ich nachts, in der Einsamkeit der Nächte, briet und verschlang. Ihr Gift machte mich stark und ich ging weiter. Ich schrieb Achill Briefe in den Sand. Ich bahnte den Weg für uns zwei.

Doch liebte ich, um zu wissen, wie absolut sinnlos die Liebe war.

Und so sprach ich zu meinen Eidechsen und Schlangen: ›Ich kann nicht eure Eva sein. Sie starb, da sie die Rippe des Mannes nicht in sich behalten wollte. Sie ging fort und wurde zum Asketen und lebte 999 Jahre im Reich der Stille und ihr Mann vergewaltigte die Bäume und aus seinem Samen entstanden noch mehr Söhne … Er wurde verrückt und als die Söhne begannen, sich zu bekämpfen, brachte er sich um. Er vermisste seine Eva. So traurig.‹ Und meine Schlangen nickten mir zu und weinten mit mir.

›Und was wurde aus Eva?‹, fragte die rote Eidechse mit der alten Haut und dem verhurten Leben.

›Tja, sie lebte in der Abgeschiedenheit, weinte nachts, weil sie alleine war, und dann kam sie zurück und sah ihren toten Mann und ihre vielen Söhne, die sie nie geboren hatte und sie alle nahmen sie zur Frau und sie weinte und fragte Gott: Warum wirfst du mir die Sünde vor, wenn du mich zur Einzigen machtest und wusstest, meine Söhne würden mich besteigen? Sie weinte und weinte und schließlich erhängte sie sich am eigenen Haar.‹

Die Eidechse, die mich zu lieben begann, streichelte meine Stirn und schluchzte leise auf.

Später erzählte sie mir, sie hätte gehurt und gesündigt und hätte ihr Leben lang ein Stadtschildkrötenmännchen geliebt. Doch es war durch die Menschen überzüchtet und hätte sie nicht beachtet und dann hätte sie zu allem Nein gesagt und wäre fort und lebe seitdem so, in dieser Stille. Ich umarmte sie und trank die Milch der Bäume und wurde schön.

Der Sand schlief mit mir jede Nacht, da ich so schön geworden war.

Ich sah meine Eidechse nie wieder, sie hatte mich zu Gewässern gebracht und hatte mir gewunken und ich war fast gerührt gewesen. Ich wusste nicht weiter und verfiel in einen Traum von einem Traum und erwachte und war allein. Dies war furchtbar. Dann kam Ophelia zu mir und küsste mir die Brüste und sagte: ›Geh ins Kloster, geh ins Kloster!‹

Ich aber sagte, ich wolle nur ins Nichts, müsse aber erst Alles passieren. Sie sagte, es gäbe kein Nichts und ich jagte sie fort.

Dann flog ich über die Gewässer, ich bestach den Wind und entblößte mich, verkaufte mich und schließlich unterschrieb er meinen Pakt und nahm mich mit. Ich erzählte ihm, einst ein EMBRYO gewesen zu sein und er schaute mich mit düsteren Augen an und sagte: Wie schade, dass du jetzt ein MENSCH bist.

Ruhig und dunkel war mein neues Nomadenland, in dem er mich absetzte. Ein Schloss stand in der Ferne und ich ging dahin. Ich wollte essen und baden. Das Schloss war jedoch leer und düster, und Spinnen und alte Männer lebten dort. Sie ließen mich ein, schwiegen mich an und gaben mir eine Brühe. Ich aß und schwieg und vermisste meine Eidechse, die ich Danaida nannte.

Die Männer sagten, sie wären hier, weil sie Verbrecher seien. Ich streichelte ihre alte Haut und ekelte mich, doch sie taten mir leid. Ich sagte, dass ich ihnen vielleicht vergeben könne und dass sie frei seien. Sie lachten mich aus und bespuckten mich und nannten mich Gotteslästerin, die Reue sei doch der einzige Grund, warum sie noch am Leben seien. Und so flog ich raus, nachts, auf die Straße, die ins Nirgendwo führte und schrie und schrie so laut, dass das ganze Schloss in Flammen aufging und ich war glücklich. Für wenige Sekunden war ich das.

Ich ging weiter und kam zu den Menschen. Zu den Städten und den Monstern, die in den Städten hausten. Kam zu den Hunden, die hungrig rumlungerten und mir die Füße leckten, da ich ihnen Liebeswörter zuflüsterte. Ich kam zu den Menschen …

Ophelia flüsterte mir weiterhin zu, mich verhöhnend: ›Du irrst dich …‹«

Sie schritt durch die Rue de la Grande-Chaumière. Sie hatte kurze, nein, lange Haare, dunkelbraun und spröde. Sie trug einen Männermantel und war blass, sehr blass. So musste sie sein. Zerbissene Lippen hatte sie und spitze, kleine Zähne. Sie war mager und hatte wundgeriebene Brustwarzen, die beim Gehen schmerzten. Sie schritt mit einer Stofftasche um die Schulter und offenen, wässrigen Augen, die stur vor sich hinschauten. Ihre Fingernägel – rosa und abgekaut. Die Nase spitz und errötet, vielleicht war sie erkältet und schlaflos. Sicher war sie das.

Sie blieb vor einem Schaufenster stehen, da stand eine Puppe in einem Hochzeitskleid. Sie blickte auf die Puppe, schaute ihr in die Augen und wollte sie erwürgen. Dann sah sie ihr Spiegelbild und schlug mit dem Gesicht gegen die Fensterscheibe, das Glas war stärker als sie, nichts passierte, nur ihre Nase begann zu bluten. Eine alte Dame hinter dem Fenster schrie kurz auf und sie rannte davon. Sie wischte mit dem Ärmel im Blut, verschmierte es am Kinn und dann ließ sie es sein.

Sie war siebzehn. Sie hatte gerade den Eros entdeckt, der sie manchmal in ihrem Zimmer besuchte und mit ihr Schach spielte, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Er war blond und winzig, warm und rosa, und sie mochte ihn.

Plötzlich musste sie lachen. Ihre Augen, grau und leer, lachten auf. Ja, die Augen … Sie müssten grau sein und sehr klar und irgendwie tot, doch schön und hässlich zugleich. So müssten sie sein.

Sie blieb kurz stehen, sie war schnell gelaufen und machte jetzt halt. Suchte in ihrer Tasche nach Tabak und fand ihn, drehte sich eine Zigarette und suchte ein Streichholz. Fand keins und fragte ein Mädchen danach, das an ihr vorbeiging. Das Mädchen schaute sie etwas erstaunt an, dann überlegte sie und sagte: »Moment.« Sie wühlte in ihrer kleinen, grünen Damentasche und holte eine Streichholzschachtel hervor. Auf der Schachtel war ein Werbebild für ein Hotel irgendwo in der Provence.

»Sie haben Urlaub gemacht?«

»Wie bitte?«

»Diese Streichhölzer …«

Das Mädchen war hübsch. Sie hätte gern gewusst, ob das Mädchen mit einem Liebhaber oder noch mit ihren Eltern dagewesen war. Und außerdem schien sie Geld zu haben.

»Ach, ja, das ist aber lange her …«

Sie verzögerte das Spiel. Es machte Spaß. Aus dem Mädchen würde eines Tages eine schöne Dame werden mit einem Schoßhündchen und einer Garage mit automatischem Tor.

»Ich war noch nie in der Provence. Ist es schön dort?«

»Ja, sehr schön …«

Sie schien irritiert, aber nicht abgeneigt, also neugierig, also konnte es was werden. Bei solchen funktionierte der direkte Angriff am Besten.

»Hier in der Nähe ist die ›Crèmerie‹, ein nettes Lokal. Würdest du mir eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen spendieren? Ich würde dir dann eine schöne Geschichte erzählen.«

Die junge Frau starrte sie erschrocken an. Jetzt schien sie das Blut zu bemerken.

»Ich...