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Gefallene Engel (eBook) - Ein Fall für Sakari Koskinen

Seppo Jokinen

 

Verlag ars vivendi, 2014

ISBN 9783869134819 , 398 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

14,99 EUR


 

 

1

Dienstag, der 26. 9. 2000, war gerade angebrochen. Eine Minute nach Mitternacht gähnte Siukola zum ersten Mal.

Sopanen ärgerte sich darüber. Er fuhr seit mehr als zwanzig Jahren Nachtschicht und hatte dabei noch nie gegähnt, nicht einmal in den stillen Stunden vor Tagesanbruch. Diese gerade erst ausgeschlüpften Polizistenküken dagegen konnten nicht einmal richtig wach bleiben. Doch Sopanen hielt den Mund. Es war schließlich nicht seine Sache, Halbwüchsige herumzukommandieren.

Siukola wusste genau, wie sehr das Gähnen seinen Streifenkollegen fuchste. Deshalb riss er den Mund manchmal bloß zum Spaß auf, obwohl er gar nicht müde war. Ihr Streifenwagen hatte die Nummer 341, und ihr Einsatzgebiet war Hervanta, der einwohnerstärkste Vorort der Stadt Tampere.

Die Nacht von Montag auf Dienstag war erfahrungsgemäß eine der ruhigsten der Woche. In dieser Schicht war nicht allzu viel Arbeit zu erwarten. Wenn das halbe Dutzend Kneipen in Hervanta schloss, gab es eventuell einige Einsätze, bei denen es galt, ein Familienmitglied, in der Regel den Vater oder einen erwachsenen Sohn, ins Polizeigebäude im Stadtteil Sorinahde, kurz Sori, zu verfrachten, damit es in der Ausnüchterungszelle zur Ruhe kam.

Sopanen bog an der Kreuzung bei der Shell-Tankstelle nach Osten in Richtung Industriegebiet ab und sprach immer noch nicht. Siukola spürte die Gereiztheit seines Partners. Er schluckte das nächste Gähnen herunter und blickte verstohlen zur Seite. Sopanens hageres Gesicht war verkniffen, und die schwarze Igelfrisur schien seine mürrische Miene zu betonen. Allerdings hatte Siukola bereits einige Tricks gelernt, mit denen er die Stimmung seines älteren Kollegen aufhellen konnte.

»Um diese nächtliche Zeit merkt man erst, dass der Mondeo eine richtig leise Karre ist.«

Siukola spürte einen leichten Ruck im Nacken, als Sopanen plötzlich Gas gab. Spätestens daran erkannte er, dass die miese Laune seines Kollegen vorübergehend verschwand.

»Jedenfalls ist er besser als der olle Saab. Bei dem musste man sich mit beiden Händen ans Lenkrad klammern, wenn man bloß ein bisschen schneller fuhr.«

Sopanen legte eine kurze Pause ein, und Siukola wusste, dass nun eine andächtige Erinnerung und ein Loblied auf das alte Schlachtross anstanden.

»Aber eigentlich war der Saab ein toller Ofen«, redete sich Sopanen warm. »Der hat einen nie im Stich gelassen.«

Siukola überlegte, welche Geschichte diesmal an der Reihe sein würde. Er hatte schon Dutzende gehört, jede davon mehrmals.

Sopanen wählte die gute alte Fisch-Story. Sie hatte sich irgendwann Anfang der Achtziger zugetragen, doch er schilderte sie so detailliert, als wäre sie gestern passiert. Es war Ende September gewesen, so wie jetzt, und er hatte sich gerade angeschickt, mit seinem damaligen Streifenkollegen die Nachtschicht zu beenden. Sie kamen von Nekala und fuhren in Richtung Sori. Beim Kreisverkehr in Viinikka hielten sie an der Ampel. Sopanen bemerkte den Lieferwagen, der von Süden her in wilden Schlangenlinien auf der Lempääläntie heranbrauste, als Erster. Im Kreisverkehr fuhr der Wagen im Uhrzeigersinn und drehte eine überzählige Runde, bevor er die Ausfahrt Richtung Stadtmitte fand. Sopanen schaltete das Blaulicht ein und nahm die Verfolgung auf. Der Fahrer kam der Aufforderung zum Anhalten jedoch nicht nach, sondern raste davon. Die Jagd führte durch die erwachende Stadt bis in den Vorort Pispala. Dort schlingerte der Wagen mit der Seite voran auf die Fernstraße nach Nokia, wobei die Fliehkraft die Hecktüren aufriss. Als er erneut beschleunigte, verteilte sich die ganze Ladung auf der Straße, direkt vor den Saab der Polizei.

»Es war ein Fischer aus Rymättylä«, erzählte Sopanen mit Feuereifer. »Die verflixten Heringe machten die Straße glitschiger als das glatteste Eis. Aber unser Saab hat sich prima gehalten. Wir haben in dem Fischmatsch ein paar Pirouetten gedreht und sind eine ziemliche Strecke geschleudert, mal mit der einen Seite voran, mal mit der anderen. Trotzdem schafften wir es, den Lieferwagen an den Straßenrand zu drängen. Dann haben wir den Fahrer eingesackt und zur Blutprobe gebracht. Er hatte hübsche zwei Promille im Blut. Angeblich hatte er am Abend, als er seine Netze entwirrte, bloß zwei Bier getrunken, bevor er losfuhr, um den Fisch in die Markthalle zu liefern.«

Sopanen beendete seine Geschichte mit einem traurigen Kopfschütteln. Erst vor ein paar Monaten war der Saab am Ende seines Weges angelangt und ins Depot gebracht worden. Wehmütig seufzte er: »Ach ja, das war eine tolle Kutsche.«

Das Industriegebiet Rusko war ein Dickicht aus kleinen Fabriken, Lagerhallen und Reparaturwerkstätten, das am Rand von Hervanta wucherte. In der dunklen Herbstnacht wirkte es noch abweisender als gewöhnlich. Die Wischblätter schoben mit schläfrigen Bewegungen den Nieselregen von der Scheibe. Der Asphalt glänzte im matten Licht der Straßenlampen, und der Wind ließ gelbe Birkenblätter über den Bürgersteig tanzen.

Vor dem weißen Backsteingebäude der Bäckerei bewegte sich etwas. Eine dunkle Gestalt huschte an der Mauer entlang, dann leuchteten Autoscheinwerfer auf. Sopanen verlangsamte das Tempo, und auch Siukola spähte gespannt aus, in der Hoffnung, einen Kuchendieb zu erwischen. Doch der schwarze Golf, der vom Hof kam und in Richtung Hervanta abbog, trug das Hunde-Logo einer Wachgesellschaft. Der Fahrer hob grüßend die Hand, als wäre er ein Kollege.

Die Streifenbeamten erwiderten den Gruß nicht. Sopanen drehte noch eine Runde auf dem Hof des TÜV und sah auf die Uhr.

»Bald kommt der letzte Bus. Schauen wir uns den an?«

Siukola sparte sich die Antwort. Sopanen fuhr auf der Hepolanninkatu zurück nach Westen. Der Mondeo rollte langsam über die leere Straße. Sopanen lenkte ihn auf den Parkplatz der Tankstelle und hielt mit der Vorderseite zur Fernstraße. Das war die perfekte Stelle, um auf den letzten Bus aus der Innenstadt zu warten, der werktags um zehn Minuten nach Mitternacht im Zentrum abfuhr.

Das Hamburgerrestaurant der Tankstelle schloss gerade. Siu­kola beobachtete im Rückspiegel ein Mädchen, das mit flinken Bewegungen den Tisch abwischte, wobei ihr Pferdeschwanz unter der Schirmmütze kräftig schaukelte. Plötzlich verspürte Siukola Hunger. Es war jedoch noch zu früh. Wenn er jetzt schon einen Hamburger verdrückte, würde ihm die Zeit bis zum Morgen lang werden. Er hatte die Angewohnheit, erst gegen drei Uhr an der Wurstbude in Hervanta etwas zu essen, kurz bevor sie zumachte. Er wählte dann entweder eine regionale Hamburgerversion mit Spiegelei, die sich »Parkano-Burger« nannte, oder ein Gericht namens »Technikers Traum«. Letzteres enthielt sämtliches Grillgut, das man sich nur vorstellen konnte, dazu eine doppelte Portion Gewürzgurken und Pommes. Sopanen dagegen überstand die Nacht mit einer Thermoskanne Kaffee und den Broten, die seine Frau für ihn schmierte. Sie belegte sie mit Knoblauchkäse, und nach der Essenspause stank das ganze Auto mindestens zwei Stunden lang.

Der Bus würde frühestens in fünf Minuten kommen. Sopanen öffnete die Vordertür, streckte das linke Bein nach draußen und zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch gen Himmel und sagte, ohne den Kopf zu drehen: »Mal sehen, wie Tappara sich am Donnerstag gegen TPS hält.«

»Ja«, brummte Siukola ausweichend, doch Sopanen war in Gesprächslaune.

»Mit der Defensivtaktik, die sie sich gestern gegen die Blues geleistet haben, gehen sie garantiert baden. Die Kerle sahen aus wie Linedancer mit Holzbeinen. Die Offensivreihe stand rum wie eine Torte im Pantoffel, und nicht mal Ojanen hat es fertiggebracht, rückwärts zu laufen.«

Siukola hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Noch vor einigen Jahren hatte er selbst als Verteidiger in der Eishockey-Profimannschaft Tappara gespielt, eine Zeit lang sogar als Partner von Jutila. Der Höhepunkt seiner Laufbahn war eine Einladung ins Auswahllager der Nationalmannschaft gewesen, weiter war er nicht gekommen. Das war der schmale Grat: Einige Länderspiele, dann in die NHL, nach Schweden oder Mitteleuropa, und er hätte für den Rest seines Lebens ausgesorgt gehabt. Ein paar kleine Missgeschicke im Auswahllager hatten die Trainer der Nationalmannschaft jedoch dazu bewogen, Siukola zu übergehen. Und deshalb musste er sich für ein mickriges Gehalt die Nächte um die Ohren schlagen und die schlafenden Bürger vor Ganoven und Randalierern schützen. Kein Wunder, dass Eishockey ihn nicht mehr interessierte.

Die 23 rettete ihn vor Sopanens Spielbericht. Der Bus überquerte bereits die Brücke, bog an der Ampel nach links und fuhr an ihnen vorbei. Er war fast leer. Dennoch schnippte Sopanen seine Kippe auf den nassen Rasen, schlug die Tür zu und ließ den Motor an. Sie folgten dem Bus in einigem Abstand. Erst in der Opiskelijankatu hielt er zum ersten Mal. Eine junge Asiatin stieg aus und lief mit gesenktem Kopf durch den immer heftigeren Regen.

Der Bus entließ hier und da einen Fahrgast. Die Leute in Hervanta hatten gerade erst das Wochenende hinter sich, die Nacht von Montag auf Dienstag lockte sie nicht zum Schwofen. Ein Mann, der auf der Ahvenisjärventie joggte, weckte Siu­kolas Aufmerksamkeit. Er trug einen grünen Windanzug und eine schwarze Schirmmütze, kämpfte leicht vorgebeugt gegen Wind und Regen an und schien den Streifenwagen nicht zu bemerken.

»He!«, rief Siukola. Er drehte sich um und blickte dem Läufer nach. »Hast du gesehen, wer das war?«

»Ein A-Einser?« Sopanen nahm den Fuß vom Gas. »Sammeln wir ihn auf?«

»Nein, das war Koskinen.«

»Wer zum Teufel ist...