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Lügengrab - Ein Nordsee-Krimi

Hendrik Berg

 

Verlag Goldmann, 2016

ISBN 9783641161552 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Sie lag alleine im Bett, starrte an die Decke und lauschte in die dunkle Stille der Nacht. Der fast volle Mond blickte stumm durch das halboffene Fenster herein. Nur der Wind, der leise über die Marsch blies, war zu hören, dann und wann übertönt vom schläfrigen Schnattern einer Gans und dem Stampfen einer Kuh im Stall. Es herrschte Ebbe, das Meer hatte sich bis weit hinter den Horizont zurückgezogen. Aus der Ferne war sein leises Rauschen nur zu erahnen.

Seit Stunden versuchte sie, Schlaf zu finden, ohne Erfolg. Sie kam einfach nicht zur Ruhe. Immer und immer wieder tauchten die gleichen schmerzenden Gedanken in ihrem halbwachen Bewusstsein auf. Zu viel war geschehen, zu viel gesagt worden.

Wie sollte es jetzt nur weitergehen? Würden sie je wieder normal miteinander reden können? Sie dachte daran, wie wütend er gewesen war, als er vorhin das Haus verlassen hatte.

Leise stöhnend drehte sie sich auf die Seite und starrte ins Nichts der grauen Wand.

Hatte sie einen Fehler gemacht? Hätte sie ihm nicht die Wahrheit sagen sollen? War sie zu direkt gewesen? Sie seufzte. Diplomatie war vielleicht nicht ihre Stärke. Trotzdem, sie waren beide erwachsen, wieso konnten sie da nicht offen und vernünftig miteinander reden?

Die Wahrheit war: Sie liebte ihn einfach nicht. Und das hatte sie ihm gesagt. Natürlich war ihr das schwergefallen. Es war ja nicht so, dass sie viel Übung darin hatte, Männern unangenehme Wahrheiten zu sagen. Ganz im Gegenteil, er war erst der dritte Mann in ihrem Leben. Die anderen beiden hatten sie verlassen und sich dabei wenig Mühe gegeben, ihre Gefühle zu erklären, sondern sich einfach aus dem Staub gemacht.

Wie sehr hatte sie gehofft, dass es dieses Mal etwas werden könnte! Wie sehr hatte sie sich nach einem richtigen Partner gesehnt! Endlich nicht mehr alleine sein. Nicht mehr alleine im Stall stehen, ohne Hilfe auf dem Feld arbeiten und dann abends erschöpft und einsam auf dem Sofa einschlafen.

Endlich wieder verliebt sein.

Aber es hatte einfach nicht funktioniert.

Lange Zeit hatte sie den Grund dafür nur bei sich selbst gesucht. Wenn er ungeduldig wurde, hatte sie sich bemüht ruhig zu bleiben. Hatte er über das Essen gemeckert, hatte sie versucht besser zu kochen. Wenn er sie mit starrem Blick abschätzig gemustert hatte, hatte sie sich hübscher angezogen und war zum Friseur gegangen.

Das alles hatte sie getan, weil er liebevoll und zärtlich sein konnte. Weil sie manchmal wie kleine Kinder miteinander lachten. Und weil sie glaubte, in seinen starken Armen Ruhe und Sicherheit zu finden.

Aber nur ein kleiner Anlass und sofort waren wieder seine Ungeduld und sein Jähzorn aus ihm herausgebrochen. Wenn er sie dann mit wutverzerrtem Gesicht ansah, wirkte er auf einmal wie ein völlig anderer Mensch.

Mit einem leisen Seufzer richtete sie sich auf und setzte sich auf die Bettkante. Auf dem Nachttisch stand ein Krug mit kaltem Wasser. Sie goss sich ein Glas ein und trank einen großen Schluck. Dann stellte sie sich ans Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Der Mond spiegelte sich in den langen Kanälen, die das Grün der Marsch zerschnitten, bevor er wieder hinter einer Wolke verschwand. Mit geschlossenen Augen atmete sie die frische Nachtluft ein. Schließlich legte sie sich zurück ins Bett, ließ aber die Vorhänge offen, um den Himmel weiter sehen zu können.

Am meisten Angst machten ihr seine Selbstgespräche. Immer wieder erwischte sie ihn dabei, wie er leise murmelnd mit sich redete, manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, sogar laut mit sich selbst schimpfte. Als wenn er nicht alleine in seinem Körper steckte, so als stünde ein Geist neben ihm, den nur er sehen konnte.

Als sie ihn besorgt darauf angesprochen hatte, hatte er sie wütend aufgefordert, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Und sie schließlich auf dem Feld aufgebracht gegen einen Strohballen gepresst.

»Was hast du gehört? Sag mir sofort, was du gehört hast, du Miststück!«, hatte er gefaucht und ihr heiße Spucke ins Gesicht gestoßen.

In dem Moment war ihr klar geworden, dass sie getrennte Wege gehen mussten. Aber wie sollte sie ihm das sagen, ohne ihm wehzutun? Immer wieder hatte sie sich in den letzten Wochen die Sätze zurechtgelegt und doch geschwiegen. Bis heute. Er hatte mal wieder einen Tobsuchtsanfall bekommen. Und das nur, weil sie auf dem Markt freundlich mit Morten, einem Nachbarn, geplaudert hatte. Auf dem langen Weg zurück zu ihrem kleinen Hof hatten sie beide keinen Ton gesagt. Erst zu Hause in der Küche hatte sie die Kraft gefunden, ihm die Wahrheit zu gestehen:

»Ich kann nicht mehr. Ich liebe dich nicht. Ich will, dass du gehst, jetzt!«

Ihre Worte hatten ihn schwer verletzt. Wie ein getroffener Boxer hatte er den Kopf einzogen und war mit ungläubigem Blick vor ihr zurückgewichen. Für einen Moment hatte er wie ein kleines Kind gewirkt, dem die Mutter die Liebe entzogen hat. Schon bereute sie ihre Worte und wollte wieder versöhnliche Töne anschlagen, als plötzlich diese Wut aus ihm herausbrach wie kochendes Wasser aus einem Geysir.

»Du Hure! Du verdammte Hure! Was bildest du dir ein?! Du kannst mich nicht einfach so davonjagen!«, fauchte er sie mit funkelnden Augen an.

Erschrocken rechnete sie damit, dass er sie schlagen würde. Das hatte er bisher nie getan, aber sie hatte schon mehrmals bemerkt, wie er in seiner Wut die Fäuste geballt hatte. Auch jetzt schien er wieder kurz davor zu sein und konnte sich offenbar nur mit Mühe zusammenreißen.

Vorsichtig versuchte sie ihm ihre Entscheidung zu erklären, erzählte ihm, wann sie das erste Mal Bedenken gespürt hatte und seit wann für sie endgültig feststand, dass sie ihn nicht mehr liebte, ja vielleicht sogar nie wirklich geliebt hatte. Doch dann sah sie seinen verächtlichen, gleichzeitig aber auch seltsam abwesenden Blick. Sie erkannte, dass jedes Wort zu viel war. Es hatte keinen Sinn, er würde sie nie verstehen, und genau das war der Grund, warum er gehen musste. Sie lebten in verschiedenen Universen, wie konnten sie da zusammen in einem Haus wohnen, sich sogar ein Bett teilen?

Tatsächlich sah er es wohl genauso. Plötzlich schnappte er sich seine schwere Lederjacke von der Garderobe und verließ ohne einen Abschied das Haus.

Das war vor sechs Stunden gewesen. Eine Zeit lang hatte sie vor dem Fernseher auf ihn gewartet, war dann aber ins Bett gegangen.

Ob er überhaupt noch einmal zurückkommen würde? Insgeheim hoffte sie, dass er genauso plötzlich aus ihrem Leben verschwinden würde, wie er vor ein paar Monaten bei ihr aufgetaucht und schon nach kurzer Zeit auf dem Hof eingezogen war. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, wie wenig sie über ihn wusste.

Sie drehte den Kopf auf dem Kissen und schaute wieder aus dem Fenster. Erneut trieben ein paar dunkle Wolken träge vor den Mond, doch sie konnte seine milchige Scheibe hinter den grauen Schleiern noch gut erkennen.

Sie seufzte. Sie hatte das Richtige getan. Trotzdem hatte sie sich noch nie in ihrem Leben so traurig und einsam gefühlt.

Sie hörte, wie sich die Haustür knirschend öffnete, setzte sich im Bett auf und schaute an der halboffenen Schlafzimmertür vorbei ins Treppenhaus. Ein heller Schimmer drang von unten herauf. In der Küche war das Licht angeknipst worden.

Er war wieder da. Sie lauschte, wie er den Kühlschrank öffnete und wieder schloss. Das Klirren von Glas, dann das Knarren, als er auf den alten Holzdielen auf und ab ging.

Sollte sie noch mal mit ihm reden? Ihm sagen, dass er lieber auf dem Sofa schlafen sollte? Sie zögerte.

Auf einmal ein lautes Knirschen. Er kam die Treppe hinauf. Zu ihr. Plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals. Schnell verkroch sie sich wieder unter ihre Decke. Wenn er noch einmal reden wollte, sollte er den ersten Schritt machen.

Sie hörte, wie er die Tür aufschob, das Zimmer betrat und vor ihrem Bett stehenblieb. Neben der frischen Marschluft, die von draußen hereinströmte, roch es auf einmal nach altem Leder, nach Schnaps und Bier. Sie verdrehte die Augen. Eine seiner positiven Eigenschaften war eigentlich, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Männern im Norden keinen Alkohol trank. Ausgerechnet heute musste er damit anfangen.

Sie hörte seinen schweren Atem und fragte sich, was er gerade tat. Endlich zog sie sich die Decke vom Gesicht. Die Wolken waren weitergetrieben. Im wieder hellen Mondlicht konnte sie sehen, dass er direkt neben ihrem Bett stand. Die verschwitzten Haare klebten ihm am Kopf, er trug noch immer seine schwere, abgeschabte Lederjacke. Sie zuckte, als sie seine entrückte Miene sah. Wie eine Puppe. Jedes Licht war aus seinen Augen gewichen, als er den Kopf schieflegte und sie wie eine völlig Fremde betrachtete.

»Was …?«

Sie wollte etwas sagen. Aber das Wort blieb ihr im Hals stecken, als sie bemerkte, was er in der Hand hielt.

»Oh Gott, nein …«

Plötzlich, mit zusammengepressten Lippen und einem Ausdruck grenzenlosen Bedauerns hob er die Axt über seinen Kopf. Das Aufblitzen des Stahls im Mondlicht war das Letzte, was sie in ihrem Leben...