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Nächtliches Schweigen - Roman

Nora Roberts

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641156640 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1


London, 1967

 

Emma war fast drei Jahre alt, als sie ihren Vater zum ersten Mal traf. Sie wusste, wie er aussah, da ihre Mutter jede verfügbare Fläche der vollgestopften Dreizimmerwohnung mit sorgfältig aus Zeitschriften und Fanmagazinen ausgeschnittenen Fotos bedeckt hatte. Jane Palmer pflegte ihre Tochter von Foto zu Foto an der stockfleckigen Wand zu tragen und sich dann mit ihr auf dem staubigen, zerschlissenen Sofa niederzulassen, um ihr von der wundervollen Liebesbeziehung zwischen ihr und Brian McAvoy, dem Leadsänger der bekannten Rockgruppe Devastation, zu erzählen. Je mehr Jane trank, desto stärker verherrlichte sie diese Liebe.

Emma verstand nur Bruchstücke von dem, was man ihr erzählte. Sie wusste, dass der Mann auf den Fotos bedeutend war; dass er und seine Band sogar vor der Königin aufgetreten waren. Sie hatte gelernt, seine Stimme zu erkennen, wenn seine Songs im Radio gespielt wurden oder ihre Mutter eine der Platten aus ihrer Sammlung auflegte.

Emma mochte seine Stimme und das, was sie später als leichten irischen Akzent erkannte.

Einige Nachbarn redeten voll Mitleid über das arme kleine Ding von oben, deren Mutter eine Vorliebe für Gin und ein gefährliches Temperament hatte, weil man von Zeit zu Zeit Janes schrille Verwünschungen und Emmas verzweifeltes Schluchzen hören konnte. Dann kräuselten sich die Lippen der Frauen, und sie warfen einander wissende Blicke zu, während sie ihre Teppiche ausklopften oder die wöchentliche Wäsche aufhingen.

Zu Beginn des Sommers des Jahres 1967, dieses Sommers der Liebe, schüttelten sie nur die Köpfe, wenn sie die Schreie des kleinen Mädchens durch das offene Fenster der Palmerschen Wohnung hörten. Fast alle waren sich darin einig, dass die junge Jane Palmer ein so goldiges Kind gar nicht verdient hatte, aber das behielten sie für sich. In diesem Teil Londons kam niemand auf die Idee, eine solche Angelegenheit den Behörden zu melden.

Natürlich hatte Emma keine Ahnung von Begriffen wie Alkoholismus oder psychische Störungen, aber obwohl sie erst drei Jahre alt war, verstand sie es schon, die Launen ihrer Mutter einzuschätzen. Sie wusste genau, an welchen Tagen die Mutter lachen und sie knuddeln und wann sie schimpfen und sie schlagen würde. War die Stimmung in der Wohnung besonders gespannt, packte Emma ihren schwarzen Plüschhund Charlie und verkroch sich in dem Schrank unter der Küchenspüle, um in der feuchten Dunkelheit zu warten, bis die Mutter sich wieder beruhigt hatte.

An manchen Tagen war sie allerdings nicht schnell genug.

»Halt gefälligst still, Emma.« Jane zog die Bürste durch Emmas hellblondes Haar. Mit zusammengebissenen Zähnen widerstand sie dem Drang, ihrer Tochter damit quer über den Rücken zu schlagen. Heute würde sie nicht die Fassung verlieren, heute nicht. »Ich mache dich richtig hübsch. Du möchtest doch heute besonders hübsch aussehen, oder nicht?«

Emma lag nicht allzu viel daran, hübsch auszusehen, nicht, wenn die Bürstenstriche auf ihrer Kopfhaut brannten und ihr neues rosa Kleid so steif gestärkt war, dass es kratzte. Sie zappelte weiter auf dem Stuhl herum, als ihre Mutter versuchte, die widerspenstigen Locken mit einem Band zusammenzuhalten.

»Ich habe gesagt, du sollst stillhalten!« Emma quiekte vor Schmerz, als Jane sie hart am Hals packte. »Niemand will ein schmutziges, ungezogenes Kind.« Nach zwei tiefen Atemzügen lockerte Jane den Griff. Sie wollte keinesfalls, dass das Kind blaue Flecken bekam. Sie liebte es doch. Und blaue Flecken würden auf Brian einen sehr schlechten Eindruck machen, sollte er sie bemerken.

Nachdem sie Emma vom Stuhl hochgezogen hatte, legte ihr Jane fest die Hand auf die Schulter. »Mach nicht so ein mürrisches Gesicht, Mädchen.« Doch im Großen und Ganzen war sie mit dem Ergebnis zufrieden. Mit ihren blonden Wuschellocken und den großen blauen Augen sah Emma wie eine verhätschelte kleine Prinzessin aus. »Na, sieh doch mal.« Janes Hände waren wieder sanft, als sie Emma zum Spiegel drehte. »Siehst du nicht niedlich aus?«

Emma zog einen störrischen Flunsch, als sie sich in dem fleckigen Glas betrachtete. Ihre Stimme ahmte Janes Cockneyakzent nach, vermischt mit einem kindlichen Lispeln. »Das kratzt.«

»Eine Dame muss Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, wenn sie auf Männer wirken will.« Janes eigenes enges Mieder schnitt ihr ins Fleisch.

»Warum?«

»Das gehört zum Job einer Frau.« Sie drehte sich vor dem Spiegel und prüfte ihr Äußeres von allen Seiten. Das dunkelblaue Kleid schmeichelte ihrer üppigen Figur und brachte ihre vollen Brüste zur Geltung. Brian hatte ihre Brüste immer gemocht, erinnerte sie sich und fühlte einen kurzen Schub sexueller Erregung. Himmel, niemand je vor oder nach ihm konnte ihm im Bett das Wasser reichen. In ihm brannte ein wilder Hunger, den er hinter seiner kühlen, selbstbewussten Fassade so gut verbarg. Sie kannte ihn seit seiner Kindheit und war über zehn Jahre lang mit Unterbrechungen seine Geliebte gewesen. Niemand wusste besser als sie, wozu Brian in höchster Erregung fähig war.

Einen Moment lang stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn er ihr das Kleid abstreifen, sie mit den Augen verschlingen und mit seinen schlanken Musikerfingern das enge Mieder aufhaken würde.

Sie waren gut miteinander ausgekommen, dachte sie und spürte ihre eigene Erregung. Sie würden wieder gut miteinander auskommen.

Reiß dich zusammen, befahl sie sich und griff nach der Bürste, um sich das Haar zu kämmen. Die Hälfte des Haushaltsgeldes hatte sie beim Friseur gelassen, um ihre schulterlangen, glatten Haare im gleichen Farbton wie die Emmas zu färben. Sie schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen. Nach dem heutigen Tage würde sie sich nie wieder Sorgen um Geld machen müssen.

Ihre Lippen waren sorgfältig blassrosa geschminkt  – in derselben Farbe, die das Supermodel Jane Asher auf der Titelseite der neuen Vogue verwendet hatte. Nervös griff sie zu ihrem schwarzen Kajalstift und betonte die Augenwinkel stärker.

Fasziniert beobachtete Emma ihre Mutter. Heute duftete sie nach Parfüm statt nach Gin. Versuchsweise langte sie nach dem Lippenstift und bekam sofort einen Klaps auf die Hand. »Lass die Finger davon.« Ein weiterer Klaps. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst meine Sachen nicht anfassen?«

Emma nickte, ihre Augen schwammen bereits in Tränen.

»Und fang bloß nicht an zu heulen. Ich will nicht, dass er dich das erste Mal mit roten Augen und verquollenem Gesicht sieht. Er sollte eigentlich schon hier sein.« In Janes Stimme schwang ein Unterton mit, der Emma veranlasste, sich vorsichtig außer Reichweite zu begeben. »Wenn er nicht bald kommt …« Sie brach ab und listete im Geiste ihre Vorzüge auf, während sie sich im Spiegel bewunderte.

Schon immer war sie üppig, jedoch nie dick gewesen. Vielleicht saß das Kleid etwas eng, aber es betonte die richtigen Stellen. Dünne Frauen mochten ja in Mode sein, aber sie wusste, dass Männer die kurvenreichen bevorzugten, sobald das Licht ausging. Lange genug hatte sie von ihrem Körper gelebt, um sich dessen sicher zu sein.

Ihr Selbstvertrauen wuchs noch, als sie sich betrachtete und sich einredete, dass sie den blassen, ewig gelangweilten scheinenden Modellen glich, die zurzeit in London tonangebend waren. Sie war nicht einsichtig genug zu erkennen, dass das neue Make-up ihr nicht stand und die neue Frisur ihr Gesicht bitter und hart erscheinen ließ. Sie wollte im Trend liegen, wie immer.

»Vielleicht glaubt er mir ja nicht  – oder will mir nicht glauben. Kein Mann will Kinder.« Sie zuckte die Achseln. Ihr eigener Vater hatte sie nie gewollt, bis sich ihre Brüste zu entwickeln begannen. »Denk immer daran, Emmakind.« Ihr abschätzender Blick glitt über Emma. »Männer wollen keine Kinder. Sie wollen eine Frau nur für das eine, und was das ist, wirst du früh genug herausfinden. Wenn sie mit dir fertig sind, sind sie fertig, und du sitzt da mit einem dicken Bauch und gebrochenem Herzen.«

Sie griff nach einer Zigarette, rauchte mit kurzen, abgehackten Zügen, während sie auf und ab ging. Hätte sie doch nur etwas Gras, süßes, beruhigendes Gras, dachte sie, doch sie hatte das gesamte restliche Geld für Emmas neues Kleid ausgegeben. Die Opfer einer Mutter.

»Na ja, vielleicht will er dich ja nicht, aber nach dem ersten Blick kann er nicht abstreiten, dass du von ihm bist.« Mit schmalen Augen betrachtete sie ihre Tochter durch den Rauch und fühlte so etwas wie mütterlichen Stolz. Das kleine Biest war tatsächlich bildhübsch, wenn es sauber und ordentlich aussah. »Du bist sein gottverdammtes Ebenbild, Emmaschatz. In der Zeitung steht, dass er diese Wilson-Schlampe heiraten will  – jede Menge Geld und was Besseres  –, aber wir werden sehen, wir werden ja sehen. Er wird zu mir zurückkommen. Ich hab’ immer gewusst, er kommt zurück.« Die Zigarette landete in einem überquellenden Aschenbecher und qualmte dort weiter. Jane brauchte dringend einen Drink  – nur einen Schluck Gin, nur, um ihre Nerven zu beruhigen. »Du setzt dich aufs Bett. Bleib da sitzen und sei still. Und wehe, du gehst an meine Sachen, dann setzt es was.«

Als es an der Tür klopfte, hatte sie zwei Drinks heruntergekippt. Ihr Herz begann wild zu klopfen. Wie die meisten Alkoholiker fühlte sie sich nach ein paar Gläschen wesentlich attraktiver und selbstbewusster. Sie glättete ihr Haar, setzte ein, wie sie meinte, verführerisches Lächeln auf und öffnete.

Er sah blendend aus. Einen Augenblick sah sie nur ihn in der hellen Sommersonne, groß und schlank, mit seinen wehenden blonden Haaren und dem vollen, ernsten Mund, der ihm...