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Ring - Roman

Stephen Baxter

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641151621

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

2LOUISE YE ARMONK stand auf dem Oberdeck der SS Great Britain. Von dort aus konnte sie Brunels stolzes Dampfschiff in seiner ganzen Länge überblicken: das polierte Deck, die Bullaugen, die filigranen Masten mit ihrer Takelage aus Drahtschleifen, den einzelnen dicken Schornstein mittschiffs.

Und über der glühenden Kuppel, die sich über das alte Schiff wölbte, hing der Himmel des Sonnensystems wie ein großer, leerer Raum.

Louise fühlte sich noch immer etwas beschwipst – Katerstimmung – von der Orbitalparty, die sie vor ein paar Minuten verlassen hatte. Sie subvokalisierte einen Befehl, der Nanobots zu einer Säuberungsaktion durch ihren Blutkreislauf schickte. Sie wurde schnell nüchtern, mit einem kurzen Zittern.

Mark Bassett Friar Armonk Wu – Louises Ex-Mann – hielt sich in ihrer Nähe auf. Sie hatten die Great Northern, auf der die Party noch in vollem Gange war, verlassen und waren in einer kleinen Fähre zur Oberfläche von Port Sol geflogen. Mark trug eine pastellfarbene Springerkombi; sein Hals legte sich in lange und distinguierte Falten, als er den Kopf drehte, um das alte Schiff zu sondieren.

Louise war froh, dass sie allein waren, dass ihnen keiner der prospektiven interstellaren Kolonisten der Northern zu diesem Außenposten von Sol gefolgt war und dass sie die letzten paar Augenblicke auf diesem Fragment der Vergangenheit der Erde Rückschau halten konnten – obwohl es ohnehin zum Teil dieser Rückblick war, der Louise dazu veranlasst hatte, das alte Schiff diesen Ort ansteuern zu lassen.

Mark berührte sie am Arm; selbst durch das dünne Gewebe ihres Ärmels fühlte sich seine Hand warm und lebendig an. »Du bist nicht glücklich, nicht wahr? Sogar in einem Moment wie diesem. Deinem größten Triumph.«

Sie studierte sein Gesicht und versuchte seine Gedanken zu ergründen. Er war kahlgeschoren, so dass sich die Konturen des aristokratischen, fragilen Schädels durch die dunkle Haut abzeichneten; er hatte eine kühne Nase, schmale Lippen, und seine blauen Augen – die aus diesem dunklen Gesicht hervorstachen – wurden von einem Netz aus Fältchen umgeben. Er hatte ihr einmal gesagt, dass er daran dachte, sich diese Fältchen entfernen zu lassen – das wäre im Rahmen einer AS-Auffrischung überhaupt kein Problem gewesen –, aber sie hatte sich dagegen ausgesprochen. Nicht, dass es ihr allzu viel ausgemacht hätte, aber dadurch wäre diesem eleganten Gesicht der größte Teil seines Charakters abhanden gekommen – der Großteil der Patina der Zeit, wie sie es nannte.

»Ich habe nie deinen Gesichtsausdruck enträtseln können«, meinte sie dann. »Vielleicht sind wir deshalb gescheitert.«

Er lachte unbekümmert, wobei noch ein letzter Rest Trunkenheit in seiner Stimme mitschwang. »Oh, komm schon. Wir waren zwanzig Jahre zusammen. Wir sind nicht gescheitert.«

»Bei einer Lebenserwartung von zweihundert Jahren?« Sie schüttelte den Kopf. »Schau. Du hast mich nach meinen Gefühlen gefragt. Jeder, der dich – uns – nicht kannte, musste glauben, dass wir zusammengehören. Warum also habe ich nur den Eindruck, dass du dich, in einem Winkel deines Kopfes, über mich lustig machst?«

Mark zog die Hand von ihrem Arm zurück, und sie konnte beinahe sehen, wie er die Jalousien hinter seinen Augen herunterließ. »Weil du eine launische, verdrießliche, trampelige – oh, zum Teufel damit!«

»Wie dem auch sei, du hast recht«, konzedierte Louise dann.

»Wie?«

»Ich bin nicht glücklich. Obwohl ich dir im Grunde gar nicht sagen kann, warum.«

Mark lächelte; das indirekte Licht der Kuppel der Britain ließ die Fältchen um seine Augen verschwinden. »Nun, wenn wir wenigstens einmal aufrichtig zueinander sind, genieße ich es tatsächlich irgendwie, dich leiden zu sehen. Nur ein bisschen. Aber du tust mir auch leid. Komm, gehen wir ein Stück.«

Erneut ergriff er ihren Arm, und sie gingen an der Steuerbordseite des Schiffes entlang. Die Sohlen ihrer Schuhe gaben leise Schmatzgeräusche von sich, als die simplen Prozessoren der Schuhe den Sohlen Bodenhaftung auf dem Deck verschafften und die Mikrogravitation von Port Sol unmerklich verstärkten. Die Schuhe funktionierten fast perfekt; Louise stolperte nur ein paar Mal.

Das Schiff wurde von einer Kuppel aus sensitivem Glas überwölbt, und über der Kuppel – über der Quelle des indirekten Lichts, in das der Liner getaucht war – erstreckte sich die Landschaft von Port Sol bis zum stark gekrümmten Horizont. Port Sol war eine hundertsechzig Kilometer durchmessende Kugel aus porösem Fels und Eis, mit Spuren von Wasserstoff, Helium und einigen Kohlenwasserstoffen. Es war wie ein großer Kometenkern. Die konturenlose Landschaft von Port Sol wurde von ätherischen Gespinsten überzogen: Skulpturen, die von Kräften der Natur aus dem alten Eis gemeißelt worden waren, die ihrerseits aufgrund der immensen Entfernung von der Sonne extrem langsam abliefen.

Port Sol war ein Kuiper-Objekt. Mit zahllosen Satelliten umkreiste es jenseits der Plutobahn die Sonne, wobei es dort durch die Interferenzen der Gravitationsfelder der großen Planeten geführt wurde.

Louise schaute zur Great Britain zurück. Sogar vor dem unwirklichen Hintergrund von Port Sol vermittelte Brunels Schiff ihr noch einen Eindruck von Leichtigkeit, Grazie und Eleganz. Sie erinnerte sich, wie sie das Schiff im Trockendock auf der Erde besichtigt hatte; jetzt, als sie schielend die Augen zusammenkniff und die Form des Schiffes ausmachen wollte – das platonische Ideal des Eisens, das der arme alte Isambard ans Licht bringen wollte. Das Schiff bestand aus dreitausend Tonnen Eisen und Holz, aber mit seinen schlanken, klaren Kurven und filigranen Details wirkte es wie ein Phantasiegebilde. Louise dachte an die vergoldeten Dekorationen, das um das Heck herumgezogene Wappen und die schlichten, in den Bug gefrästen markanten Symbole der viktorianischen Industrie: die Taurolle, die Zahnräder, das Zeichendreieck, die Weizengarbe. Man konnte sich kaum vorstellen, dass ein so zerbrechliches Schiff den Stürmen des Atlantiks gewachsen war …

Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute hoch zu dem hellen Stern im Steinbock, der Sonne, die fünf Milliarden Kilometer entfernt war. Sicherlich hätte sich nicht einmal ein Visionär wie der alte Isambard vorstellen können, dass sein erstes großes Schiff auf seiner letzten Reise ein derart riesiges Meer befahren würde.

Mark und Louise stiegen mittschiffs einen steilen Niedergang zum Promenadendeck hinab; sie flanierten über das Deck, an Reihen winziger Kabinen vorbei zum Schott des Maschinenraums. Beim Vorbeigehen fuhr Mark mit einem Finger über die Oberfläche einer Kabinenwand. Er runzelte die Stirn und rieb die Fingerspitzen aneinander. »Das Material fühlt sich komisch an … gar nicht wie Holz.«

»Es ist konserviert. Unter einer dünnen Haut aus sensitivem Kunststoff, der es versiegelt und pflegt … Mark, das verdammte Schiff ist 1843 vom Stapel gelaufen. Vor über zweitausend Jahren. Ohne Konservierung würde nicht mehr viel von ihm übrig sein. Außerdem hatte ich gedacht, dass du dich sowieso nicht dafür interessierst.«

Er schniefte. »Stimmt auch. Ich interessiere mich nämlich eher dafür, warum du hierher kommen wolltest: Gerade jetzt, inmitten der ganzen Feierlichkeiten anlässlich der Fertigstellung des Raumschiffs.«

»Ich wollte eine Innenansicht vermeiden«, erklärte sie schwer atmend.

»Ja, sicher.« Er wandte sich ihr zu, wobei sein Gesicht vom sanften Glühen des antiken Holzes angestrahlt wurde. »Sprich mit mir, Louise. Der Teil von mir, der dich mag, ist stärker als der Teil, der dich gerne leiden sieht, jedenfalls im Moment.«

Sie zuckte die Achseln. Sie konnte eine gewisse Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Sag bloß. Du hast es ja schon immer verstanden, meinen Seelenzustand zu diagnostizieren. In aller Ausführlichkeit. Vielleicht bin ich nach dem Abschluss meiner Arbeit auf der Northern jetzt etwas melancholisch. Was meinst du, wäre das möglich? Vielleicht durchlebe ich aber auch gerade das Äquivalent einer post-koitalen Depression.«

Er schnaubte. »Mit dir war es eigentlich immer nur post, prä und während. Nein, ich glaube nicht, dass es daran liegt … Und außerdem«, versetzte er nachdrücklich, »ist deine Arbeit auf der Northern noch gar nicht beendet. Du planst doch, mit ihr abzufliegen. Richtig? Du willst etliche Relativjahrzehnte damit verbringen, sie nach Tau Ceti zu bringen.«

»Wie hast du denn das herausgefunden?«, grummelte sie. »Kein Wunder, dass du mich all die Jahre schier verrückt gemacht hast. Du interessierst dich verdammt zuviel für mich.«

»Ich habe recht, stimmt’s?«

Sie betraten den Speisesaal der Britain. Er war ein phantastischer viktorianischer Traum. Zwölf weiße und goldene Säulen mit verzierten Kapitellen markierten den Mittelgang, und an den Seiten wurde der Raum von jeweils zwölf weiteren Säulen begrenzt. Zwischen den Säulen gingen Türen zu Gängen und Kabinen ab, und die Türbögen waren vergoldet und von Medaillonköpfen gekrönt. Die Wände waren in einem Zitronengelb gehalten, das von Blau, Weiß und Gold unterbrochen wurde; allgegenwärtiges, indirektes Licht wurde vom Besteck und den Gläsern auf den drei langen Tafeln reflektiert.

Mark ging über den Teppich und fuhr mit der Hand über eine glänzende, polierte Tischplatte. »Du solltest dich mal um diesen semisensitiven Kunststoff kümmern: modifiziere ihn so,...