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Das Sternenboot - Roman

Stefanie Gerstenberger

 

Verlag Diana Verlag, 2015

ISBN 9783641150365 , 528 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Dies wäre ein guter Moment, um zu sterben, dachte Flora, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Die Zeit stand einen Moment lang still, wie um den Augenblick zu würdigen, dann zog die Hebamme Concettina mit einem Ruck den blauen Vorhang auf. Das sanfte Rosa der Morgendämmerung drang in den Raum. Flora weinte immer noch. Sie lag in einer warmen, klebrigen Lache, wahrscheinlich Blut, sie hatte nicht nachgeschaut. Ihre Oberschenkel zitterten von der Anstrengung der vorangegangenen Stunde. Es war vorbei. Ab und an fuhr noch ein Echo des Schmerzes durch sie hindurch und sammelte sich krampfend in ihrem Unterleib. Sie sah, wie die Wände immer heller wurden und die Farben mit dem Tageslicht zurückkehrten. Sie hatte diese Zeit am frühen Morgen schon immer geliebt. Aus dem Radio von Signora Mantelli war Klaviermusik zu hören. Die dunklen Töne drangen aus dem Erdgeschoss durch das offene Fenster und verklangen allmählich im langsamen Rhythmus des Stücks. Die Tränen liefen weiter an Floras Schläfen entlang, hinunter in ihr verschwitztes dunkles Haar. Wenn man so glücklich ist, muss sterben ganz leicht sein, ging ihr durch den Kopf.

»Ah, das Bett, das gute Bett, die guten Matratzen …«, murrte die Hebamme und strich sich die wenigen grauen Haare auf dem Kopf glatt. »Warum hast du mich nicht früher gerufen? Da wäre noch Zeit gewesen, dich auf den Tisch in der Küche zu packen …«

Doch Flora nahm nur die Nachbarinnen Pia und Ada wahr, die sich mit leisen Schritten um sie herum bewegten. Mitten in der Nacht hatten die Frauen Tommaso in der Küche umhergehen hören, vor Aufregung war ihm irgendetwas aus der Hand gefallen und zerbrochen. Sie hatten sofort gewusst, dass es so weit war, hatten Mann und Kinder schlafend in den Betten zurückgelassen und waren zu Flora hinübergeeilt. Während Tommaso loslief, um die Hebamme zu holen, waren sie bei ihr geblieben, um ihr den Schweiß abzutupfen, die trockenen Lippen mit Zitronenwasser zu befeuchten und die Hand zu halten. Flora mochte die beiden, sie waren jung und neugierig wie sie selbst, unter ihnen gab es keine Missgunst, dafür häufig etwas zu lachen. Pia kam nun mit einer Schüssel und wusch Floras Unterleib sanft mit warmem Wasser. Ada breitete ein Tuch unter ihr aus und wechselte das Laken so geschickt, dass Flora kaum ihren Körper anheben musste. Flora lächelte. An diesen Augenblick, in dem ihr Sohn mit einem letzten warmen Schwall aus ihr herausgeglitten war, würde sie sich bis an ihr Lebensende erinnern. Sie hatte es nicht nur überlebt, sie hatte es auch noch besonders gut und richtig zu Ende gebracht!

Die Tränen liefen immer noch, doch Flora schämte sich nicht mehr für den salzigen Strom, der von einem Schluchzen, das beinahe nach Lachen klang, begleitet wurde. Concettina tätschelte Floras Schulter, sie hatte schon viele Frauen weinen sehen, die gerade geboren hatten.

»Es ist das Glück, das ihr aus den Augen strömt«, sagte sie zu den Frauen, während sie die Plazenta vor das Fenster hielt, um zufrieden festzustellen, dass nicht das winzigste Stück in Floras Bauch zurückgeblieben war.

»Was hast du gesagt, wo ist ihre Mutter?«, raunte sie Ada zu. »Und was ist mit der Schwiegermutter? Die sind doch immer die Ersten, die sich Wochen vorher einquartieren …«

»Soviel ich weiß, sind beide noch in Mistretta, wahrscheinlich sehnsüchtig wartend, mit gepackten Koffern«, tuschelte Ada zurück. »Flora hat ihnen nicht den richtigen Termin verraten wollen, hat um einen Monat getrickst …«

»Aber was für ein Drama ist denn da passiert?« Die Hebamme schüttelte den Kopf. Bei den Schwiegermüttern verstand man das ja noch, aber die eigene Mutter nicht dabeihaben zu wollen? »Haben sie Streit? Es war doch nicht etwa eine fuitina!«

»Nein! Sie sind nicht heimlich durchgebrannt. Schaut doch!« Mit einem Stolz, als ob sie ihr selbst gehörten, wies Ada auf die dunkelbraunen schweren Möbel, die das Schlafzimmer beherrschten. Eine wuchtige Kommode, ein metallenes Kopfteil am Bett, ein Schrank, der die ganze Wand einnahm und das wenige Licht schluckte. »Sie ist die einzige Tochter, sie hätte sich doch um ihre Aussteuer gebracht. Nein, nein, sie hat bekommen, was sie wollte. Die Hochzeit, die Möbel, den Mann!« Ada seufzte, wie immer, wenn sie an ihren Nachbarn Tommaso Messina dachte. Diese Augen! Die Vorhänge, die Flora für das Schlafzimmer genäht hatte, hatten genau dieselbe Farbe. Wie das Meer an einem dieser typischen Tage im Mai, wenn das Wetter umschlägt und der Sommer endlich kommt.

»Sie hat Glück, dieses kleine Frauchen aus den Bergen«, murmelte die Hebamme Concettina jetzt. Die Nachbarinnen nickten eifrig. Wirft beim ersten Kind so leicht wie eine Kuh ihr zehntes Kalb, fuhr Concettina in Gedanken fort. Ein paar Presswehen, und schon war er da. Und dann noch ein so bildschöner Junge! Die meisten Neugeborenen sind verknautscht wie ein Laken, das man nicht rechtzeitig zum Trocknen aufgehängt hat. Sie sind rot und fleckig, haben hängende, griesgrämige Bäckchen und geschwollene Augenschlitze, die sie nicht öffnen wollen. Aber dieses hier … Weißt du überhaupt, wie gesegnet du bist, Frau aus Mistretta?

Die Hebamme legte den Mutterkuchen in eine Schüssel aus Emaille und deckte ihn mit einem Tuch zu. Die alte Anna würde ihr ein hübsches Sümmchen dafür geben, ihn dann auswaschen und aus dem Blut verschiedene Heiltränke, Tropfen und Tinkturen herstellen.

Es war tatsächlich keine schwere Geburt gewesen, kaum zwei Stunden hatte Flora gebraucht, um ihr erstes Kind ans Licht der Welt zu pressen. Die Vorwehen hatte sie im Schlaf hinter sich gebracht. Sie hatte geträumt, in einer Backstube zu stehen. Es war wohlig warm, und sie war der Ofen, in dem die Leute ihre Brote backen ließen. Ihr Bauch zog und schmerzte, nicht übermäßig, aber doch spürbar, und immer wieder kam jemand an, öffnete ihren Bauch mit einer kleinen Tür, die seltsamerweise darin eingelassen war, und legte einen Laib Brot hinein. Sie erwachte in dem Augenblick, als die Fruchtblase platzte und das Bett durchnässte. Sie hatte sich so geschämt! Mein Gott, sie hatte ins Bett gemacht. Warum war das passiert? Warum hatte sie das Wasser nicht halten können? Mit einem Handtuch zwischen den Beinen versuchte sie, wieder einzuschlafen, und hoffte, dass Tommaso nichts merkte. Gleich am Morgen würde sie das Bett frisch beziehen. Doch dann wurden die Schmerzen immer stärker, bohrten in ihrem Rücken, bis sie unerträglich wurden und sie laut aufschrie. Tommaso fuhr hoch, als ob ihn jemand mit der Pistole bedrohte. Plötzlich war der Schmerz wieder weg. Flora lächelte, während sie stöhnend aufatmete. »Ich weiß nicht, aber ich glaube, du musst die Hebamme holen.«

Kleines, starrköpfiges Ding, hast so lange gewartet, mich zu rufen, dass es dann zu spät war, dich auf den großen Tisch in der Küche zu legen, dachte Concettina weiter, jetzt sind die obersten zwei der vier Matratzen dahin, und dein Mann wird euch neue kaufen müssen. Die billigen, gefüllt mit Maisblättern, werden es sein. Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Außer den massiven teuren Möbeln gab es vermutlich nichts Wertvolles in diesem Haus, doch etwas Heiteres lag zwischen den kargen Mauern und durchdrang alles darin, man meinte es beinahe greifen zu können.

Es kam sehr selten vor, dass Concettina in den Wohnungen, in die sie gerufen wurde, ein solches Ausmaß von Glück und Zufriedenheit wahrnahm. Egal, ob bei den Armen oder den Reichen. Wenn, dann konnte sie manchmal den Respekt der Ehepartner füreinander spüren, die meistens von den Eltern oder Verwandten ausgewählt worden waren.

Nachdem die Nachbarin Flora behutsam ein frisches Nachthemd übergestreift hatte, deckte Concettina sie mit einem sauberen Laken zu, legte den gewaschenen und stramm in ein Tuch gewickelten Jungen neben die Wöchnerin auf das Kissen und holte dann den Vater herein. Tommaso betrat zögernd und voller Ehrfurcht das kleine Zimmer. Die drei Frauen hielten in ihrer jeweiligen Tätigkeit inne. Sie wollten sehen, wie er seinem Erstgeborenen begegnete. Die Uniform der Carabinieri, die er für den Frühdienst in der Kaserne an der Via Fontana trug, glänzte in sattem Dunkelblau. Auch Floras Blick hing zwei Jahre nach der Hochzeit immer noch hingerissen an ihrem Mann. Er war zehn Jahre älter als sie, hochgewachsen, mit ernstem Gesicht zwar, aber leuchtend blauen Augen und einem leicht belustigten Zug um den Mund. Tommaso beugte sich über das hohe Bett, er küsste Flora nicht, das würde sich unter den Augen von Hebamme und Nachbarinnen selbst nach einer Geburt nicht schicken.

Er war noch immer verliebt in sie, wie in dem Moment, als sie ihm vor fünf Jahren in Mistretta, hoch in den Bergen der Madonie, aus Versehen in die Arme gelaufen war. Er war auf Urlaub von der Armee gekommen, und das kleine Mädchen, die freche Tochter des Kioskbesitzers, war plötzlich eine junge Frau. Zwar nicht sehr groß, doch mit was für einem tiefgründigen, lebenshungrigen Blick und was für einem Mund! Ach, er war immer noch ganz verrückt nach ihren weichen Lippen und ihrem sinnlich runden Körper.

Die Hebamme schnaufte. Tommaso wusste, dass diese in die Breite gegangene Alte genau mitbekam, was sich in den Häusern, in die sie gerufen wurde, abspielte, und alles, was sie hier sah, weitertratschen würde. Sollte sie doch! Er flüsterte seiner Frau ein zärtliches »Amore mio!« zu. Erst dann besah er...