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Gedanken eines Katers beim Dösen - und andere Geschichten

Herbert Heckmann, Heiner Boehnke, Sarkowicz Hans

 

Verlag Societäts-Verlag, 2015

ISBN 9783955421304 , 149 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Ein Stiller im Lande


Erst die Nachwelt entscheidet, ob ein Genie mit Recht verkannt wurde.
Ich lernte den Dichter Gustav Wesen auf einer Abendgesellschaft von Herrn Dr. h. c. Friedrich Rasp kennen, einem feinsinnigen Taschentuchfabrikanten, der, wenn es ihm die Zeit erlaubt, sehr viel für die Kunst tut. Er besitzt übrigens eine viel bewunderte Schmetterlingssammlung, hält sich ein Rennpferd und eine Geliebte und hat noch Muße, auf Spaziergängen im Schwäbischen mit Gustav Wesen über Gott und das Schöne zu plaudern. Er war ein Mensch, der zuzuhören verstand, wenn ich auch den Verdacht hatte, dass bei ihm das Interesse über sein Verständnis hinausging. Er verehrte Gustav Wesen über alles.
„Sie werden sehen“, sagte er mir einmal, „das ist ein ganzer Künstler, wie er selten geworden ist. Nicht so wie Grass und Hochhuth oder wie sie alle heißen mögen, die kein Deutsch mehr schreiben können.“
„Man hört aber sehr wenig von Gustav Wesen“, warf ich ein.
„Weiß ich, weiß ich“, beruhigte er mich, „von einem Hölderlin wusste man damals auch nicht sehr viel – und wie steht er heute da.“ Er zog die rechte Augenbraue hoch, oder war es die linke, und fuhr fort: „Erst die Nachwelt entscheidet über die wahre Größe.“
Überraschenderweise entsprach Gustav Wesen haargenau meinen Vorstellungen, die ich mir auf Grund der Bemerkungen von Friedrich Rasp gemacht hatte. Er war mittelgroß, eine schlanke, etwas vorgebeugte Gestalt mit ruhelosen Armen. Ich schätzte ihn zwischen 40 und 60. „Wesen“, stellte er sich vor und schaute mich mit großen Augen an, die unendlich gelangweilt dreinblickten. Ich sagte meinen Namen, als ich seine Hand schüttelte. Es schien ihn zu belästigen. Er wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln wieder der Dame zu, mit der er sich unterhalten hatte, und ich hörte, wie er sagte: „Drei Tage war ich grässlich krank und wollte keinen Menschen sehen. Ich konnte den Anblick der fotografierenden Touristen nicht mehr ertragen. Man sollte im Winter nach Italien fahren. Dann ist das Licht am schönsten. Ich feiere gern Weihnachten in Rom. Sie sollten das auch einmal tun. Ich finde, dass die römischen Priester nach Weihnachtsgebäck duften.“
Rasp nahm mich zur Seite und fragte: „Nun, wie gefällt Ihnen unser Dichter? Er hat bezaubernde Einfälle. Die Frauen liegen ihm zu Füßen. Er nennt sie ,die sanften Polster des Ruhms‘. Sie sollten einmal über ihn schreiben. Hier haben Sie wirklich einen Dichter.“
Ich sah zu Gustav Wesen hin. Er hatte das entzückte Gesicht eines kleinen Jungen, der eine saftige Kirsche stiehlt. Es war gar nicht so leicht, Material über Gustav Wesen aufzutreiben. Er zog den Schmollwinkel der Innerlichkeit dem Marktplatz der Publicity vor. Er war, wie Gottfried Keller einmal sagte, einer von den Stillen im Lande. Rasp gab mir, was er hatte, den Rest beschaffte ich mir aus Bibliotheken und aus Zeitungsarchiven. In Gesprächen mit seinen Freunden und Feinden stellte ich fest, dass Gustav Wesen ein Meister der Mystifikation sein musste. Er erzählte jedem etwas anderes, liebte vielsagende Andeutungen und ließ sich nie gern festlegen. Schon sein Elternhaus stellte mich vor große Rätsel.
Gustav Wesen wurde mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit am 7. April 1920 als Sohn des Kostümverleihers Hubert Wesen und dessen Ehefrau Friederike, geborene Wunschsiedel, in Berlin geboren. Fritz Martini indes behauptet in seinem kleinen Aufsatz ,Das Wagnis der Stille‘ (eine biographische Studie über Gustav Wesen, Tübingen 1956), dass der Vater höchstwahrscheinlich Offizier gewesen sei. Ich konnte keinen Beleg dafür finden. Eine Tante des Dichters, die ich in Frankfurt aufsuchte und die, wie ich zugeben muss, sehr schwerhörig war, erklärte mir mit lauter Stimme: „Der Vater vom Gustel war Amtsrichter in Potsdam. Er hat sich später von seiner Frau getrennt. Sie müssen wissen, meine Schwester war eine sehr schöne Frau und hatte viele Anbeter. Was aus Hubert geworden ist, weiß ich nicht. Er hatte schöne Haare.“
In einem Lebenslauf, den Gustav Wesen kurz vor seinem Abitur verfasste, steht in steiler Schönschrift: „Ich wurde am 7. April 1920 als Sohn des Exportkaufmanns Johann Wesen geboren. Meine Mutter war Schauspielerin. Als ich vier Jahre alt war, kam mein Vater bei einem Jagdunfall ums Leben.“ So weit der Lebenslauf, der als eine frühe Erzählung des Dichters gewertet werden muss. Ich verlasse mich auf die Eintragung im Geburtsregister. Hermann Pongs erwähnt in einer Fußnote seines Buches ,Dichter des Lichts‘ (Gütersloh 1954), dass die Mutter nicht eine geborene, sondern eine verwitwete Wunschsiedel sei. Über den ersten Mann konnte ich jedoch nichts finden.
Gustav Wesen war ein schwächliches Kind, das alle interessanten Kinderkrankheiten durchlitt, die die moderne Medizin kennt. Thomas Mann hätte ihn mickrig genannt. Kinderbilder zeigen ihn mit einer Ponyfrisur, einem Matrosenanzug, wie es damals die knäbische Mode war, und großen dunklen Augen. Er wuchs bei seiner Tante auf, einer Schwester seiner Mutter, die mit ihrem Mann und einem Dutzend Kanarienvögeln ein hübsches Haus in Berlin-Grunewald bewohnte. Kinder blieben ihr versagt. Ihr Mann nahm kaum teil an ihrem Leben. So bereitete sie allein mit Hilfe einiger kinderliebender Freundinnen Gustav Wesen auf die Schönheiten des späteren Lebens vor. Mit anderen Kindern kam er nur sehr selten in Berührung. „Mach dich um Gottes willen nicht schmutzig, sonst bekommst du einen Ausschlag“, ermahnte ihn die Tante. Die Angst vor Schmutz wurde zum Leitmotiv seines Lebens.
Der Trieb zum Schreiben, der wie der Liebestrieb in die Zeit des ersten Bartes fällt, stellte sich bei Gustav Wesen schon früher ein. Als zarter Achtjähriger verfasste er artige Gelegenheitsgedichte für Geburtstage und andere Familienfeste. Ein Gedicht auf den Tod eines Kanarienvogels hat sich erhalten. Es kündet von frühem Schmerz. Seine Beobachtungen, Gedanken und Träume schrieb der junge Dichter mit grünem Stift in ein Notizbuch. Über seine ersten Gedichte, die später in einem Privatdruck erschienen, ist nichts anderes zu sagen, als dass sie ziemlich korrekt gereimt sind. Will Vesper jedoch glaubte, in ihnen schon den Huf des Pegasus erkennen zu können. Er zitiert in seinem kleinen Essay ,Junge Helden des deutschen Geistes‘ (,Die Neue Literatur‘, 3. Heft 1940) eine besonders charakteristische Strophe:
Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land;
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd’ ich es immer wieder finden.
Es muss Will Vesper wohl entgangen sein, dass diese Strophe aus einem Gedicht von Heinrich Heine stammt, den Gustav Wesen mit großem Erfolg für seine Tanten plagiierte. Seine Mutter sah ihn nur selten. Sie überhäufte ihn mit Geschenken. „Du siehst blass aus, mein Kleiner, du wirst mir doch kein Mauerblümchen werden“, sagte sie oft zu ihm. Er schrieb alles, was seine Mutter sagte, in sein Tagebuch.
Im Frühjahr 1930 kam er in die Sexta des Französischen Gymnasiums zu Berlin. Er hatte oft Nasenbluten und litt unter seinen Klassenkameraden, die ihn „die Großtante“ nannten. Sein ehemaliger Deutschlehrer, den ich aufsuchte, konnte sich noch gut an ihn erinnern. „Natürlich kenne ich den kleinen Gustav Wesen noch, war ein verträumtes Bürschchen mit einem Kopf voll seltsamer Einfälle, war oft krank und kaute an seinen Fingernägeln, klappte zu Hause wohl nicht ganz. Was wohl aus ihm geworden ist?“
Ich sagte es ihm, was den alten Schulmann gar nicht sonderlich beeindruckte. „Hätte eher etwas Hochstaplerisches von ihm erwartet!“
Freunde schien Gustav Wesen damals keine gehabt zu haben. Ein Mitschüler von ihm, den ich ausfindig machte, berichtete mir: „Ich kann mich dunkel an den Wesen erinnern, ein blasser Kerl, der während der Turnstunde Gedichte schrieb. Einmal wurde er dabei erwischt, aber er dachte nicht daran, seine lyrischen Produkte herauszurücken. Er verschluckte sie mit einem wollüstigen Lächeln.“ Im Jahre 1937 nahm ihn seine Mutter, die wieder geheiratet hatte, zu sich.
Mit seinem Stiefvater, einem Professor für Vor- und Frühgeschichte, kam Gustav Wesen sehr gut aus. Er legte seine extreme „lyrische Gimpelhaftigkeit“ ab, wie er sich in seinem Tagebuch ausdrückte, und widmete sich männlicheren Tugenden. Er trat in die Hitlerjugend ein und stählte seine Beine auf langen Märschen. Das Vaterländische und verschiedene Liebesgefühle vereinigten sich bei ihm auf eine sehr glückliche Weise. Fotografien aus dieser Zeit zeigen ihn in kriegerischer Pose, die Hand am Koppelschloss, freilich wirkte er bei aller Wikingerhaftigkeit noch sehr neurasthenisch.
Im April 1938 druckte eine Berliner Tageszeitung ein Gedicht von ihm ab, das den Titel ,Deutschland‘ trug. Einflüsse von Hölderlin und Stefan George sind unverkennbar. Josef Nadler hat das in seinem Aufsatz ,Das Deutsche als Einbildungskraft des Dichters‘ (Wien 1944) klar erkannt. Er schreibt: „Gustav Wesen zeigt in seinen ersten Gedichten, dass man viel von ihm erwarten durfte. Noch stützte er sich auf große Vorbilder, aber sein untrüglicher Instinkt ließ ihn die echten Vorbilder wählen.“ Schon ein Jahr später erschien sein erster Gedichtband, dem er den Titel ,Die große Weihe‘ mit auf den Weg gab. Das Bändchen, das nur 32 Seiten zählt, ist heute kaum mehr aufzutreiben und wird antiquarisch sehr hoch gehandelt.
In der Zeitschrift ,Die Neue Literatur‘ brachte Will Vesper eine hymnische Besprechung. Er sagte unter anderem: „Verlangte man von uns, ein Wort zu finden, das die Haltung dieser Dichtungen umschreibt, so möchten wir sie die Dichtung einer neuen Männlichkeit nennen. Denn...