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Der letzte Morgen - Thriller

Ryan David Jahn

 

Verlag Heyne, 2015

ISBN 9783641134259 , 528 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

Eins

Seht euch diesen Jungen an, wie er da auf der Bettkante sitzt. Seine Füße berühren nicht den Boden. Er trägt nichts am Leib als weiße Socken und Unterhosen. Ansonsten ist seine schmale Gestalt nackt. Die Socken hängen an seinen Füßen wie kleine leere Säcke. Die Stirnfransen, von seiner Mutter mit der Schere gestutzt, fallen ungleichmäßig über die Augenbrauen. Eine verschorfte Wunde entstellt seine Unterlippe, und seine Oberlippe ist rissig, weil er vor lauter Nervosität ständig an ihr leckt. Die schmalen Schultern lässt er hängen, die Wirbelsäule führt wie eine Knochenleiter seinen blassen sommersprossigen Rücken hinauf. Er blickt auf seinen Schoß. Dort ruhen seine Hände. Zwischen den Handflächen hält er wie ein Heiligtum eine kleine selbst gebastelte Pistole.

Sein Stiefvater hält seine Waffe irgendwo unter Verschluss, aber die Munition bewahrt er in seiner Sockenschublade auf. Der Junge, Sandy, hat sie ganz zufällig gefunden. Er stöberte im Schlafzimmer seiner Mutter und seines Stiefvaters nach ein paar Geldstücken, denn er wollte ins Kino gehen und eine Tüte Popcorn essen. Aber statt Kleingeld fand er die Patronen. Sie lagen in einer kleinen Pappschachtel. Er nahm sich nur drei, denn er dachte, damit würde er davonkommen. Bis jetzt hat es geklappt.

Zwei Wochen sind vergangen.

Während der ersten paar Tage trug Sandy die Patronen in der Tasche seiner wollenen Schulhose mit sich umher, und sobald er auch nur einen Moment allein war, holte er sie hervor und inspizierte sie. Mehrmals ging er in der Schule auf die Toilette und schloss sich in einer der grün angestrichenen Kabinen ein, damit er sie in der Hand halten und betrachten konnte. Sie fühlten sich in der Hand schwerer an als in der Tasche. Bedeutsamer.

Er stellte sich vor, in der Lage zu sein, seinen Stiefvater zu erschießen. Dadurch wäre allem ein Ende gemacht. Er müsste keine Angst mehr haben, nicht in seinem eigenen Zuhause. Dann wäre dieser Mann, der so tat, als könne er seinen Dad ersetzen, weg. Dieser Mann, den er hasste und der ganz bestimmt auch ihn hasste, wäre weg.

Er hatte nicht die Absicht, diese Fantasievorstellung in die Tat umzusetzen. Anfangs nicht. Er hatte Dutzende anderer Wunschträume gehabt, und aus ihnen war nichts geworden. Jedenfalls nicht bis zum letzten Sommer, als er sich vorgestellt hatte, seinen Stiefvater zu erstechen, und dabei die Wut an einer Katze ausgelassen hatte. Später tat es ihm leid, das kleine Ding getötet zu haben, aber während er es tat, hatte er nur an diesen Mann gedacht, den er verabscheute. Nein, er hatte überhaupt nicht gedacht. Aber auch damals war er weit davon entfernt, seinen Stiefvater tatsächlich zu erstechen. Sogar mit einem Messer fühlte er sich schwach und klein. Und das tut er immer noch. Er fühlt sich wie ein jämmerlicher Feigling.

Immer wenn er von der Schule nach Hause kommt, immer wenn er durch die Eingangstür tritt, verkrampft sich sein Magen vor Angst und Abscheu. Er geht gleich in sein Zimmer, hofft, sein Stiefvater sieht und hört ihn nicht, hofft, wie ein Gespenst vorüberhuschen zu können. Er versteckt sich bis zum Abendessen, macht seine Hausaufgaben und liest in seinen Comics. Beim Essen sitzt er stocksteif da, isst, ohne ein Wort zu sagen außer Bitte und Danke, isst trotz Magendrücken und versucht, lautlos zu kauen. Niemals würde er seine Ellbogen auf den Tisch stützen. Als er letztes Mal so unachtsam war, hat ihm sein Stiefvater die Gabel in den Handrücken gestoßen. Später hörte er, wie Neil seiner Mutter sagte, er habe nicht die Absicht gehabt, den Jungen zu verletzen, sondern nur erreichen wollen, dass er bei Tisch Manieren zeige. Dabei lachte er. Doch was auch immer sein Stiefvater im Sinn gehabt haben mochte, Sandy konnte seine Hand tagelang nicht gebrauchen. Die kleinen Löcher färbten sich schwarz, und die umgebende Haut wurde rot. Die Hand schwoll an und schmerzte so heftig, dass er nicht einmal den Bleistift halten konnte.

Schon bald erwischte er sich dabei, dass er überlegte, wie er an eine Schusswaffe kommen könne. Er stöberte nach der Waffe seines Stiefvaters, fand sie aber nicht, nicht einmal einen Safe, in dem sie hätte weggeschlossen sein können. Er brach in zwei Häuser weiter unten an der Straße ein, während er in der Schule hätte sein müssen, aber auch danach stand er mit leeren Händen da. Er hatte keine Ahnung, was er noch tun sollte. Der Wunschtraum, der eben begonnen hatte, reale Gestalt anzunehmen, drohte zu platzen, sich in Luft aufzulösen.

Dann kam ihm der Gedanke, selbst eine Schusswaffe zu basteln.

Vergangenes Jahr hatte sein Freund Nathan eine Schrotpatrone gefunden. Sie waren daraufhin in Nathans Garage gegangen, hatten die Patrone im Schraubstock seines Vaters festgeklemmt und mit dem abgerundeten Ende eines Schlosserhammers bearbeitet. Sie explodierte, stanzte ein Dutzend Löcher in das Garagentor und riss schartige Holzstücke heraus. Spitze Splitter ragten nach vorn aus der Tür, und das kreisrunde Loch, das die Kugeln gerissen hatten, war größer als ein Essteller. Faszinierend, aber auch furchterregend. Nathan bekam eine Woche Hausarrest und durfte nicht mehr mit Sandy spielen. Seine Eltern behaupteten, Sandy übe schlechten Einfluss aus. Sie sagten, Sandy habe ihm den Ärger eingebrockt. Es war Nathans Idee gewesen, aber so war es ja immer.

Er wird in der Schule von den anderen Kindern geärgert. Lehrer geben ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, wenn es doch sein Nachbar war, der tuschelte. Wenn er einen Laden betritt, wird er so gut wie immer vom Besitzer angeranzt. Manchmal, weil er in einem Comic geschmökert hat, ohne ihn anschließend zu kaufen, manchmal völlig grundlos. Einfach, weil er da ist und so aussieht, als könne man an ihm besonders gut seine Wut ablassen. Die Leute mögen seinen Anblick nicht. Menschen, denen er zufällig auf der Straße begegnet, finden Vorwände, ihn anzugiften – zum Beispiel, wenn er ihnen aus Versehen auf den Fuß tritt oder sie anrempelt, weil er so eilig zur Schule rennt.

Sein Stiefvater ist – ganz klar – der schlimmste von allen.

Sandys Mutter hat ihm gesagt, er sei ein Blitzableiter. Manche Leute, hat sie gesagt, haben einfach Gesichter zum Reinschlagen. Und zu denen gehörst du, Sandy. Warum, weiß ich auch nicht. Aber deswegen musst du besonders hart im Nehmen sein. Du musst auf der Hut sein, und du musst tough sein.

Aber er hat es satt, tough zu sein. Und ein Blitzableiter ist er auch nicht. Nein, er ist ein Gefäß. Die ungestüme Kraft fließt nicht durch ihn hindurch und wird in den Erdboden geleitet, ohne Schaden anzurichten; er ist von der Gewalt erfüllt, die jetzt überbordet. Er spürt, dass sie aus ihm hervorsprudelt wie eine kochende Flüssigkeit.

Er weiß, dass er in die Hölle kommen wird. Als er elf Jahre alt war, erschien ein Priester namens Billy Graham in der Stadt und hielt in einem großen Zelt am Washington Boulevard Erweckungstreffen ab. Seine Mutter nahm Sandy eines Abends nach dem Essen zu einem dieser Treffen mit. Er hörte viel von der Hölle, und dieses Gerede ging ihm nicht aus dem Sinn. Deswegen weiß er, dass er dort landen wird, aber es stört ihn nicht. Nicht einen einzigen Tag kann er noch mit seinem Stiefvater zusammenleben.

Um die Pistole zu bauen, faltete Sandy eine Straßenkarte so lange, bis sie sich bequem als Griff verwenden ließ. Da sie bereits gefaltet war, musste sie nur noch zweimal geknickt werden, bis sie die richtige Größe hatte. Zuerst faltete er sie der Länge nach, danach umgekehrt. Sie wurde als Griff überraschend robust. Er legte die Antenne in den Knick des letzten Falzes und befestigte sie mit Klebeband. Anschließend konnte er, selbst wenn er es gewollt hätte, die Antenne nicht mehr aus dem Griff ziehen.

Danach ließ er sein Werk ein paar Tage ruhen. Es sah durchaus nach einer Schusswaffe aus, und die Patronen, die er seinem Stiefvater entwendet hatte, passten ganz prima in den Lauf. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er die selbst gebastelte Waffe hätte abfeuern können.

Das Problem bestand darin, dass seine Fingerfertigkeit zur Ausführung seiner Geistesblitze nicht reichte. Alle seine Einfälle erwiesen sich als viel zu kompliziert.

Dann aber, als er auf der anderen Seite von Bunker Hill aus seiner Schleuder Steine auf Bierdosen schoss, kam er auf die Lösung. Er zerschnitt ein Gummiband, führte es durch das Loch einer metallenen Unterlegscheibe und befestigte die beiden Enden am Griff der Waffe, sodass er nur die Unterlegscheibe zurückziehen und dann loslassen musste, damit sie gegen das hintere Ende der Patrone prallte und ein Schuss abgefeuert wurde.

Päng.

Bei den ersten beiden Versuchen traf er seinen Knöchel, die Scheibe prallte hart gegen den Knochen, und beim zweiten Mal floss sogar Blut, aber beim dritten Anlauf klappte es. Der Knall war nicht annähernd so laut, wie er angenommen hatte: kein krachendes Päng, sondern nur ein leises Puff. Die Kugel schlug ein Loch in den Zimmerboden, und die leere Hülse wurde hinten an der Waffe ausgeworfen und traf ihn am rechten Arm. Seine Mutter kam herein und fragte, was ist das für ein Krach, den ich gerade gehört habe, und er sagte, ich weiß auch nicht, Mom, und sie sagte, komisch, ich hätte schwören können, was gehört zu haben, und blieb dann einen Augenblick in der Tür stehen. Sie sah ihn argwöhnisch an, und er dachte, dass sie wohl Bescheid wusste, vielleicht sogar den Pulverdampf...