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Moshi Moshi

Banana Yoshimoto

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257604641 , 304 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

 

 

 

 

 

 

[5] Von dem schon verstorbenen Regisseur Jun Ichikawa, den ich sehr verehre, gibt es den Film Zawa zawa Shimokitazawa, »Summendes Shimokitazawa«.

Um mir für den Umzug nach Shimokitazawa Mut zu machen, habe ich diesen Film in einsamen Nächten unzählige Male gesehen. Damals lebte ich noch in der Wohnung meiner Eltern. Ich wollte Shimokitazawa wie ein Schwamm mit meinem ganzen Körper aufsaugen, um wirklich sicher zu sein, dass ich das Richtige tat.

In einer Szene des Films spricht die Pianistin Fujiko Hemming über diesen Stadtteil. Während sie zum Einkaufen über den Platz vor dem Bahnhof schlendert, setzt ihre Stimme aus dem Off ein:

»In dem kunterbunten Durcheinander dieses Viertels, dem man sich einfach so hingibt, ist bisweilen eine Anmut spürbar, die vergleichbar ist mit dem Schönen in dem eigentlich ungeordneten, ja hässlichen Wesen des Menschen. Man stelle sich Vögel vor, die an Blumen zupfen, oder Katzen, die [6] elegant aus einer Höhe herunterspringen. Etwas Neues beginnt immer als ein trübes Etwas, doch schon bald wird daraus ein klarer Bach, der in natürlicher Bewegung still dahinfließt.«

Als ich diese Passage zum ersten Mal gesehen hatte, stimmte ich ihr gleich aus vollem Herzen zu und merkte, wie mir dabei Tränen über die Wangen liefen. Seitdem hatte ich den Film so oft gesehen, dass ich ihn auswendig kannte und genügend Mut für einen Ortswechsel aufbrachte.

Wenn das, was man nur dunkel ahnt, von jemandem in so klare Worte gefasst wird, dann legt sich die Unruhe des Herzens, dachte ich damals.

Die unzähligen Schicksalsschläge, denen sich Fujiko  in ihrem Leben ausgesetzt sah, verliehen ihren wunderbaren Worten und den Filmbildern eine besondere Bedeutung. Ihre Worte ergreifen die Herzen der Zuschauer, geben ihnen Zuversicht und das Gefühl, für das Leben gewappnet zu sein.

Auch ich wollte irgendwann, wie Fujiko, eine solch betörende Wirkung auf andere Menschen ausüben können.

Immer wenn ich mir nachts diese Gedanken machte, entstand ein Raum, in dem ich tief atmen konnte und der mich in die Lage versetzte, mein seelisches Gleichgewicht irgendwie aufrechtzuerhalten.

[7] Nachdem mein Vater gestorben war, fiel ich zwar nicht in ein tiefes Loch, fühlte mich aber wie jemand, dem ein Schlag nach dem anderen versetzt wurde, und ich sank allmählich immer tiefer, bis ich irgendwann wieder den Kopf heben konnte. Das wiederholte sich immer wieder.

In dieser Zeit entwickelte ich mich zu einer ausgesprochenen Rechthaberin, und ich fühlte mich, als wäre ich geschrumpft. Um mich zu schützen, versank ich immer tiefer in meine Gedankenwelt.

Blumen, Licht, Wünsche oder ausgelassenes Vergnügen, all das war auf einmal in weite Ferne gerückt. Ich war gefangen in einer tiefen Finsternis, in der nur noch die elementarsten Bedürfnisse herrschten, wo nur noch die aus meinem Bauch kommende Kraft zählte und alles Schöne und Leichte keinen Wert mehr besaß.

Inmitten dieser Finsternis tat ich nichts weiter als zu arbeiten, zu atmen und nur Augen für die Dinge zu haben, die in meinem unmittelbaren Blickfeld lagen.

Aber bald konnte ich wieder Licht sehen.

Nein, nicht eigentlich Licht.

Die Finsternis war weiterhin da, wild, ungezügelt, barbarisch.

Doch irgendwann gelang es mir, Abstand zu gewinnen und zu erkennen, dass beide Zustände ihre [8] Schönheiten, ihre zarten Schwingungen hatten, und erst da verstand ich den wahren Sinn von Fujiko-sans Worten.

Mein Leben in Shimokitazawa begann etwa ein Jahr nach dem Tod meines Vaters. Er hatte sich zusammen mit einer entfernten Verwandten, die meiner Mutter und mir völlig unbekannt war, in einem Wald der Präfektur Ibaraki das Leben genommen. Diese Frau hatte meinen Vater in einer Angelegenheit um Rat gebeten, und daraus hatte sich eine enge Beziehung entwickelt. Sie überredete meinen Vater – zuvor hatte sie ihm ein Schlafmittel in den Alkohol getan –, mit ihr zu einem Wald unweit einer spärlich bewohnten Siedlung zu fahren. Dort starb er an einer Kohlenmonoxydvergiftung, hervorgerufen durch die Kohlenbriketts, die sie mitgebracht hatte. Auch sie starb natürlich.

Die Ritzen an Türen und Scheiben waren sorgfältig von innen verklebt, so dass ein Verbrechen ausgeschlossen werden konnte.

Doch auch wenn alles nach einem gemeinsam geplanten Doppelselbstmord aussah: Für mich war Vater Opfer eines Mordes. Auf die Details zu Tatort und Tathergang und was meine Mutter und ich uns sonst noch alles ansehen und anhören mussten, möchte ich nicht weiter eingehen.

[9] Der Schock sitzt noch zu tief, als dass ich das Geschehene in mir ordnen könnte.

Auch sind meine Erinnerungen an damals nur bruchstückhaft, und vielleicht wird es mir niemals gelingen, dieses Ereignis ganz zu begreifen. Wenn man das Leben als einen Prozess bezeichnet, in dem die Mysterien eher zu- als abnehmen, dann bin ich allein mit diesem Ereignis den Rest meines Lebens bedient.

»In letzter Zeit ist er ganz schön auf Achse, übernachtet irgendwo oder kommt erst am Morgen nach Hause, findest du nicht? Ob er eine Freundin gefunden hat? Aber den Mut, uns zu verlassen, hat er bestimmt nicht. Und wenn doch, was machen wir dann? Na ja, dann leben wir halt so weiter wie bisher. Am besten, wir machen uns gar keine Gedanken darüber. Er würde sowieso wieder zu uns zurückkommen.«

So ähnlich haben Mutter und ich immer mehr im Scherz als ernsthaft geredet, bis dann eines Tages der Anruf der Polizei kam und wir von einem Schock in den anderen fielen.

Ich weinte, schrie, tobte, tat alles Erdenkliche, um meinem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Wirklich alles. Allein oder mit meiner Mutter, wobei wir uns oft gegenseitig zu trösten versuchten.

Wir hatten uns immer eingeredet, dass Musiker [10] eben hin und wieder kleine Affären hätten und zu viel Kontrolle eher schlecht für die Familie sei. Nun machten wir uns Vorwürfe, dass wir Vater zu freie Hand gelassen hatten.

Wenn er nicht gerade auf einer längeren Tournee war, kam er nach jedem Konzert stets nach Hause, auch wenn es nach Mitternacht war. Jede noch so kleine Vereinbarung zwischen ihm und uns schrieb er entweder in sein Notizbüchlein oder auf seinen Handrücken, und er hielt sich daran. Er war so verlässlich, dass ich bei dem Gedanken, wie er sich Notizen macht, seine Hände vor mir sehe.

Von »Milch mitbringen« bis »Nächste Woche: Gyōza1« schrieb er alles auf und enttäuschte uns nie. Bevor er in einer Band spielte, war er ein Vater, wie man ihn sich nicht besser hätte wünschen können, und gerade deshalb waren wir wohl zu sorglos gewesen.

Nach der Beerdigung befanden Mutter und ich uns in einer Art Schockstarre, und es dauerte eine ganze Weile, bis wir begriffen, dass er nie wieder zurückkommen würde.

Wenn jemand tot ist, werden Vorwürfe sinnlos. Die Hinterbliebenen haben kaum die Möglichkeit, das Erlebte rational zu verarbeiten oder ihre [11] Gedanken auf etwas Konkretes zu richten, da der Tod das Ende von allem ist. Verwandte dieser Frau ausfindig zu machen und Schmerzensgeld zu verlangen würde nichts ändern. Ich verspürte im Übrigen auch gar keine Lust dazu. Ohnehin war diese Frau kurz nach ihrer Geburt zur Adoption freigegeben worden, hatte das Haus ihrer Adoptiveltern aber schon seit langem verlassen und war somit ohne Familie. All das erfuhren wir, obwohl wir es eigentlich nicht wissen wollten. Letztendlich taten wir nichts.

Ich hatte nur einen kurzen Blick auf ihren toten Körper geworfen, aber auf einem früheren Foto sah sie aus wie eine schöne weiße Füchsin oder wie eine Schlange, so dass es mir kalt den Rücken runterlief. Auch das versetzte mir einen Schock. Dass mein Vater sich von solch einer erotischen Ausstrahlung hatte betören lassen! Auch Mutter war bestimmt schwer getroffen vom Anblick dieser Frau.

Trotzdem ging der Alltag irgendwie weiter. Ich fand es seltsam, wie äußerlich normal ich beim Spazierengehen wirken musste, ich unterschied mich in nichts von den anderen Menschen, die mir unterwegs begegneten. Obwohl es in meinem Inneren brodelte, sah mein Spiegelbild in den Schaufensterscheiben aus wie immer.

[12] Etwa ein Jahr nach dem Tod meines Vaters schien sich Mutter wieder einigermaßen gefangen zu haben, und ich beschloss, ein neues Leben zu beginnen.

Gleich nach dem Junior College hatte ich in einer Fachhochschule kochen gelernt, meinen Abschluss gemacht und einer Freundin ab und zu in ihrem Café geholfen, während ich mich in aller Ruhe nach einer festen Stelle umsah. Doch das Ereignis mit meinem Vater warf alles über den Haufen. Ursprünglich wollte ich zusammen mit einer Kommilitonin aus der Fachhochschule ein Café aufmachen, aber das war nun nicht mehr möglich. Mein Leben fing praktisch wieder bei null an.

Ich zog aus dem Apartment meiner Eltern aus und mietete eine Wohnung im ersten Stock eines Hauses in der Chazawa-Straße, das der Mutter einer Freundin gehörte. Vorher hatte meine Freundin dort gewohnt, doch als sie heiratete und nach England zog, wurde die Wohnung frei, und ich packte die Gelegenheit beim Schopf. Das Haus lag sieben Minuten vom Bahnhof Shimokitazawa entfernt.

Ich begann, in einem kleinen Restaurant namens ›Les Liens‹ zu arbeiten. Es befand sich genau gegenüber meiner Wohnung, ich brauchte also nur eine Minute bis dorthin. Da es ein kleines...