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Liebe Mutter, es geht mir gut...

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257604696 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

 

 

 

 

[5] 1

Die Stimme war sanft, beinahe lächelnd: »Ist dort Miss Clarvoe?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wer spricht?«

»Nein.«

»Eine Freundin.«

»Ich habe unzählige Freundinnen«, log Miss Clarvoe. Im Spiegel über dem Telefontischchen sah sie ihren Mund die Lüge wiederholen, und sie freute sich darüber, während ihr Kopf eifrig bestätigend nickte – diese Lüge ist wahr, ja, es ist eine sehr wahre Lüge. Nur ihre Augen wollten sich nicht überzeugen lassen. Verlegen blinzelten sie und schauten weg.

»Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen«, sagte die Stimme. »Trotzdem habe ich Sie immer irgendwie im Auge behalten. Ich habe nämlich eine Kristallkugel.«

»Ich – Sie haben was

»Eine Kristallkugel, in der man die Zukunft sehen kann. So eine habe ich. Alle meine alten Freunde tauchen von Zeit zu Zeit darin auf. Heute Abend waren Sie drin.«

»Ich.« Helen Clarvoe wandte sich wieder dem Spiegel zu. Er war rund wie eine Kristallkugel, und ihr Gesicht tauchte darin auf; eine alte Freundin, vertraut, doch ungeliebt. Der Mund dünn und verkniffen, als wäre die Haut nur [6] über einen Knochen gespannt. Das braune Haar war kurz geschnitten wie bei einem Mann und ließ die Ohren frei, die einen leicht violetten Schimmer hatten, als wären sie ewig kalt. Wimpern und Brauen waren so farblos, dass die Augen selbst nackt und ängstlich wirkten. Eine alte Freundin in einer Kristallkugel.

Vorsichtig fragte sie: »Bitte, wer ist dort?«

»Evelyn. Erinnern Sie sich nicht? Evelyn Merrick.«

»Ach, ja.«

»Jetzt erinnern Sie sich?«

»Ja.« Es war eine neue Lüge, aber leichter als die erste. Der Name sagte ihr gar nichts. Es war nur ein Klang, ohne jeden Bezug, und sie konnte ihn genauso wenig bestimmen, wie sie vom dritten Stock aus im Verkehrslärm das Geräusch eines Autos vom andern unterscheiden konnte. Sie hörten sich alle gleich an, die Fords, die Austins, die Cadillacs und Evelyn Merrick.

»Sind Sie noch da, Miss Clarvoe?«

»Ja.«

»Ich habe gehört, Ihr alter Herr ist gestorben.«

»Ja.«

»Ich habe auch gehört, dass er Ihnen eine Menge Geld hinterlassen hat.«

»Das ist meine Angelegenheit.«

»Geld ist eine große Verantwortung. Ich wäre vielleicht in der Lage, Ihnen behilflich zu sein.«

»Danke, ich brauche keine Hilfe.«

»Es könnte aber bald der Fall sein.«

»Dann werde ich selber mit dem Problem fertig werden, ohne die Hilfe einer Fremden.«

[7] »Einer Fremden?« In der Wiederholung lag ein scharfer Ton der Empörung. »Sie haben doch eben gesagt, Sie erinnerten sich an mich.«

»Ich habe mich nur bemüht, höflich zu sein.«

»Höflich. Immer Dame, was, Clarvoe? Oder wenigstens so tun. Aber warten Sie nur, bald werden Sie sich mit einem Mal wieder an mich erinnern. Ich werde nämlich bald berühmt sein. Mein Akt wird in jedem Kunstmuseum des Landes zu sehen sein. Jedermann wird die Möglichkeit haben, mich zu bewundern. Macht Sie das nicht neidisch, Clarvoe?«

»Ich glaube, Sie sind – Sie sind verrückt.«

»Verrückt? O nein. Nicht ich! Sie sind verrückt, Clarvoe. Sie sind ja diejenige, die sich nicht erinnern kann. Und ich weiß auch, warum Sie sich nicht erinnern können. Weil Sie eifersüchtig auf mich sind. Sie waren immer eifersüchtig auf mich. So eifersüchtig, dass Sie mich einfach aus Ihrem Gedächtnis ausradiert haben.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Miss Clarvoe schrill. »Ich kenne Sie ja gar nicht. Ich habe noch nie von Ihnen gehört. Sie müssen sich irren.«

»Ich irre mich nie. Was Sie brauchen, Clarvoe, ist eine Kristallkugel, damit Sie sich an Ihre alten Freunde erinnern können. Vielleicht sollte ich Ihnen meine leihen. Dann könnten Sie sich auch selber darin sehen. Würde Sie das nicht freuen? Oder hätten Sie Angst? Sie waren immer ein jämmerlicher Feigling, und meine Glaskugel würde Ihnen wahrscheinlich einen Todesschreck einjagen. Ich habe sie gerade hier vor mir. Soll ich Ihnen sagen, was ich sehe?«

»Nein – hören Sie auf mit diesem…«

[8] »Ich sehe Sie, Clarvoe.«

»Nein…«

»Ihr Gesicht ist direkt vor mir, ganz klar und deutlich. Aber irgendetwas stimmt darin nicht. Ah, jetzt sehe ich es. Sie haben einen Unfall gehabt. Sie sind verletzt. Ihre Stirn ist aufgerissen, Ihr Mund blutet – Blut, Blut, überall Blut…«

Miss Clarvoes Arm schnellte nach vorn und fegte das Telefon vom Tischchen. Es lag auf der Seite am Boden und summte.

Miss Clarvoe setzte sich, starr vor Schreck. In der Glaskugel des Spiegels war ihr Gesicht unverändert, unverletzt; die Stirn war glatt, der Mund fest geschlossen und abweisend, die Haut weiß wie Papier, als wäre sie bereits ausgeblutet. Miss Clarvoe hatte längst kein Blut mehr. Sie war jahrelang stillschweigend innerlich verblutet.

Als die Starrheit des Schocks sich langsam löste, beugte sie sich hinunter, hob das Telefon auf und stellte es wieder auf das Tischchen.

Sie hörte die Haustelefonistin sagen: »Nummer, bitte. Hier ist die Zentrale. Die Nummer bitte. Wollten Sie eine Nummer haben, bitte

Am liebsten hätte sie gesagt, verbinden Sie mich mit der Polizei, so wie die Leute in einem Theaterstück, ganz lässig, als hätte sie die Gewohnheit, die Polizei mindestens zwei- oder dreimal in der Woche anzurufen. Miss Clarvoe hatte noch nie im Leben die Polizei angerufen. Sie hatte sogar noch nie in ihrem dreißigjährigen Leben jemals mit einem Polizisten auch nur gesprochen. Nicht dass sie Angst vor ihnen gehabt hätte. Es lag einfach daran, dass sie nichts mit ihnen zu tun hatte. Sie beging keine Verbrechen, sie hatte [9] nichts mit Verbrechern zu tun, und sie war auch nicht das Opfer irgendwelcher Verbrechen.

»Ihre Nummer bitte?«

»Sind – sind Sie es, June?«

»Ja, gewiss, Miss Clarvoe. Mein Gott, als Sie nicht antworteten, dachte ich schon, Sie wären ohnmächtig oder sonst was.«

»Ich werde nie ohnmächtig.« Wieder eine Lüge. Es wurde schon zur Gewohnheit, zu einer Lieblingsbeschäftigung wie Perlenaufziehen. Eine Halskette von Lügen. »Wie spät ist es, June?«

»Ungefähr neun Uhr dreißig.«

»Haben Sie viel zu tun?«

»Ich bin praktisch allein am Schaltbrett. Dora hat die Grippe. Und ich selbst versuche auch gerade eine zu kurieren.«

Miss Clarvoe schloss aus dem Ton von Selbstmitleid in ihrer Stimme und dem leichten Genuschel ihrer Worte, dass June die Grippe auf eine Art kurierte, die weder von der Direktion noch von Miss Clarvoe selbst gebilligt wurde. »Werden Sie bald abgelöst?«, fragte sie.

»In ungefähr einer halben Stunde.«

»Würden Sie – das heißt, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie zu mir heraufkommen könnten, bevor Sie nach Hause gehen.«

»Was ist denn? Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Miss Clarvoe?«

»Ja.«

»Ach Herrgott noch mal, ich hab doch nicht etwa was…«

»Also, ich erwarte Sie dann kurz nach zehn, June.«

[10] »Gut, ich komme, aber ich weiß noch immer nicht, was ich…«

Miss Clarvoe legte den Hörer auf. Sie wusste, wie man mit June und ihresgleichen umzugehen hatte. Man hängte ein. Man unterbrach die Verbindung. Was Miss Clarvoe sich nicht klarmachte, war, dass sie in ihrem Leben bereits zu viele Verbindungen unterbrochen hatte. Sie hatte zu oft, zu schnell und schon bei zu vielen Menschen eingehängt. Jetzt, mit dreißig, war sie allein. Das Telefon klingelte nicht mehr, und wenn jemand an ihre Tür klopfte, war es nur der Kellner, der ihr das Essen brachte, oder die Frau aus dem Schönheitssalon, um ihr die Haare zu schneiden, oder der Page mit der Morgenzeitung. Es war niemand mehr vorhanden, bei dem man einhängen konnte, außer der Hoteltelefonistin, die früher einmal im Büro ihres Vaters gearbeitet hatte, und einer verrückten Fremden mit einer Glaskugel.

Sie hatte auch bei der Fremden eingehängt, das schon, aber nicht schnell genug. Es war, als hätte ihre Einsamkeit sie gezwungen zuzuhören. Selbst üble Worte waren immer noch besser als gar keine.

Sie durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Flügeltüre, die auf den kleinen Balkon führte. Auf dem Balkon war gerade Platz für einen einzigen Stuhl, und Miss Clarvoe setzte sich und schaute vom dritten Stock auf den Boulevard hinunter. Er wimmelte von Autos und war von Lichtern überflutet. Auf den Bürgersteigen drängten sich die Menschen. Die Nacht war erfüllt von den Geräuschen des Lebens. Sie klangen seltsam für Miss Clarvoes Ohren, wie Laute von einem andern Planeten.

[11] Am Himmel tauchte ein Stern auf, ein erster, bei dem man sich etwas wünschen konnte. Doch Miss Clarvoe wünschte sich nichts. Die drei Stockwerke, welche sie von den Menschen auf der Straße unten trennten, waren so unendlich wie die Entfernung zu diesem Stern hinauf.

June kam später – nach einem kleinen Umweg durch die Bar. Sie kam über die Hintertreppe, die zu Miss Clarvoes Küchentür führte. Auch Miss Clarvoe benutzte manchmal diesen Hinteraufgang. June hatte sie oft hinein- und hinausschlüpfen sehen wie einen dünnen, verängstigten Geist, der die Begegnung mit lebendigen Menschen zu vermeiden sucht.

Die Küchentür war verschlossen. Miss Clarvoe verschloss alles. Es ging das Gerücht um, dass sie in ihrer Suite einen großen...