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Kein Entrinnen - Roman

Romain Sardou

 

Verlag Heyne, 2008

ISBN 9783894804411 , 447 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR

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1
3. Februar 2007
 
»Das Schlimmste, das garantiere ich Ihnen, ist das Aussteigen aus dem Auto …«
Dieser unvergängliche Gedanke stammte aus Kalifornien, genauer gesagt aus Hollywood. Mit diesen Worten beschrieben die Filmregisseure den »unangenehmsten« Teil ihres Berufs, nämlich das allmorgendliche Verlassen des Autos nach der Ankunft am Drehort. Eine Schar von Assistenten erwartete sie dort und bestürmte sie mit Fragen und Problemen, die auf der Stelle gelöst, und mit Entscheidungen und noch mehr Entscheidungen, die sofort gefällt werden mussten. Nichts als Komplikationen. In diesen Minuten spürte man, laut Kubrick und Spielberg höchstpersönlich, im Innersten nur einen einzigen drängenden Wunsch: kehrtzumachen und sich wieder ins Bett zu legen.
In dieser eiskalten Winternacht des Jahrs 2007 saß Colonel Stu Sheridan, der Chef der Staatspolizei von New Hampshire, zusammengekauert in seinem Auto, während er sich dem düsteren Schauplatz eines Verbrechens näherte, und dachte, dass die Maxime aus Hollywood auch sehr gut zu seinem Beruf als Cop passte. Geradezu perfekt sogar.
Eine halbe Stunde zuvor hatte ihn ein Anruf seines ersten Stellvertreters Lieutenant Amos Garcia geweckt. Dieser hatte ihm ohne ein Wort der Einleitung oder Entschuldigung für den morgendlichen Überfall mitgeteilt, dass er ihm einen Fahrer schicken werde. Es gab – so seine eigenen Worte – eine »gewaltige Schweinerei« auf der Baustelle für die neue Interstate 393 zwischen Concord und Rochester mitten im Wald von Farthview Woods. Sheridan kannte den Ort: Seit einem Jahr befand sich dort eine öffentliche Baustelle für den Ausbau der Autobahn, ein Durchstich von fünfzehn Kilometern durch den Wald mit Teilabschnitten auf Pfeilern, die die eingedämmten künstlichen Seen überbrücken sollten.
Auf einen Ellbogen gestützt entzifferte Sheridan auf seinem Wecker, dass es vier Uhr war. Mit abgehackten Worten setzte sein Stellvertreter ihn summarisch über die chaotische Lage in Kenntnis.
»Worum geht es? Ein Verbrechen?«
Garcia zögerte.
»Schwer zu sagen, Chef. Um ehrlich zu sein, ich hab die Augen noch nicht offen genug, um zu zählen, wie viele Leichen wir am Hals haben!«
»Scheiße. Okay. Ich mache mich fertig«, antwortete der Colonel. Der Lieutenant beendete das Gespräch abrupt. Sheridan rollte sich langsam ans Fußende des Betts, um seine Ehefrau nicht zu wecken. Er tappte im Dunkeln vorwärts und griff nach seinen Kleidern vom Vortag, die auf einem Sessel lagen.
Colonel Stuart Sheridan war ein Riese mit dem Nacken eines Lineman im Football, einem vierschrötigen Oberkörper und keinem Gramm Fett am Gürtel. Diese Statur ließ unweigerlich alle, die mit ihm sprachen, die Stimme senken. Sie war ein Geschenk für einen Mann mit Polizeimarke, vor allem in Zeiten nächtlicher Patrouillen. Anders als die Kraft des Fünfzigjährigen hatten dessen Gesichtszüge allerdings den Zenit des halben Jahrhunderts schon vor langer Zeit überschritten. Dreißig Jahre Dienst, bezahlt mit großen Krähenfüßen an den Schläfen, Tränensäcken unter den Augen und langen, tief eingegrabenen Furchen auf der Stirn. Sein Bürstenhaarschnitt war eisengrau und licht geworden; sein mit Narben bedecktes Gesicht erinnerte ihn an seine Jugend, an seine »Westernphase«, in der keine Untersuchung ohne eine Schlägerei abging. Heute herrschte Stu Sheridan ohne diese direkten Kontakte mit der Verbrecherwelt über die Staatspolizei, eine einflussreiche Position, die ihm niemand streitig machte.
Er ging ins Wohnzimmer hinunter, um seine Uniform anzuziehen. Während er seinen Gürtel umschnallte, bemerkte er die zwei weißen Lichtkegel der Scheinwerfer eines Autos, das vor seiner Vortreppe anhielt. Er sah außerdem dicke Schneeflocken, die eine Windböe davontrug. Es war der 3. Februar; der Schnee hatte lange auf sich warten lassen, dafür schneite es an diesem Morgen mit unversehener Heftigkeit.
Der Elitepolizist ließ seine Glock Kaliber 45 Automatik ins Holster gleiten und drückte sich den Stetson seiner Polizeitruppe auf den Kopf. Sowie er die Tür geöffnet hatte, fiel ihn der Wind an. Ein Zivilfahrzeug wartete mit laufendem Motor auf der anderen Straßenseite auf ihn. Sein Auspufftopf spuckte eine unglaubliche Menge weißen Qualm aus. Ein junger Mann von der Polizeischule stieg aus, um ihn zu begrüßen, und stammelte eine Höflichkeitsfloskel. Der Chef antwortete mit einem knappen: »Beeilung!«, bevor er die Autotür zuwarf.
Der Wagen verließ das Stadtgebiet von Concord, der Hauptstadt von New Hampshire, und schlug die Richtung des Walds von Farthview Woods ein. Die beleuchteten Straßen verschwanden ebenso wie die Ampeln an den Kreuzungen, bald auch die einsamen Behausungen. Es war pechschwarze Nacht.
Und überall schneite es.
»Das hat uns gerade noch gefehlt …«, dachte der Colonel. Er sah schon die umgekippten Sattelschlepper, die durchtrennten Hochspannungsleitungen und die kaputten Generatoren mitsamt den aufgeregten alten Farmern vor sich. Und die schwangeren Frauen. Im Lauf des Winters brachte man es so gut wie immer auf ein oder zwei Frauen, die in ihrem Auto auf dem Weg ins Krankenhaus festsaßen. Stets war es ein Polizist, der als Erster auf ihren Hilferuf antwortete. Und oft war es der gleiche Polizist, der auf seiner Rückbank dann half, das Kind zur Welt zu bringen. Die ersten Schneefälle in dieser Intensität waren immer Vorboten einer Menge Ärger.
Er sagte sich außerdem, dass es schon eine ganze Weile her war, dass man ihn nicht mehr mitten in der Nacht geweckt hatte. Jener berühmte Anruf, nach dem man plötzlich vor einer aus dem See gezogenen Wasserleiche steht oder vor einer Rothaarigen, die von einem Freier abgeschlachtet wurde. Als hohes Tier hatte er inzwischen alles Übrige am Hals: die Einbrüche, die Tätlichkeiten, die Sicherheit von Demonstrationen, die Berichte an die Politiker, die offiziellen Kanäle, die Pressekonferenzen und so weiter. Eine unermessliche Zahl vollgekritzelter Papiere für eine unermessliche Zahl von Bereichen. Daher respektierte man im Allgemeinen seinen Schlaf.
Ich hab die Augen noch nicht offen genug, um zu zählen, wie viele Leichen wir am Hals haben!
Die Polizei von New Hampshire konnte sich rühmen, eine anormal niedrige Kriminalitätsrate zu haben. Sheridan dachte daran, dass seine Zahlen in die Höhe schnellen würden, wenn ihn bei Garcia vier oder gar fünf Leichen erwarteten.
Es war bei seiner Ankunft am Rand der Baustelle, als ihm der Satz der Hollywood-Regisseure einfiel. Zunächst herrschte vollkommene Dunkelheit, Mauern von Bäumen ragten ringsum in den Himmel, und dann brach plötzlich aus einer grell leuchtenden Scheibe im Nirgendwo eine Lichtflut hervor. Ein gutes Dutzend Polizeiwägen standen dort, Fords der Marke Crown Victoria mit eingeschaltetem Blaulicht; die Scheinwerfer der Baufirma ergossen ein bläuliches Licht, riesige Generatoren brummten und dampften wie U-Bahn-Eingänge, phosphoreszierende gelbe Bänder schwankten im Wind, ein Hubschrauber schwebte in geringer Höhe darüber und tastete mit seinem Suchscheinwerfer die Wälder ab, und Fotoblitze zuckten auf. Auf der Baustelle herrschte Stillstand, kein Arbeiter war anwesend, kein Zuschauer, kein Übertragungswagen war zu sehen: nur die Cops und die Kriminaltechniker.
Der Schauplatz eines Verbrechens in den ersten Augenblicken.
»Mir blieb nichts anderes übrig, als Sie zu holen, Chef«, sagte Amos Garcia.
Der Stellvertreter war um die vierzig, ein Latino aus Ford Lauderdale in Florida. Seit sieben Jahren arbeitete er eng mit Sheridan zusammen.
»Zum Glück bin ich schon früh am Tatort eingetroffen, sodass ich einen ziemlich großen Bereich absperren konnte. Sonst hätten unsere Leute alles mit ihren Stiefeln zertrampelt. Von der örtlichen Polizei ganz zu schweigen. Es muss unweigerlich eine Menge Spuren geben, unter dem frischen Schnee dort. Es muss
Er war angespannt. Das ähnelte ihm nicht. Garcia belastete sich an einem Einsatzort nicht mit Gefühlen.
»Kommen Sie, es ist hier drüben«, sagte er.
Im Gehen registrierte der Chef die Anwesenheit von vier Krankenwagen und eine erhebliche Anzahl von Tragen und Bahren wie bei einem Auto- oder Zugunfall. Ein alter Schwarzer saß mit verängstigtem Gesicht auf einem Plastikstuhl vor zwei Polizisten, die einen Abdruck seiner Stiefelsohlen nahmen. In seiner Nähe wartete ein großer Hund. Eine Armada von Baumaschinen war entlang der Sandhügel und Erdaufschüttungen geparkt. Offensichtlich waren die Arbeiten auf der Baustelle seit mehreren Stunden zum Erliegen gekommen.
Die zwei Männer schlüpften unter den gelben Absperrbändern hindurch, die den Tatort umgaben, und gingen einen mit Holzpflöcken markierten Weg entlang. Sie erreichten ein Loch von acht Metern Breite, das zwei Meter tief und vollkommen eben war. Es gab mehrere davon in regelmäßigen Abständen auf der Baustelle. Sie markierten die Stellen, an denen demnächst jene Betonpfeiler stehen sollten, die die Autobahn tragen würden.
Im Innern der Grube erblickte Sheridan eine formlose, dunkle Masse, die zum Teil von Schnee bedeckt war. Sein Blick fiel auf das Gesicht einer jungen blonden Frau, dann auf einen alten Mann neben ihr, dann eine weitere, braunhaarige Frau mittleren Alters … und auf weitere Gesichter und Körper. Körper überall.
»Es sind mehr als zwanzig«, sagte Garcia. »Vierundzwanzig.«
Sheridan traute seinen Augen nicht. Erstarrt und schweigend stand er an der Grube. Er spürte, wie die Kälte, die um ihn herrschte, in seine Knochen drang. Er schauderte.
...