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Der Knochenjäger - Ein Lincoln-Rhyme-Thriller

Jeffery Deaver

 

Verlag Blanvalet, 2014

ISBN 9783641157180 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Freitag, 22.30 Uhr, bis Samstag, 15.30 Uhr

EINS

Sie wollte nur noch schlafen.

Die Maschine war mit zwei Stunden Verspätung gelandet, und sie hatten ewig lange auf das Gepäck warten müssen. Und dann hatte auch noch die Mietwagenfirma Mist gebaut – die Limousine war vor einer Stunde weggefahren. Deshalb mussten sie jetzt auf ein Taxi warten.

Sie stand mit den anderen Passagieren in der Schlange, die schlanke Gestalt leicht zur Seite geneigt, um das Gewicht des Laptop-Computers auszugleichen, den sie über der Schulter hängen hatte. John quasselte unentwegt über Zinssätze und neue Möglichkeiten zur Umschichtung des Transitgeschäfts, doch sie konnte nur noch an eins denken: Freitag abends, halb elf. Ich will mir bequeme Klamotten anziehen und mich hinhauen.

Sie musterte den endlosen Strom der gelben Taxis. Irgendetwas an der Farbe und der Gleichförmigkeit der Wagen erinnerte sie an Insekten. Und sie erschauderte leicht, spürte wieder dieses gruslig-krabbelige Gefühl, das sie aus ihrer Kindheit in den Bergen kannte, wenn sie und ihr Bruder einen toten Dachs mit heraushängenden Eingeweiden gefunden oder einen Waldameisenhaufen umgetreten und das Gewusel feuchter Beine und Leiber betrachtet hatten.

T. J. Colfax trat vor, als das nächste Taxi kam und mit quietschenden Bremsen anhielt.

Der Fahrer ließ den Kofferraumdeckel aufspringen, blieb aber im Wagen sitzen. Sie mussten ihr Gepäck selbst einladen, was John sauer aufstieß. Er war es gewohnt, dass man ihn bediente. Tammie Jean störte sich nicht daran; sie war gelegentlich immer noch überrascht, dass sie eine Sekretärin hatte, die ihre Korrespondenz tippte und verwaltete. Sie warf ihren Koffer hinein, schlug den Deckel zu und setzte sich in den Wagen.

John stieg nach ihr ein, knallte die Tür zu und wischte sich über das schwammige Gesicht und die beginnende Glatze, so als hätte er sich beim Verstauen seiner Reisetasche völlig verausgabt.

»Zuerst zur Zweiundsiebzigsten Ost«, brummte John durch die Trennscheibe.

»Danach zur Upper West Side«, fügte T. J. hinzu. Das Plexiglas zwischen den Vordersitzen und dem Fond war völlig verkratzt, sodass sie den Fahrer kaum sehen konnte.

Das Taxi schoss davon und rollte kurz darauf über die Stadtautobahn in Richtung Manhattan.

»Schau«, sagte John. »Daher die vielen Menschen.«

Er deutete auf eine riesige Reklametafel, auf der die Delegierten zu der am Montag beginnenden UN-Friedenskonferenz willkommen geheißen wurden. Rund zehntausend Besucher sollten in der Stadt weilen. T. J. betrachtete die Reklametafel – Schwarze, Weiße und Asiaten, alle lachten und winkten. Irgendetwas störte an diesem Bild. Die Proportionen und die Farben stimmten nicht. Und die Gesichter wirkten alle viel zu blass.

»Leichenräuber«, murmelte T. J.

Sie rasten über die breite Stadtautobahn dahin, die schmutzig gelb im Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte. Vorbei am alten Navy Yard, vorbei an den Piers von Brooklyn.

John hörte endlich auf zu reden, holte seinen Taschenrechner heraus und tippte irgendwelche Zahlen ein. T. J. lehnte sich zurück, blickte hinaus auf die flirrenden Bürgersteige und die mürrischen Mienen der Menschen, die auf den Vordertreppen der Sandsteinhäuser entlang der Stadtautobahn hockten. Sie wirkten wie besinnungslos vor Hitze.

Auch im Taxi war es ziemlich heiß. T. J. streckte die Hand nach dem Knopf aus, mit dem sich das Fenster senken ließ. Sie war nicht weiter überrascht, als er nicht funktionierte. Sie griff über John hinweg. Der Fensterheber auf seiner Seite war ebenfalls kaputt. Erst dann stellte sie fest, dass die Türverriegelungen fehlten.

Die Türgriffe ebenfalls.

Ihre Hand glitt über die Tür, tastete nach der Griffnabe. Nichts – als hätte sie jemand abgesägt.

»Was ist?«, fragte John.

»Tja, die Türen … Wie kriegen wir die wieder auf?«

John schaute von der einen zur anderen, als das Hinweisschild auf den Midtown Tunnel auftauchte und vorbeihuschte.

»He!« John klopfte an die Trennscheibe. »Sie haben die Ausfahrt verpasst. Wo wollen Sie hin?«

»Vielleicht fährt er über die Queensboro«, meinte T. J. Die Strecke über die Brücke war zwar weiter, aber man sparte dadurch die Tunnelmaut. Sie setzte sich auf und klopfte mit ihrem Ring an das Plexiglas.

»Fahren Sie über die Brücke?«

Er beachtete sie nicht.

»He!«

Und im nächsten Moment raste er an der Ausfahrt zur Queensboro Bridge vorbei.

»Scheiße«, schrie John. »Wo fahren Sie denn hin? Nach Harlem. Ich wette, er bringt uns nach Harlem.«

T. J. blickte aus dem Fenster. Ein anderer Wagen fuhr neben ihnen her, zog langsam vorbei. Sie trommelte an die Scheibe.

»Hilfe!«, schrie sie. »Bitte …«

Der andere Fahrer warf ihr einen Blick zu, dann noch einen, und runzelte die Stirn. Er fuhr langsamer und reihte sich hinter ihnen ein, doch das Taxi scherte jäh aus, nahm schlitternd eine Ausfahrt nach Queens, bog in eine Gasse ab und raste durch eine menschenleere Lagerhausgegend. Sie mussten um die hundert Stundenkilometer fahren.

»Was machen Sie da?«

T. J. hämmerte an die Trennscheibe. »Fahren Sie langsamer. Wohin …?«

»O Gott, nein«, murmelte John. »Schau.«

Der Fahrer hatte eine Skimaske übergezogen.

»Was wollen Sie?«, rief T. J.

»Geld? Wir geben Ihnen Geld.«

Noch immer kein Ton von vorne.

T. J. riss ihre Targus-Tasche auf und zog ihren schwarzen Laptop heraus. Sie holte aus und knallte die Kante des Computers gegen die Trennscheibe. Das Glas hielt, doch der Schlag hatte den Fahrer anscheinend zu Tode erschreckt. Der Wagen brach aus und hätte beinahe die Ziegelwand des Hauses gestreift, an dem sie gerade vorüberrasten.

»Geld! Wie viel? Ich kann Ihnen jede Menge Geld geben!« John geiferte geradezu, und die Tränen liefen ihm über die dicken Backen.

Wieder rammte T. J. ihren Laptop mit aller Kraft gegen das Fenster. Der Bildschirm flog weg, doch die Trennscheibe blieb ganz.

Sie versuchte es noch mal, und diesmal zerbrach das Computergehäuse und rutschte ihr aus der Hand.

»O Mist …« Sie wurden beide heftig nach vorn geschleudert, als das Taxi in einer schmuddeligen, unbeleuchteten Sackgasse scharf abbremste.

Der Fahrer stieg aus. Er hatte eine kleine Pistole in der Hand.

»Nein, bitte«, flehte sie.

Er ging zur Hintertür, beugte sich hinab und schaute durch das schlierige Glas. Er stand eine ganze Weile so da, während sie und John sich in die andere Ecke drängten und die schweißnassen Leiber aneinanderdrückten.

Der Fahrer schirmte die Augen mit der Hand ab und schaute sie sich genau an.

Plötzlich ertönte ein lautes Krachen, und T. J. fuhr zusammen. John schrie kurz auf.

In der Ferne, hinter dem Fahrer, zuckten rot-blaue Feuerzungen über den Himmel. Dann weiteres Geknatter und Geheul. Er drehte sich um und blickte auf, als eine riesige orangerote Spinne ihre Beine über der Stadt ausstreckte.

Ein Feuerwerk. T. J. fiel ein, dass sie in der Times etwas darüber gelesen hatte. Ein Geschenk des Bürgermeisters und des UN-Generalsekretärs, mit dem sie die Konferenzteilnehmer in der großartigsten Stadt der Welt empfingen.

Der Fahrer wandte sich wieder dem Taxi zu. Mit einem lauten Schnappen entriegelte er das Schloss und öffnete langsam die Tür.

Ein anonymer Anruf. Wie üblich.

Folglich konnte man nicht nachhaken und feststellen, welches unbebaute Grundstück der Anrufer meinte. »Siebenunddreißigste, Nähe Eleventh Avenue, hat er gesagt. Das ist alles«, hatte die Zentrale über Funk durchgegeben.

Anonyme Anrufer waren, was genaue Ortsbeschreibungen anging, bekanntlich nicht die Zuverlässigsten.

Amelia Sachs, die jetzt schon schwitzte, obwohl es erst neun Uhr morgens war, kämpfte sich durch das hohe Gras. Sie ging in Schlangenlinie, schritt den Suchabschnitt ab – so nannte man das bei der Polizei. Nichts. Sie beugte sich zu dem Funkmikrofon, das an ihrer marineblauen Uniformbluse befestigt war.

»Streife 5885. Kann nichts feststellen, Zentrale. Haben Sie weitere Angaben?«

»Nicht zur Örtlichkeit, 5885«, meldete sich knisternd und knackend die Einsatzzentrale. »Aber eins noch … der Anrufer hat gesagt, er hofft, dass das Opfer tot ist. Ende.«

»Sagen Sie das noch mal, Zentrale.«

»Der Anrufer hat gesagt, er hofft, dass das Opfer tot ist. Um seinetwillen. Ende.«

»Ende.«

Hofft, dass das Opfer tot ist?

Sachs kletterte über einen durchhängenden Stacheldrahtzaun und suchte eine weitere unbebaute Parzelle ab. Nichts.

Sie wollte am liebsten aufgeben. Einen 10-90 melden, eine Fehlanzeige, und zum Deuce zurückkehren, ihrem üblichen Streifenbezirk. Ihre Knie schmerzten, und sie kochte förmlich vor Hitze in diesem mistigen Augustwetter. Sie wollte sich zur Hafenbehörde verziehen, bei den Kollegen herumhängen und eine große Dose Arizona-Eistee trinken. Danach, um halb zwölf – in etwas über zwei Stunden –, wollte sie ihren Spind in Midtown South ausräumen und zur Fortbildung ins Präsidium nach Downtown fahren.

Doch sie blies den Einsatz nicht ab – sie brachte es nicht über sich. Sie ging weiter: den heißen Gehsteig entlang, durch eine Lücke zwischen zwei verlassenen Wohnblocks, über ein weiteres...