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Ist so kalt der Winter - Nordsee-Krimi

Nina Ohlandt

 

Verlag beTHRILLED, 2014

ISBN 9783732501236 , 115 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Im Hexenhaus


Sie nahmen den Weg über die Terrasse der Benthiens, die der Seeseite zugewandt war. Von hier aus war das kleine Nachbarhaus bereits zu sehen. Ein Trampelpfad durch die Dünen, den John als Kind oft gegangen war, führte zur Hintertür von Frau Jansens Haus. Hier oben im Listland, im Ostteil der Insel, war fast jede Düne von einem Friesenhaus gekrönt; wie ein wogendes graues Meer, mit den Reetdächern als Wellenkämme, brandeten sie gegen jenes andere, weit gefährlichere Meer, das zwischen Sylt und der dänischen Küste lag, an. An diesem stillen Nachmittag schickte es jedoch nur kleine, harmlose Wellen an den Strand.

Frau Jansens Haus auf der Nachbardüne war alt und winzig und hatte Benthien als Kind mit seinem tiefgezogenen Reetdach an ein Hexenhäuschen erinnert. Als kleiner Junge war er ein paarmal im Haus gewesen, als noch andere Leute dort gewohnt und er mit den Nachbarskindern gespielt hatte.

Damals erklangen immer Lärm und Lachen aus dem Haus, doch als sie es nun betraten, war es totenstill – bis auf eine alte Standuhr, die in der engen Diele tickte.

Die beiden Räume im Erdgeschoss waren liebevoll und gemütlich nach der Art älterer Damen eingerichtet; mit dicken Perserteppichen auf den Böden, bezogenen Lampenschirmen, Ölbildern an den Wänden und einem bisschen Kram und Nippes auf den blankpolierten Möbeln. Auf dem Tisch stand ein Adventskranz, und nach Wald duftende, frische Tannenzweige waren im Zimmer auf Vasen verteilt und mit goldenem und rotem Weihnachtsschmuck liebevoll dekoriert worden. Am Fenster hing ein großer, gelber Weihnachtsstern, und auf einem Weihnachtsteller warteten selbst gemachte Zimtsterne, Vanillekipferl, Walnusskugeln und Spekulatius auf eine Schar fröhlicher Naschkatzen.

Ein paar Bücher, in denen sie wohl gerade las, lagen auf kleinen Tischchen herum. In der blitzblanken Küche stand ein prächtiger, noch nicht ganz erkalteter Schokoladenkuchen auf einem Kuchenteller mit weiß-blauem Friesenmuster. Es duftete nach warmer Milch, Backpulver, Vanille und Zimt.

Neben der Küche lag das Badezimmer. Die Badewanne war bis kurz vorm Rand mit Wasser und Schaum gefüllt, und unter dem Schaum schimmerte etwas Rotes. Benthien langte hinein und holte den ertrunkenen Weihnachtsmann herauf, eine ziemlich schlappe Figur, ungefähr 60 Zentimeter groß, mit Mütze, Bart, rotem Rock und einem Geschenkesack auf dem Rücken. Solche Weihnachtsmänner sah man in der Weihnachtszeit oft an Balkonen oder Hausfassaden hochklettern. In eine Badewanne gehörte er mit Sicherheit nicht.

„Ich hänge ihn jedes Jahr an Weihnachten zur Dekoration an mein Bücherregal“, sagte Frau Jansen bekümmert. Sie lächelte ihn schüchtern an. „Dann merke ich wenigstens, dass Weihnachten ist.“

Benthien versuchte, das rote Gewand ein bisschen auszudrücken, dabei fiel sein Blick auf den Spiegel. Die alte Frau, die seinem Blick gefolgt war, keuchte entsetzt. Auf dem Spiegel stand in großen roten Buchstaben: Stille Nacht, tödliche Nacht, liebe Annelie. Daneben ein Kreuz, wie man es in Todesanzeigen oft abgedruckt sieht.

Benthiens erster Gedanke war, ob hier nicht jemand „Versteckte Kamera“ mit ihm spielte. Tommy Fitzen vielleicht? Zu dessen abstrusen Sinn für Humor würde eine solche Inszenierung durchaus passen. Sein zweiter Gedanke war, dass so was höchstens in Büchern vorkam oder in einem Fernsehkrimi, aber nicht im wirklichen Leben.

„Wer tut so etwas?“, fragte die alte Frau mit zitternden Lippen, und Benthien begriff, dass sie die Sache nicht als einen üblen Scherz aufnahm und sich tatsächlich fürchtete. Sie war bleich vor Angst.

„Darf ich mich in Ihrem Haus ein bisschen umsehen, Frau Jansen?“

„Ja, bitte, tun Sie das“, flüsterte Annelie. „Aber ich komme mit. Ich will hier unten nicht allein bleiben.“

Sie stiegen die Treppen hinauf ins obere Stockwerk, in dem es zwei kleine Schlafzimmer und eine Toilette gab. Auch hier war alles liebevoll weihnachtlich geschmückt, und ein Duft nach Harz und Tannennadeln zog durch die Räume. Ansonsten schien nichts ungewöhnlich zu sein, was die alte Dame auch bestätigte. Dennoch schaute sie ängstlich um sich und hielt sich dicht hinter Benthien, der sie um eineinhalb Köpfe überragte und hinter dessen sportlichen Rücken sie sich offenbar sicher fühlte.

„Haben Sie eigentlich eine Waffe dabei?“

Benthien drehte sich um und lächelte. „Nein. Die ist in Flensburg, sicher verwahrt im Büro. Aber eine Waffe brauchen wir nicht, Frau Jansen. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Was rede ich hier für einen Blödsinn, dachte er gleich darauf ärgerlich. Jemand war schließlich im Haus gewesen und hatte nicht nur den Weihnachtsmann ertränkt, sondern auch eine Art Drohung an den Spiegel geschmiert. Wahrscheinlich nur ein Dummejungenstreich, aber die Sorgen der alten Frau sollte er wohl doch etwas ernster nehmen.

„Könnten Sie nicht einfach Annelie zu mir sagen?“, fragte sie mit ihrem schüchternen Lächeln. „Wir sind doch Nachbarn, und …“

„Aber gern. Ich heiße John. Wird zwar geschrieben wie der amerikanische Westernheld, aber Joon gesprochen.“

„Ich weiß.“ Sie schüttelten einander feierlich die Hand und lächelten sich an.

Benthien griff nach einem Foto, das gerahmt auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand. „Ihre Tochter?“ Er betrachtete das etwas unschöne Gesicht mit dem fliehenden Kinn, den schmalen Lippen und der großen Nase und dachte, dass es wenig Ähnlichkeit mit der zierlichen Frau Jansen hatte, der man auch jetzt noch ansah, wie hübsch sie früher einmal gewesen war.

Über Annelies Gesicht fiel ein Schatten. „Das ist Lydia, meine Nichte und Patenkind. Meine Schwester ist vor einigen Jahren gestorben. Außer Lydia habe ich keine Angehörigen mehr. Wollen wir nicht in die Küche gehen und den Kuchen anschneiden? Und ein paar Weihnachtsplätzchen essen? Ich habe, aus alter Gewohnheit, viel zu viel gebacken.“

John war klar, dass die alte Frau nicht gern allein im Haus bleiben wollte und Gesellschaft suchte. Wenn er an den leckeren Schokoladenkuchen und die Vanillekipferl dachte … offenbar schien es seinem Infekt schon wieder besser zu gehen, denn er verspürte Hunger.

Als sie nach unten kamen, stand Ben vor dem Küchenfenster, die Hände seitlich an den Kopf gelegt, um besser sehen zu können, und guckte angestrengt in die Küche. Sein Gesicht hellte sich auf, als er seinen Sohn bemerkte.

Frau Jansen schloss die Küchentür auf, die auf eine schmale Dünenplattform führte, auf der sauber verstaut die Müllbehälter standen.

„Ich habe mich schon gefragt, wo mein grippekranker Sohn eigentlich abgeblieben ist“, sagte Ben und trat ein.

Wie auf Kommando fing John an zu niesen und konnte gar nicht mehr aufhören. Frau Jansen – Annelie – streckte ihm ein Päckchen Papiertaschentücher entgegen, die sie aus einer Küchenschublade genommen hatte.

„Du gehörst ins Bett!“, sagte Ben, und John nahm auf einmal wieder seine Bronchien wahr, die sich anfühlten, als stünden sie in Flammen. Und jedes Schlucken war wie eine Messerklinge, die ihm jemand durch die Kehle zog. Das Adrenalin, das durch seine Adern gerauscht war, solange er sich bei der Nachbarin aufgehalten hatte, war verpufft. Gerade, als er verkünden wollte, dass er sich wieder ins Bett legen würde, nachdem er die Westerländer Kollegen wegen des Einbruchs benachrichtigt hätte, fiel ihm die Turbanfrau ein.

„Annelie, Sie sagten vorhin, die Turbanfrau ist weg? Was hat es damit auf sich? Wer ist die Turbanfrau?“

„Sie stand hier, im Flur.“ Frau Jansen zeigte durch die offene Küchentür auf einen stabilen Hocker, der neben dem Treppenaufgang stand und wohl als Podest gedient hatte. „Sie war aus Ton, siebzig Zentimeter hoch. Mein Patenkind hat Modell dafür gestanden und mir die Skulptur geschenkt. Damals lebte mein Mann noch. Eine Freundin von ihr, die solche Tonfiguren macht, hatte sie dazu überredet, Modell zu stehen.“

„Seit wann ist sie weg? Ist denn bei Ihnen eingebrochen worden?“, wunderte sich Ben. Und, an seinen Sohn gewandt: „Bist du deshalb hier?“

Daraufhin erzählte ihm Frau Jansen die ganze Geschichte, einschließlich des ertränkten Weihnachtsmannes und der Schrift auf dem Spiegel. Ben war entsetzt. Vor allem darüber, dass so etwas in dieser ruhigen Gegend, auf dieser normalerweise so friedlichen Insel, passieren konnte. Hier gab es vor allem Ferienhäuser, die bald, an den Feiertagen, wieder voller Leben sein würden. In der Zwischensaison waren sie nur spärlich belegt. Kriminalität kannte man hier kaum, erst recht keine Schwerverbrechen.

„Ich geh rüber und leg mich wieder hin“, sagte John erschöpft, der fühlte, wie sein Fieber wieder anstieg.

„Darf ich Ihnen ein paar Kuchenstücke und Plätzchen mitgeben? Und vielleicht einen Kaffee kochen?“, fragte Frau Jansen sehnsüchtig. „Sie haben mir so sehr geholfen, John. Jetzt fühle ich mich schon wesentlich besser.“

„Kommen Sie doch mit zu uns rüber, Annelie“, sagte Ben herzlich. „Ich bin für den Kaffee zuständig, und Sie bringen den Kuchen mit. Einverstanden?“

„Ich geh dann schon mal“, sagte John, als ihn ein Schrei zurückhielt.

„Da liegt sie ja, die Turbanfrau!“, sagte Annelie mit weißen Lippen und deutete aus dem zweiten Küchenfenster, das zur Seeseite hin lag. Von hier aus hatte man einen Blick auf die kleine, gepflasterte Terrasse, die eingemummelt war von einer wild wuchernden Hecke von Kamtschatka-Rosen. Im Sommer war dies ein sonniges und windgeschütztes...