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Perfect Copy - Die zweite Schöpfung

Andreas Eschbach

 

Verlag Arena Verlag, 2012

ISBN 9783401801681 , 248 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR


 

Kapitel 1

»Was den heutigen Abend anbelangt«, sagte Wolfgangs Vater, »gibt es noch etwas, das du wissen solltest.« Er kramte in einer Schublade. »Julia?«, rief er dann nach hinten, »wo sind meine Manschettenknöpfe?«

Aus Richtung des Badezimmers war eine undeutliche Antwort zu hören.

»Was denn?«, fragte Wolfgang. Das Jackett gebürstet, die Schuhe blitzblank gewienert, die Haare frisiert stand er seit mindestens einer halben Stunde abmarschbereit, wippte auf den Zehen und wäre am liebsten längst unterwegs gewesen.

»Julia?«, rief Dr. Richard Wedeberg, Chefarzt am örtlichen Krankenhaus und von Kollegen hinter seinem Rücken »Beethoven« genannt wegen seiner wallenden grauen Haare. »Ich suche meine Manschettenknöpfe. Die mit der Perlmuttauflage.«

Eine Tür öffnete sich, ein Duft nach Lavendel wehte heran. »Sie sind entweder in der Garderobenschublade«, rief Wolfgangs Mutter entnervt, »oder…«

»Da sind sie nicht.«

»Dann würde ich in deinem Arbeitszimmer nachsehen.«

»Wie sollen meine Manschettenknöpfe denn in mein… ?«

»Schau einfach nach.« Die Tür schlug zu.

Wolfgang verfolgte, wie sein Vater mit missbilligendem Gesichtsausdruck davonrauschte und mit seinen Manschettenknöpfen zurückkam. »Na also«, sagte er zufrieden. »Sie waren in meinem Arbeitszimmer.« Er stellte sich vor den großen Ankleidespiegel und nestelte an seinen Hemdsärmeln. »Also, was das Konzert heute Abend anbelangt, solltest du wissen, dass der Solo-Cellist, Hiruyoki… Julia!«, rief er erneut, »ich finde meine Fliege nicht! Die dunkelrote seidene.«

Wieder die Badtür. Wieder ein Schwall Lavendel. »Du hast sie wahrscheinlich in der Tasche.«

»Ah, ja. Richtig. Hab sie!«

Wolfgang verdrehte die Augen. Wenn das so weiterging, würden sie zu spät kommen. Es brauchte bloß einen Stau zu geben auf der Autobahn, und sie würden ankommen, wenn das Konzert gerade vorbei war.

»Hiruyoki Matsumoto«, vervollständigte er den Namen, als sein Vater keine Anstalten dazu machte.

»Er ist erst siebzehn, musst du wissen«, sagte der, völlig darauf konzentriert, seine Fliege zu binden. »Ein Wunderkind, schreibt die Presse. Na ja, was die eben so schreiben. Jedenfalls entstammt er einer alten, hoch angesehenen japanischen Familie, die weitläufig mit dem Kaiserhaus verwandt sein soll. Vor sieben Monaten ist er zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung getreten, und nun macht er schon eine Welttournee.«

»Oha«, machte Wolfgang ahnungsvoll. Er spielte nämlich auch Cello, und das seit frühester Kindheit. Sein Lehrer bescheinigte ihm großes Talent. Eine Karriere als Konzertmusiker galt als ausgemachte Sache.

»Du weißt, ich halte nichts davon, Kindern ihre Kindheit zu rauben, nur um eines Effektes willen. Eine künstlerische Laufbahn ist etwas fürs ganze Leben, gerade in der Musik. Das geht nicht ohne solide Ausbildung«, fuhr sein Vater fort. Er wandte sich seinem Sohn zu und lächelte mit funkelnden Augen. »Aber du bist auch bald so weit. Du wirst auch bald an die Öffentlichkeit gehen können. Und sie werden dich genauso feiern wie jetzt den jungen Japaner.«

Wolfgang hatte plötzlich einen trockenen Mund. »Meinst du?«

»Ich habe nicht den geringsten Zweifel«, erklärte sein Vater. »Heute Abend wirst du einen Blick in deine Zukunft werfen.«

Er ahnte nicht, wie Recht er damit haben sollte.

Und wie sehr er sich zugleich irrte.

Am anderen Ende der Stadt trafen sich an diesem Abend zwei Männer in einer dunklen Kneipe, in der es nach altem Frittierfett roch und jeder sich um seinen eigenen Kram kümmerte, sobald das Bier auf dem Tisch stand.

Der eine Mann war schlank, beinahe mager, hatte eine scharf geschnittene Nase, einen wolligen Vollbart und mehr Falten um die Augen, als seinem Alter – er war kaum über dreißig – angemessen gewesen wären. Er schob einen Zettel, auf dem ein paar gekritzelte Zeilen standen, über den Tisch. »Der Junge heißt Wolfgang Wedeberg«, sagte er. »Das ist die Adresse, die Schule, in die er geht, und so weiter.«

Der andere Mann war untersetzt und hatte ein leicht aufgedunsenes Dutzendgesicht. Er nahm den Zettel an sich und überflog, was darauf stand. »Nur beobachten?«, fragte er.

»Nur beobachten. Und Fotos. Er darf Sie nicht bemerken.«

Der andere faltete den Zettel zusammen und schob ihn in die Brusttasche seines grauen Kaufhaushemdes. »Davon lebe ich«, sagte er und langte nach seinem Bierglas. »Dass man mich nicht bemerkt.«

Das Konzert fand in einem richtigen, prächtig anzuschauenden Schloss statt. Sie schritten über weiche rote Teppiche, breite Treppen mit geschwungenen Marmorgeländern empor, durch große, hell erleuchtete Räume voller Stuck und Blattgold und festlich gekleideter Menschen. Junge Frauen in Dienstmädchentracht waren hinter langen, weiß gedeckten Tischen damit beschäftigt, Sektkelche eng an eng aufzustellen, und über das vielstimmige Gemurmel hinweg hörte man das Orchester stimmen, ein viel versprechendes disharmonisches Quietschen und Kratzen.

Wolfgang sah von Zeit zu Zeit verstohlen zu seiner Mutter hin. An diesem Abend wirkte sie gelöst wie selten sonst, beinahe fröhlich. Und sie war schön, fand er, in dem dunklen Abendkleid mit ihrem langen, glänzend schwarzen Haar und der schlichten Perlenkette um den Hals. Mutter war einmal Konzertsängerin gewesen, hatte Musik studiert und ein Engagement an einem kleinen Haus in Berlin gehabt, als sie Vater kennen lernte und auch noch einige Zeit danach. Obwohl sie es bestritt, vermutete Wolfgang, dass sie es bisweilen bedauerte, das alles aufgegeben zu haben, als er schließlich auf die Welt gekommen war.

Vater sah Ehrfurcht gebietend aus in seinem Smoking, nicht wie ein Zuhörer, sondern beinahe wie der Dirigent persönlich. Er schaute voll grimmiger Erwartung drein, grüßte hin und wieder einen Bekannten mit ungeduldiger Beiläufigkeit und sagte, als der zweite Gong ertönte: »Es geht los. Lasst uns unsere Plätze suchen.«

Würdige Männer in Roben beobachteten aus klobigen Bilderrahmen heraus, wie die Konzertbesucher sich durch lange Reihen gepolsterter Stühle drängelten, endlich nach und nach zum Sitzen kamen und wie, nach dem dritten Gong, die Gespräche verstummten.

Ein Sprecher des Veranstalters begrüßte das Publikum, stellte den Dirigenten vor, wartete den höflichen Applaus ab, um endlich den Solo-Cellisten anzukündigen mit den Worten: »Und nun, meine sehr verehrten Damen und Herren – der neue Stern am Himmel der Musik… der junge Mann, den viele schon als den Pablo Casals des einundzwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen… begrüßen Sie mit mir, aus dem Land der aufgehenden Sonne, Hiruyoki Matsumoto!«

Applaus brandete auf wie eine Sturmflut. Auch Vater klatschte und nickte Wolfgang dabei verschwörerisch zu. Wolfgang klatschte nicht; er saß nur da und beobachtete den schmalen Jungen, der mit einem fast honigfarbenen Cello in der Hand die Bühne betrat und sich, unter mehrfachem tiefem Verbeugen, auf die Mitte zubewegte, zu seinem Platz zur Linken des Dirigentenpults.

Wolfgang wurde heiß unter seinem Jackett. Die Vorstellung, dass er selbst einmal… und womöglich bald… ! Atemberaubend. Und der Applaus wollte kein Ende nehmen. Auf eine verrückte Weise kam es ihm so vor, als gelte der Beifall bereits ihm, und er hatte das Gefühl, rot zu werden. Du meine Güte!

Der Dirigent hob den Taktstock, um zu zeigen, dass es der Vorschusslorbeeren nun genug waren. »Schau gut hin«, raunte Vater, der unter den Letzten war, die noch klatschten.

Gespannte Stille breitete sich aus. Das Vorspiel begann, zart hingehauchte Töne, eine Andeutung der Motive, die kommen sollten.

Hiruyoki setzte den Bogen an, höchste Konzentration im Blick, wartete auf seinen Einsatz.

Dann spielte der junge Japaner den ersten Ton. Und der traf Wolfgang wie ein elektrischer Schlag.

Später an diesem Abend kehrte der Mann mit dem Vollbart in sein Hotelzimmer zurück, zog seine Jacke aus und hängte sie, nachdem er daran gerochen und angewidert das Gesicht verzogen hatte, über einen Kleiderbügel und diesen in das offene Fenster. Dann ließ er sich aufs Bett fallen, holte den Zettel aus der Tasche, den der Portier ihm überreicht hatte – jemand hatte seine Nummer hinterlassen –, nahm das Telefon vom Nachttisch und wählte. Als es in der Leitung tutete, legte er sich zurück und starrte an die Decke.

Am anderen Ende wurde abgehoben. Jemand bellte: »Ja?«

»Conti«, sagte der Mann auf dem Bett.

»Tommaso!« Es klang wie eine Mischung aus Schrei und Seufzer. »Schalten Sie Ihr Handy eigentlich ab und zu ein? Ich versuche den ganzen Abend, Sie zu erreichen.«

Der Mann mit dem Vollbart studierte das Muster der hellgelben Flecken an der Decke. »Nun, jetzt haben Sie mich erreicht.« Trotz seines fremdländischen Namens sprach er akzentfrei Deutsch.

Ein Keuchen im Telefonhörer. »Verdammt noch mal, Tommaso, Sie tun so, als hätten wir alle Zeit der Welt! Können Sie sich überhaupt vorstellen, was hier los ist? Wie mir die Redakteure im Nacken sitzen? Andere Zeitungen sind auch hinter dieser Story her, das ist Ihnen doch hoffentlich klar?«

»Sicher«, sagte der Mann auf dem Bett und streifte gemächlich die Schuhe ab. »Aber andere Zeitungen wissen nichts von Wedeberg.«

»Und das müssen wir nutzen!«, heulte es aus der Leitung. »Wir müssen raus mit dieser Meldung. Die Titelseite, Tommaso, Sie kriegen die Titelseite – bloß schicken Sie mir endlich etwas, womit ich sie füllen...