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Dornröschenschlaf - Drei Erzählungen von der Nacht

Banana Yoshimoto

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257606454 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[77] Wanderer der Nacht

My Dear, SARAH

It was spring when I went to see my brother off.

When we arrived at the airport his girlfriends who were dressed in beautiful colors waited for him.

Oh, I was sorry, in these days he had many lady loves.

The sky was fair…

Voll Wehmut hielt ich beim Aufräumen inne, als mir aus den Tiefen der Schublade der alte Zettel mit dem Entwurf für den Brief in die Hände fiel. Wieder und wieder las ich die englischen Worte, als hätten sie mir etwas zu erzählen.

Es war ein Brief an Sarah, eine Austauschstudentin aus Amerika. Mein Bruder Yoshihiro, der vor einem Jahr gestorben ist, war in seiner Oberschulzeit mit ihr zusammengewesen. Kaum war Sarah nach Boston zurückgekehrt, hatte Yoshihiro ständig davon geredet, auch mal im Ausland leben zu wollen, und war ihr kurze Zeit später aus einer Laune heraus gefolgt. Fast ein ganzes Jahr war er drüben geblieben, hatte gejobbt oder einfach nur rumgehangen…

Während ich las, erinnerte ich mich Stück für Stück wieder an damals. Der Brief war meine Antwort auf einen Brief von Sarah, in dem sie mir berichtete, was Yoshihiro in [78] letzter Zeit so gemacht hatte. Sie war besorgt, weil er ganz plötzlich verschwunden war und kaum von sich hören ließ. Ich, ein Oberschulmädchen, das sich damals die heutige Situation nicht im Traum hätte vorstellen können, hatte dann diesen Brief an das sanfte und schöne American girl geschrieben, mit klopfendem Herzen und dem Finger im Wörterbuch. Ja, Sarah – ein richtig süßes Mädchen mit klugen blauen Augen war sie. Alles Japanische machte ihr Spaß, und immer lief sie hinter meinem Bruder her. »Yoshiheero« hier, »Yoshiheero« da. Ihre Stimme floß geradezu über vor Liebe, wenn sie seinen Namen rief.

Sarah.

Plötzlich hatte Yoshihiro die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen. »Hier, kannst sie ruhig fragen, wenn du was nicht weißt in Englisch.« Mit dieser feinfühligen Vorstellung hatte er mich zum ersten Mal mit ihr zusammengebracht. Das war, als Sarah mit meinem Bruder auf ein Sommerfest in einem Schrein in der Nachbarschaft gegangen und auf dem Heimweg noch bei uns vorbeigekommen war. Ich saß damals gerade am Schreibtisch und brütete über den Hausaufgaben, die wir für den Sommer aufbekommen hatten. Weil Sarah sich extra angeboten hatte, beschloß ich, mir den Englischaufsatz von ihr schreiben zu lassen. Da sie sehr hilfsbereit schien, hätte ich mich unwohl gefühlt abzulehnen. Obwohl ich ungelogen einzig in Englisch schon immer Spitze war.

»Also, ich laß dir Sarah, aber nur für eine Stunde, dann bringe ich sie nach Hause«, sprach mein Bruder und verschwand ins Wohnzimmer, um fernzusehen.

»Tut mir leid, wenn ich euer date störe«, hatte ich mich [79] in holprigem Englisch entschuldigt. – »Ach was, ist schon okay, mit so einem Aufsatz bin ich in fünf Minuten fertig. Dann hast du doch mehr Zeit, um die anderen Fächer abzuhaken.« So etwas in der Art hatte sie gesagt, in ihrem fließenden Englisch, mit zauberhafter Stimme und wallendem blonden Haar, und gelächelt hatte sie. – »Äh, also der Titel des Aufsatzes heißt: ›Mein Tagesablauf.‹ Es würde schon reichen, wenn du mir alles in ganz einfachen Worten schreiben könntest. Mach die Sätze aber nicht so kompliziert, sonst kommt raus, daß ich es nicht selbst geschrieben habe. Etwa so wie dieser Beispieltext hier, das wäre schon okay«, hatte ich, so gut es eben ging, erklärt.

»Also los: Wann stehst du morgens auf, Shibæmi? Frühstückst du japanisch? Oder ißt du Brot? Und was machst du nachmittags?«

Solche Fragen stellte sie mir, und in Null Komma nichts hatte sie den Aufsatz fertig. Als mir beim Anblick des Manuskriptpapiers rausrutschte: »Oh, in so einer schönen Schrift kann ich das aber nicht abgeben, das muß ich noch mal mit meiner Klaue schreiben!«, hatte Sarah laut gelacht.

So wurden wir allmählich immer lockerer und unterhielten uns über Gott und die Welt. Es war ein angenehm luftiger Abend, die Glöckchenzikaden zirpten. Die Ellbogen auf das niedrige Eßtischchen gestützt, das ich ihr in mein Zimmer gestellt hatte, hatte Sarah meinen Aufsatz geschrieben. Mit einem Schlag war aus meinem Zimmer eine seltsame, wie in leuchtende Farben getauchte Welt geworden. Gold und Blau. Weiße, fast durchscheinende Haut. Ihr markantes Kinn, wenn sie mir direkt in die Augen sah und nickte.

[80] Wie die schwarzen Schiffe!1, dachte ich. Es war das erste Mal, daß ich mit jemandem aus dem Ausland so nah zusammensaß und redete. Ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, war sie da, mitten in meinem Zimmer. Der Wind trug die traditionelle Musik vom Sommerfest herüber. Der Himmel war schwarz, und am fernen Firmament stand ein voller Mond. Durchs weit geöffnete Fenster wehte ab und zu ein Lüftchen herein.

»Gefällt es dir in Japan?«

»Ja, sehr. Ich habe hier schon viele Freunde gefunden. An der Uni. Und dann noch die Freunde von Yoshiheero. Ich glaube, dieses Jahr wird mir unvergeßlich bleiben.«

»Was gefällt dir eigentlich an meinem Bruder?«

»Yoshiheero ist ein richtiges Energiebündel, unweigerlich zieht er alle Blicke auf sich. Aber es wäre zu einfach, das nur als energiegeladen zu bezeichnen. Ich habe ein aus seinem Innern hervorsprudelndes, unerschöpfliches Etwas gespürt, eine starke geistige Energie. Allein dadurch, daß wir zusammensind, kann auch ich mich im Nu verändern – so ein Gefühl habe ich bei ihm. Ein Gefühl, als könnte ich auf eine völlig natürliche Weise an einen Ort weit in der Ferne gelangen.«

»Was studierst du eigentlich, Sarah? Gehst du bald zurück an die Uni in Boston?«

»Ich studiere Japanologie. Und in einem Jahr fahre ich wieder nach Hause zurück… Die Trennung von [81] Yoshiheero, das wird zwar traurig werden, aber meine Eltern lieben Japan und kommen oft hierher, und auch Yoshiheero hat gesagt, er möchte mal nach Amerika kommen. Also werden wir uns bestimmt treffen können. Im Moment bin ich voll damit beschäftigt, Japanisch zu lernen. Aber das Studieren ist für mich eher eine Art Hobby, weißt du? Ich werde es wohl nie ganz aufgeben, aber eigentlich möchte ich eine gute Mutter werden, so wie meine Mutter. In diesem Sinne interessiere ich mich sehr für die japanischen Frauen. Ich selbst kann mich in vielen Dingen viel eher mit den Japanese girls identifizieren als mit amerikanischen Mädchen. Denn für typisch amerikanisch halte ich mich nicht. Später werde ich bestimmt einen Geschäftsmann heiraten, ja, einen im international business, so wie mein Vater. Und dann möchte ich eine fröhliche, ordentliche Familie gründen.«

»Yoshihiro… es besteht zwar die Möglichkeit, daß er etwas Internationales wird, aber ob er sich zum Geschäftsmann eignet?«

»Hahaha, da hast du recht, sie würden ihn gleich feuern. Er führt sich ja ziemlich egozentrisch auf, nicht wahr?«

»Na ja, schließlich ist er noch Oberschüler, vielleicht ändert er sich noch. Es wäre doch schön, wenn er sich mal für so eine Arbeit interessieren würde, oder? Vielleicht kannst du ihn ja dazu bringen?«

Ganz kindlich sagte ich Dinge, die ferner lagen als ein Traum. Aber auch Sarah verhielt sich wie ein Kind, als ob sie all dies träumte, in aller Seelenruhe, unangefochten von der Wirklichkeit. Ihr kerzengerader Rücken, ohne Angst vor der Zukunft. Sarah lachte leise und sprach wie im Traum. Sie hatte furchtlose Augen, die, gerade frisch [82] verliebt, allein Yoshihiro sahen. Augen, die noch glaubten, daß alle Träume in Erfüllung gehen, daß sich die Wirklichkeit bewegt, wenn man sie anstößt.

»Ja, es wäre toll, wenn es Yoshiheero wäre. Dann hätte ich eine Familie in Japan und eine in Boston und könnte immer hin- und herfahren. Das wär überhaupt oberklasse, nicht? Ich mag Japan sehr, und wenn Yoshiheero Boston gefallen würde, hätten wir jeder zwei Länder, das könnte ich mir gut vorstellen. Und dann Kinder, die zweisprachig aufwachsen…! Und Reisen mit der ganzen Familie. Zu schön, um wahr zu sein, nicht…?«

Das mit Sarah war schon ziemlich lange her. Ohne auch nur im geringsten an sie zu denken, ohne zu wissen, was sie jetzt wo machte und wie es ihr überhaupt ging, fiel mir an diesem ganz normalen Tag unvermutet der Brief an sie in die Hände. Ein zusammengeknülltes Blatt Papier, das aus der hintersten Ecke des Schreibtischs, aus der tiefsten Finsternis der Schublade zum Vorschein kam. Was ist das wohl? Mit diesem Gedanken hatte ich es herausgefischt, und indem ich das Blatt auseinanderfaltete, schien sich mit dem Rascheln des Papiers ein langjähriger Bann langsam in Luft aufzulösen. Damit fing vermutlich alles an.

Liebste Sarah,

es war Frühling, als ich zum Flughafen fuhr, um meinen Bruder zu verabschieden.

Als wir ankamen, warteten Yoshihiro und seine Freundinnen – oh, entschuldige, er hatte damals viele Freundinnen –, herausgeputzt wie bunte Blumen, schon auf uns. Der Himmel war ganz blau, und [83] angesteckt von der Superlaune meines Bruders, der sich auf die Reise freute, waren wir alle ausgelassen. Es war richtig fröhlich. Alle beglückwünschten ihn zu Eurer Liebe. Merkwürdig ist es schon, aber mein Bruder hat das Talent, jeden sofort von allem, was er tut, zu überzeugen. Aber das weißt Du ja selbst.

Es war gerade Kirschblütenzeit,...