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Cibola brennt - Roman

James Corey

 

Verlag Heyne, 2015

ISBN 9783641152741 , 656 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

PROLOG   Bobbie Draper

Tausend Welten, dachte Bobbie, als sich die Türen der Röhre schlossen. Nein, es waren nicht nur tausend Welten, sondern tausend Sternensysteme. Sonnen, Gasriesen, Asteroidengürtel. Genau das, was die Menschheit schon einmal in Besitz genommen hatte, nur eben tausendfach vervielfältigt. Die Bildschirme über den Sitzen auf der anderen Seite zeigten einen Newsfeed, doch die Lautsprecher waren kaputt, und die Stimme des Sprechers war zu stark verzerrt, um die Worte verstehen zu können. Das Schaubild, das neben ihm herein- und herauszoomte, verriet ihr jedoch alles, was sie wissen musste. Von den Sonden, die man durch die Tore geschickt hatte, waren neue Daten hereingekommen. In diesem Moment zeigten sie ein Bild eines unvertrauten Zentralgestirns mit eingezeichneten Kreisen für die Umlaufbahnen der neuen Planeten. Alle waren leer. Wer auch immer das Protomolekül erschaffen und vor unermesslich langer Zeit in Richtung Erde abgeschossen hatte, er war nicht mehr da. Die Erbauer der Brücke hatten der Menschheit den Weg geebnet, doch von der anderen Seite kam keine übermächtige Gottheit herüber.

Erstaunlich, wie schnell die Menschheit von »Welche unvorstellbare Intelligenz hat diese Ehrfurcht gebietenden Wunder erschaffen?« bis zu »Nun, da sie nicht mehr da sind, kann ich jetzt ihre Sachen haben?« fortgeschritten ist, dachte Bobbie.

»Verzeihung«, ließ sich die asthmatische Stimme eines Mannes vernehmen. »Sie haben nicht zufällig ein bisschen Kleingeld für einen Kriegsveteranen übrig?«

Sie wandte den Blick vom Bildschirm ab. Der Mann war schmal und hatte ein graues Gesicht, der Körper wies die Anzeichen eines Menschen auf, der unter niedriger Schwerkraft aufgewachsen war: ein langer Rumpf, ein großer Kopf. Er leckte sich über die Lippen und beugte sich vor.

»Sie sind also ein Veteran?«, fragte Bobbie. »Wo haben Sie gedient?«

»Ganymed«, erklärte der Mann nickend und bemühte sich sehr, ein wenig Haltung anzunehmen. »Ich war da, als dort alles zusammenbrach. Kaum dass ich wieder hier war, setzte mich die Regierung an die Luft. Jetzt versuche ich, genug zusammenzubekommen, um mir eine Überfahrt nach Ceres leisten zu können. Da habe ich Verwandte.«

In Bobbies Brust baute sich ein Zorn auf, den sie geflissentlich für sich behielt. Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken. »Haben Sie es schon bei der Veteranenhilfe versucht? Vielleicht kann man dort etwas für Sie tun.«

»Ich brauch nur was zu essen«, entgegnete er. Es klang erheblich aggressiver als zuvor. Bobby blickte im Waggon hin und her. Normalerweise waren um diese Zeit immer einige Menschen unterwegs. Die Wohnviertel unter Aurorae Sinus waren mit Vakuumröhren verbunden und bildeten ein Teil des großen Terraforming-Projekts auf dem Mars, das schon vor Bobbies Geburt begonnen hatte und noch lange nach ihrem Tod weiterlaufen würde. Sie überlegte, wie der Bittsteller sie wahrnahm. Sie war groß gewachsen und schlank, dabei aber durchaus kräftig. Im Moment saß sie allerdings, und der Pullover war recht weit. Möglicherweise glaubte er, unter dem Stoff seien umfangreiche Fettschichten verborgen. Das war jedoch nicht der Fall.

»In welcher Einheit haben Sie gedient?«, fragte Bobbie. Er blinzelte verdutzt. Anscheinend war er davon ausgegangen, dass sie sich ein wenig vor ihm fürchtete. Nun reagierte er verunsichert, weil sie sich nicht beeindrucken ließ.

»Einheit?«

»In welcher Einheit haben Sie gedient?«

Wieder leckte er sich über die Lippen. »Ich will jetzt wirklich nicht …«

»Es ist schon komisch«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich hätte schwören können, dass ich so ziemlich jeden kenne, der sich auf Ganymed befand, als die Kämpfe ausbrachen. Wenn man so etwas erlebt, vergisst man es nie, weil man dabei eine Menge Freunde sterben sieht. Welchen Rang haben Sie bekleidet? Ich war Gunnery Sergeant.«

Das fahle Gesicht war jetzt verschlossen und kreidebleich, der Mann presste die Lippen zusammen, schob die Hände tiefer in die Hosentaschen und murmelte irgendetwas.

»Was nun?«, fuhr Bobbie fort. »Dreißig Stunden in der Woche arbeite ich bei der Veteranenhilfe und bin ziemlich sicher, dass wir einem ehrbaren Veteranen wie Ihnen ein wenig unter die Arme greifen könnten.«

Als er sich umdrehte, hielt sie ihn blitzschnell am Ellbogen fest und packte energisch zu. Vor Angst und Überraschung schnitt er eine Grimasse. Sie zog ihn an sich und erklärte es ihm mit scharfen, genau bemessenen Worten.

»Denken Sie sich eine andere Geschichte aus.«

»Ja, Madam«, antwortete er. »Ja, das mache ich.«

Der Waggon ruckte, der Bremsvorgang für den ersten Halt in Breach Candy begann. Sie ließ ihn los und stand auf, und sobald sie sich ganz aufgerichtet hatte, riss er die Augen noch ein wenig weiter auf. Ihre Vorfahren stammten aus Samoa, und so wie dieser Mann reagierten manchmal auch andere Menschen, die sie falsch eingeschätzt hatten. Gelegentlich hatte sie deshalb sogar ein schlechtes Gewissen, aber nicht heute.

Ihr Bruder lebte in einem schicken Mittelklasse-Wohnloch in Breach Candy, nicht weit von der Fachhochschule entfernt. Nachdem sie vor einer Weile auf den Mars zurückgekehrt war, hatte sie zunächst bei ihm gewohnt und versucht, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, was allerdings mehr Zeit erfordert hatte als erwartet. Nun fand sie, sie sei ihrem Bruder etwas schuldig, und die Abendessen mit seiner Familie waren ein Teil der Wiedergutmachung.

Die Gänge von Breach Candy waren nahezu menschenleer. Sobald sie sich näherte, sprang die Werbung an den Wänden an, und die Gesichtserkennung erfasste sie und wählte die Produkte und Dienstleistungen aus, die nach Ansicht der Werbetreibenden für sie infrage kamen: Partnervermittlungen, Fitnessstudios, Schawarma-Schnellimbisse, der neue Film von Mbeki Soon, psychologische Beratung. Sie wünschte sich, es wären mehr Menschen und damit noch ein paar weitere Gesichter unterwegs, die für etwas mehr Vielfalt sorgten. Damit sie sich einreden konnte, die Werbung sei wohl doch eher für jemanden gedacht, der in der Nähe vorbeiging, und nicht für sie.

Breach Candy war lange nicht mehr so dicht bevölkert wie noch vor einiger Zeit. In den Röhrenbahnhöfen und den Gängen waren weniger Menschen unterwegs, und auch beim Veteranenhilfsprogramm dünnte der Besucherstrom aus. Auf der Universität war die Zahl der Einschreibungen um sechs Prozent zurückgegangen.

Bisher hatten die Menschen auf den neuen Welten noch keine lebensfähige Kolonie eingerichtet, doch die Daten der Sonden verrieten genug. Die Menschheit hatte die Grenzen ihrer Welt erweitert, und die Städte auf dem Mars bekamen die Konkurrenz zu spüren.

Der kräftige Duft des Gumbo, den ihre Schwägerin zubereitet hatte, drang ihr sofort in die Nase, als sie durch die Tür trat. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ihr Bruder und ihr Neffe stritten sich so laut, dass sich ihr Bauch verkrampfte, aber die beiden waren ihre Verwandten, die sie liebte. Sie war ihnen etwas schuldig, auch wenn sie im Moment den Gedanken an eine Schawarmabude schrecklich verlockend fand.

»… nicht, was ich sage«, rief ihr Neffe. Er ging inzwischen auf die Universität, doch wenn er sich mit dem Vater stritt, hörte sie immer noch den Sechsjährigen heraus.

Ihr Bruder schmetterte eine Antwort und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, als er seine Argumente vorbrachte. Trommeln als rhetorisches Mittel. Auch ihr Vater hatte diese Angewohnheit gehabt.

»Der Mars ist mehr als nur eine Möglichkeit.« Klack. »Er ist auch nicht die zweite Wahl.« Klack. »Die Tore und das, was sich da auf der anderen Seite befindet, sind nicht unsere Heimat. Das Terraforming …«

»Ich habe doch gar nichts gegen das Terraforming«, gab ihr Neffe zurück, als sie das Wohnzimmer betrat. Die Schwägerin nickte ihr aus der Küche zu. Bobbie grüßte wortlos zurück. Das Esszimmer schloss sich direkt an das Wohnzimmer an, wo ein stumm geschalteter Newsfeed lief, der Teleaufnahmen der unbekannten Planeten zeigte, während ein adretter schwarzhäutiger Mann mit einer Drahtbrille mit sonorer Stimme Erläuterungen lieferte. »Ich will damit nur sagen, dass wir eine Menge neue Daten bekommen. Daten – nicht mehr und nicht weniger.«

Die beiden belauerten sich quer über den Tisch hinweg, als stünde ein unsichtbares Schachbrett zwischen ihnen. Ein Spiel, das ihre ganze Konzentration und Intelligenz forderte und das sie derart in Anspruch nahm, dass sie die ganze Welt rings um sich vergaßen. In gewisser Weise traf dies sogar zu. Die beiden würdigten Bobbie keines Blickes, als sie sich an ihren Platz setzte.

»Auf keinem Planeten gibt es so viele Bildungsangebote wie auf dem Mars«, beharrte ihr Bruder. »Die vielen neuen Daten spielen überhaupt keine Rolle, weil sie nichts mit dem Mars zu tun haben! Sie interessieren uns nicht! Wenn du dir Bilder von tausend anderen Tischen ansiehst, erfährst du nichts über denjenigen, an dem du sitzt.«

»Wissen ist immer gut«, erklärte ihr Neffe. »Das hast du mir selbst oft gesagt. Ich verstehe gar nicht, warum du dich jetzt so dagegen...