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Coup D'État - Der Staatsstreich

Ben Coes

 

Verlag Festa Verlag, 2014

ISBN 9783865523365 , 609 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

2


SEMBLER STATION

COOKTOWN, AUSTRALIEN

Der Hengst wirbelte Staubwolken auf, als er den ausgetrockneten Pfad entlanggaloppierte. Deravelles Muskeln spielten unter seinen breiten Schenkeln und die Linie zwischen Schulterblatt und Hüfte blieb trotz des Gewichts auf seinem Rücken gerade. Ein abgewetzter Ledersattel und darauf ein kräftig gebauter Mann, der sich auf dem sehnigen Rücken des Pferdes nach vorn lehnte. Nach mehr als einer Stunde im Galopp entspannte sich der Reiter ein wenig und straffte die Zügel. Deravelle wurde langsamer. Der Reiter ließ das Tier zu Atem kommen und in langsamen Trab verfallen. Bald schon war das schnelle, schwere Schnauben das einzige Geräusch, das in der weiten Ebene erklang.

Der Reiter zügelte das Pferd und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Rundum niedrige Hügel, mit Gras, Stoppelweizen und Zypressen bewachsen. Freier Ausblick, blauer Himmel. Unberührtes Weideland in allen Richtungen. Ein Stacheldrahtzaun wand sich als unstete Linie gen Norden, soweit sein Blick reichte.

Die Nachmittagssonne brannte trocken und teuflisch heiß auf den Mann herunter. Er trug kein Hemd, nur eine dichte Schicht Dreck über der tiefen Bräune. Kräftige Muskeln bedeckten Brust, Oberkörper, Rücken und Arme. Auf dem rechten Bizeps ließ sich die kleine Tätowierung in der sonnengegerbten Haut kaum erkennen. Ein Blitz von der Größe eines Zehncentstücks, mit schwarzer Tinte gestochen. Die gezackte Narbe auf der linken Schulter dagegen trat deutlich hervor. Sie zog sich wie ein leuchtend rotes Band über das Schulterblatt und sprang einem sofort ins Auge. Die meisten Arbeiter auf der Ranch hielten sie für eine alte Messerwunde, aber keiner von ihnen wusste es genau.

Soweit das Auge reichte, ließen sich keine anderen Menschen blicken. Im Westen hingen ein paar große Quellwolken reglos am hellblauen Himmel, so als ruhten sie sich an dessen Rand ein bisschen aus. Es war fast völlig still, wenn man von Deravelles schnaubendem Ausatmen oder dem leisen Pfeifen absah, mit dem der Wind gelegentlich über die staubige Deckschicht der Ebene fegte. Sembler war die größte Rinderfarm in Queensland – oder ›Station‹, wie man hier in Australien sagte. Über 18.000 Rinder. Hier draußen im nordwestlichen Quadranten der 5100 Hektar großen Ranch konnte der Reiter aber kein einziges Tier entdecken. An heißen Tagen blieb das Vieh weiter unten, wo sich der King River am Südrand von Joe Semblers Grundbesitz entlangschlängelte.

Dewey sah auf den letzten Pfosten des Tages herunter. Fast 19 Uhr. Er saß aufrecht im Sattel, hob den Hut mit der einen Hand und fuhr sich mit der anderen durch die Haare. Ganz schön lang geworden, denn er hatte es seit seiner Ankunft in Australien vor einem Jahr nicht mehr schneiden lassen. Er griff in die Satteltasche und zog ein Bier heraus. Kühler, als man vermutet hätte, denn das dicke Leder schirmte die sengende Hitze ab. Er trank die Flasche leer, ohne abzusetzen, und steckte sie in die Satteltasche zurück.

Als Dewey auf der Sembler Station eingetroffen war, hatten die Temperaturen manchmal Werte um 45 Grad erreicht. Es gab Tage, da glaubte er, die Hitze nicht überleben zu können. Aber er tat es. Dann kamen Herbst und Winter, und das Wetter in Cooktown wurde angenehm – mit Temperaturen zwischen 15 und 20 Grad und kühlen Nächten. Im Winter legte sich das grüngelbe Gras wie ein Teppich über die gesamte Landschaft.

Als der zweite Sommer begann, befürchtete Dewey erneut, dass die Hitze ihn fertigmachen würde. Aber in diesem Moment fühlte er die tropische Sonne auf dem bloßen Rücken, die beginnende Wärme des Biers in seinem Innern und genoss die völlige Einsamkeit an diesem Ort, an dem er stundenlang keinen anderen Menschen sehen musste. Ihm wurde klar, dass er anfing, diese australischen Sommer zu mögen.

Dewey griff erneut in die Satteltasche und holte ein zweites Bier heraus. Er nahm einen Schluck und ließ zum ersten Mal seit Langem zu, dass sich Gedanken an die Vergangenheit in seinem Kopf breitmachten. Er beäugte seine Narbe. Nach über einem Jahr hatte er sich an den Anblick gewöhnt. Sie war ein Teil von ihm geworden. Wenn die anderen auf der Ranch danach fragten, gab Dewey ihnen keine Antwort. Was hätten sie wohl von der Wahrheit gehalten? Dass die Narbe von einem mit Kevlar ummantelten 8-Millimeter-Geschoss aus einer Kalaschnikow stammte, das ein Terrorist auf ihn abgefeuert hatte, der nach Cali geschickt worden war, um ihn auszuschalten. Dass er im Badezimmer eines schäbigen Motels mit dem Gerber-Kampfmesser die Haut weggeschnitten und anschließend mit seinen eigenen Fingern in die Wunde gegriffen und die Kugel herausgepult hatte. Wie er den Schnitt mit Nadel und Faden aus dem Gepäck eines Handlungsreisenden zugenäht und sich mit entsichertem 45er-Colt umgedreht hatte, als der Terrorist die Tür eintrat und ihm mit dem Maschinengewehr gegenüberstand.

Wer hätte diesen schweigsamen Amerikaner mit den langen Haaren und der gezackten Narbe schon für einen ehemaligen Soldaten gehalten? Wer hätte damit gerechnet, dass er früher einmal zum First Special Forces Operational Detachment-Delta gehörte – zu den Deltas. Dass er das Gefühl genossen hatte, das ihn an jenem Tag in diesem Motelzimmer in Cali als Nächstes überkam. Das Gefühl, den 45er abzufeuern und damit dem Terroristen den Hinterkopf wegzuschießen und quer über die Zimmerwand zu verteilen.

Er hatte noch genau den Gesichtsausdruck des Terroristen vor Augen, als dieser die Tür eintrat und sich Dewey gegenübersah, der mit der Waffe in der Hand auf seinen Schädel zielte. Ein Ausdruck totalen Grauens. Ein Ausdruck der Erkenntnis – er begriff glasklar, dass er absolut keine Möglichkeit hatte, seine Uzi rechtzeitig hochzureißen.

Dewey hätte ihn in derselben Sekunde abknallen können, aber er wartete absichtlich noch einen Moment länger, um dem anderen die Gelegenheit zu geben, die furchtbare Wahrheit einsickern zu lassen, dass er verloren hatte und gleich sterben musste.

All diese Erinnerungen kristallisierten sich in Deweys Geist. Eine Flut von Emotionen strömte durch ihn hindurch. Er war nach Australien geflüchtet, um ebendiese Erinnerungen auszulöschen. Kaum zu glauben, dass das schon ein Jahr her war. Nun bestand sein Leben aus Monotonie. Strecken abreiten, schlafen, essen, trinken, Strecken abreiten. Aber er brauchte diese Monotonie, um die Vergangenheit loszuwerden. Gedanken, wie es sich angefühlt hatte, gejagt zu werden.

Dewey schloss langsam die Augen und tauchte bewusst in die Stille ein, sog den Geruch nach Erde und Pferd ein, den Klang des Nichts. Er dachte an seine Zeit in Maine, an die Sommer in Castine, in denen er auf der Farm seines Vaters gearbeitet hatte. Seine Aufgabe hatte darin bestanden, Reihe um endlose Reihe die Tomatenstängel abzuschreiten, mit der Gartenschere in der Hand, und alle gelben oder braunen Blätter abzuschneiden. So viele Reihen, so viele Stunden unzähliger Schritte in jenen Sommern. Es war stets der Gedanke an den Ozean gewesen, der ihn bei der Stange gehalten hatte. Der Gedanke, dass er am Ende des Tages mit seinem Bruder Jack um die Wette rennen konnte, weg von der Farm, anderthalb Meilen die Wadsworth Cove Road hinunter, durch das Städtchen und zum Dock, wo sie schließlich ins kalte Wasser sprangen, um den Schweiß des Tages abzuwaschen. Danach ging es heim zum Abendessen. Er nahm noch ein paar Schlucke von seinem Bier, streckte die Hand aus und rieb den weichen, nassen Hals des schwarzen Hengstes.

»So ist es brav, Deravelle. Es ist fast Zeit.«

Deravelle drehte den Kopf nach links. Deweys Blick folgte dem des Hengstes.

Auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns erstreckte sich eine weite Ebene. Er sah sich mit zusammengekniffenen Augen um und spähte über das weite Land, aber er sah nichts, verstaute die leere Bierflasche in der Satteltasche und wollte sich gerade auf den Rückweg zu den Stallungen machen. Ein letztes Mal schaute er nach hinten. Ganz weit entfernt nahm er eine Bewegung wahr. Er wartete und starrte weiter in diese Richtung. Als Erstes zeichnete sich eine Staubwolke ab. Einige Minuten später wich sie dem Umriss eines Pferdes, das auf ihn zugaloppierte.

Deravelle spitzte die Ohren und tänzelte auf der Stelle, aber Dewey beruhigte den Hengst mit einem festen Klopfen auf den Widerrist. Das andere Pferd galoppierte über die Ebene, und als es sich näherte, konnte Dewey erkennen, dass es sich um ein fast ganz weißes Tier handelte. Der schmale Körperbau wies auf eine Stute hin. Abgesehen von ein paar schwarzen Sprenkeln trug sie einen leeren Sattel auf dem Rücken.

Er stieg ab und trat durch den Stacheldraht auf die andere Seite, dem schnell näher kommenden Pferd entgegen. Dewey schwenkte die hoch erhobenen Hände, damit das Tier nicht blindlings in den Zaun rannte.

»Brrr, na komm, halt an!«, rief er, als das Pferd ihn fast erreicht hatte. Es hielt auf ihn zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Ein kräftiges Pferd, ein Springpferd mit weißem Kopf und schwarzen Flecken im Fell. Zutraulich kam es in seine Richtung getrottet. Er streckte die Hände nach den Zügeln aus, die vom Hals der Stute herunterhingen. Er hatte sie.

»Hey, meine Schöne. Ist ja gut. Ganz ruhig.«

Er ließ die Stute an seinen Händen riechen und strich ihr mit der Rechten am Hals entlang. Warm und triefnass vor Schweiß.

»Du bist ja eine Hübsche. Was zum Teufel machst du denn hier draußen?!«

Er sah sich den Sattel genauer an. Nur wenig abgenutzt, mit einem einzelnen, abgewetzten H aus Messing vorne. Unter dem hinteren Rand trug das Leder eine Prägung: Hermès – Paris.

Deravelle stand am Zaun. Hinter ihm...