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Im großen Stil - Ein Fall für Berlin und Wien

Claus-Ulrich Bielefeld, Petra Hartlieb

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257604658 , 400 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Thomas Bernhardt nieste und nieste und nieste… Eine wahre Explosion. Als er endlich wieder Luft bekam, putzte er mehrmals seine Nase. Die gebrauchten Tempo-Taschentücher steckte er links und rechts in seine Hosentaschen, die sichtbar ausgebeult waren. Seine Augen tränten, und er sah den jungen Arzt nur verschwommen, der mit schiefgelegtem Kopf vor ihm stand.

»Eigentlich sollte in Ihrem Alter eine Pollenallergie langsam schwächer werden.«

»Sollte.«

Thomas Bernhardts Stimme klang rauh. Morgens um drei war er mit Atemnot aufgewacht. Er hatte sich auf den Balkon seiner Hinterhauswohnung gestellt und versucht, ruhig zu atmen. Die Bronchien pfiffen, leichte Panik, er hatte sich erst beruhigt, als es hell geworden war und unzählige Vögel in der riesigen Kastanie im Hof zu toben anfingen und ihr morgendliches Lärmkonzert gaben.

Der Arzt wirkte ziemlich ungerührt. »Klare asthmoide Tendenz. Kriegen wir mit einer Kortisonspritze gut in den Griff, die hat Depotwirkung und gibt immer nur kleine Dosen ab, da sind Sie bis September auf der sicheren Seite.«

[8] »Will ich aber nicht, dämpft mich zu stark ab.«

»So? Dann müssen Sie halt ein bisschen leiden.«

Der mochte ihn nicht, sagte sich Bernhardt. Und er mochte ihn auch nicht. Klare Verhältnisse.

Der Arzt setzte noch einen drauf. »Die Psychoanalyse sagt übrigens, dass der Allergiker gar nicht von seinen Beschwerden befreit werden will.«

»Tatsächlich. Will er nicht. Sagt die Psychoanalyse. Und warum will er nicht?«

»Krankheitsgewinn. Er will an sich und der Welt leiden, er will sich bedauern, und er will bedauert werden. Er kultiviert seinen Status als der große Sensible. In Wirklichkeit hat er Angst vor Vitalität und Fruchtbarkeit.«

Bernhardt nieste wieder, putzte sich mit seinem letzten Tempo die Nase und atmete mühsam durch.

»Das ist ja toll, dass Sie mich an Ihrem geballten Wissen teilnehmen lassen. Da soll noch mal einer über die Fließbandmedizin klagen. Nur dreht sich Freud gerade um in seinem Grab.«

Der Arzt hatte wortlos ein Rezept über einen Rachen- und einen Nasenspray ausgefüllt und Bernhardt mit zusammengekniffenem Mund, ohne Abschiedsgruß und ohne Handschlag entlassen.

Draußen wehte ein milder Wind und trieb Blütenstaub durch die Straßen. Ein später Frühling war mit Urgewalt ausgebrochen. Hatte noch jemand daran geglaubt? Anfang November war Berlin in einem grauen Dunst versunken, der sich immer mehr ausgebreitet und die Konturen der Stadt zum Verschwimmen und schließlich beinahe zum Verschwinden gebracht hatte. Die Sonne kam über [9] Monate nicht zum Vorschein, Ende März lagen die Temperaturen unter null Grad, die Seen der Stadt waren zugefroren, im April pfiff ein eisiger Wind, Anfang Mai dümpelten die Temperaturen zwischen acht und zehn Grad. Die Hoffnungen der Menschen auf Wärme sanken ins Bodenlose.

Und dann erstrahlte die Stadt von einem auf den anderen Tag in gleißendem Licht. Das bis dahin schlappe Grün der Bäume leuchtete plötzlich auf, die Straßenfluchten öffneten sich und gewannen an Tiefe und Schärfe, die Menschen liefen unter dem blauen Himmel leicht schwankend und wie betäubt umher, sich und anderen immer wieder versichernd, dass das doch wirklich unglaublich sei. Auf den Straßen hielten sie die blassen Gesichter in die Sonne. Starke Farben gaben der Stadt Kontur, der üppige Duft der blühenden Linden breitete sich aus, eine wohlige Wärme hüllte die Menschen ein.

Selbst das Büro der Mordkommission in der Keithstraße mit seinem großen Besprechungstisch, über den eine Plastikdecke mit Blümchenmuster gespannt war, dieses trübe Büro, mit den an die Wand gepinnten Bildern von Mordopfern, mit der Tafel, auf der oben in großen Buchstaben ›Pro‹ und ›Kontra‹ geschrieben stand, wirkte nun beinahe frisch.

Als Thomas Bernhardt den Raum betrat, waren alle schon da. Bernhardts Kollege, der junge Cellarius, huldigte dem herrlichen Frühlingstag mit einem olivgrünen Anzug und einem blütenweißen Hemd. Cellarius war eine Art weißer Rabe in einer Stadt, in der grundsätzlich textile Nachlässigkeit angesagt war. Krebitz, nur hinter [10] vorgehaltener Hand ›der Nussknacker‹ genannt und wegen seines schnellen Beleidigtseins und des dann folgenden verbissenen Schweigens gefürchtet, trieb es wie gewohnt am weitesten: Er trug eine dreiviertellange Cargo-Hose, darunter Sandalen und graue Socken. Auch die Kollegen Martin und Luther, die gerne gemeinsam auftraten und deshalb »der doppelte Reformator« hießen, gaben sich frühlingshaft locker, beide hatten sich für Hemden mit wildem Karomuster entschieden.

Eine reine Augenweide war hingegen Katia Sulimma, die nach all den Wintermonaten endlich wieder eins ihrer leichten Blümchenkleider trug, auf ihren roten High-heels herumstöckelte und wie ein fröhlicher Amazonas-Kolibri zwitscherte. Den Blumenstrauß auf dem Tisch hatte sicher sie gekauft.

Als gehörte sie nicht dazu, saß Cornelia Karsunke mit geschwollenen Augen am Rande der Gruppe, eingehüllt in eine Aura der Einsamkeit und Melancholie. Oder war’s nur Müdigkeit? Waren ihre beiden kleinen Mädchen wieder einmal krank?

Thomas Bernhardt nieste beim Eintreten, und wie jedes Jahr fühlten sich alle bemüßigt, den heuschnupfengeplagten Chef der Mordkommission zu bedauern und vor allem: ihm Ratschläge zu erteilen. Hatte er es schon mit Gelee Royale versucht? Akupunktur? Hypersensibilisierung? Stündliche Nasendusche mit Meersalz? Hypnose? Broccoli mit Zitrusfrüchten? Impfen? Pestwurz?

Bernhardt winkte ab. Er werde einen Monat nach Helgoland gehen. Die Kollegen reagierten verblüfft: Wirklich? Aber erst, fügte er hinzu, wenn sie diesen verdammten [11] Messerstecher hätten. Seit Monaten versuchten sie, dem Kerl auf die Schliche zu kommen, der eine Joggerin in einem Waldstück attackiert und erstochen hatte und dann mit seinem Mountainbike davongeradelt war. Sie hatten Aussagen von Augenzeugen, sie hatten ein gar nicht so schlechtes Phantombild, sie hatten akribisch gearbeitet, aber sie waren einfach nicht näher an den Mörder herangekommen. Wegen neuer Fälle hatten sie dann ihre Ermittlungen runterfahren müssen. Es war ein Zustand der Schwebe eingetreten, den Bernhardt hasste. Wie jeder unaufgeklärte Fall bereitete ihm auch dieser schlaflose Nächte. Worüber er mit niemandem sprach und was ihm selbst nur zum Teil bewusst war: Bernhardts tiefster Antrieb für seine Arbeit war es, wieder Ordnung zu schaffen, das durch die Tat erzeugte Ungleichgewicht im Weltlauf ein bisschen auszugleichen. Wer gegen das fünfte Gebot verstieß, musste gefasst und bestraft werden. Und das gelang hier nicht. Zudem lagen noch zwei ältere Fälle vor, die ebenfalls unaufgeklärt waren, eine Frau war auf einem Friedhof erstochen worden, ein Zeitungsbote am frühen Morgen in einem Park. Sie hatten keine Verbindungslinien zwischen den Fällen gefunden. Aber Bernhardt fürchtete, dass es einen Irren gab, der ziellos mit einem Messer durch die Stadt lief und irgendwann wieder zuschlagen würde.

Für diesen Tag hatte sich Bernhardt nun vorgenommen, die Fälle noch einmal durchzugehen, vielleicht den einen entscheidenden Hinweis zu entdecken, der zum Messerstecher führte.

Als er in sein Büro gehen wollte, klingelte das Telefon. [12] Er nahm ab, und gleich war klar: Der Messerstecher-Fall musste, zumindest im Moment, auf die lange Bank geschoben werden.

Pankow, Majakowskiring. Von Beginn an spürte Thomas Bernhardt: Dies ist eine Welt, in die du nur schwer hineinfinden wirst. Alles wirkte zu still, der Pulsschlag der Stadt war kaum zu spüren. Ihm schien, als hinge ein unsichtbares riesiges Schild über den Häusern: Bitte nicht stören!

In einem langgestreckten Oval zog sich die Straße durch viel Grün dahin und kehrte in ruhigem Schwung wieder zum Ausgangspunkt zurück. Ein geschlossener Ring, dem sie mit ihrem Auto gefolgt waren, vorbei an Häusern aus den zwanziger Jahren, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sorgfältig restauriert waren, vorbei an neuen viereckigen, weißen Hauskisten, ziemlich armselige Bauhaus-Kopien, wie Bernhardt fand, vorbei an Baustellen, wo weiße Steinplatten, die wie Styropor aussahen, zusammengeklebt wurden. Immerhin gab es ein neues schön geschwungenes Haus, das sich an der östlichen Biege des Ovals wie ein großer Schiffsbug auf das dichte Grün eines Parks zuschob.

Endlich näherten sie sich dem Flatterband und einem Grüppchen Schaulustiger, das sich vor einem kleinen, mit Efeu überwucherten Haus versammelt hatte. Der Garten war leicht verwildert, ein paar blühende Fliederbäume, ineinander verhakte Wildrosenbüsche und krüpplige Obstbäume breiteten sich aus. Bernhardts erster Eindruck: ein verwunschenes Haus, ein Haus, das sich der [13] Anpassung an die neuen Zeiten widersetzte. Hellen Verputz, Carport, solide Messingzäune, gerne auch mit nach außen gekehrten Spitzen, wie er sie später bei seinen Rundgängen durch die Straße missmutig registrierte – das gab’s hier nicht.

Als Bernhardt mit Cornelia Karsunke und Cellarius auf das Haus zuging, krampfte sich sein Magen zusammen. Wie ihm das alles zuwider war, er würde sich nie damit abfinden: die Neugierigen, die Presse, die Leiche. Das alte Schlachtross von der Regionalschau, das – aus Erfahrung klug – mit geradezu demütiger Gestik und Mimik auf ihn zukam, schnauzte er an, er konnte einfach nicht anders: »Wie lange wollen Sie eigentlich diesen Scheißjob noch machen?« Der Reporter antwortete schlagfertig:...