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Italienische Nächte - Roman

Katherine Webb

 

Verlag Diana Verlag, 2015

ISBN 9783641150686 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2

Ettore

Auf dem langen, dunklen Marsch vor dem Morgengrauen hat er einen anderen Mann sagen hören, Hunger sei wie ein Stein im Schuh. Erst denkst du, du könntest ihn einfach ignorieren – er nervt, behindert dich aber kaum. Doch dann macht er dir das Gehen schwer, und du fängst an zu humpeln. Der Schmerz wird schlimmer. Er bohrt sich tiefer und tiefer hinein, lähmt dich, du wirst langsam bei der Arbeit und ziehst den grausamen Blick des Aufsehers auf dich. Wenn der Stein den Knochen erreicht, schleift er sich hinein und wird ein Teil von dir, und du kannst an nichts anderes mehr denken. Er lässt dein Skelett rosten und verwandelt deine Muskeln in fauliges Holz. Der Mann erwärmte sich für dieses Bild, während sie dahintrotteten und spürten, wie ihre Knochen rosteten. Noch Stunden später fielen ihm weitere Möglichkeiten ein, das Gleichnis auszuschmücken, und seine Bemerkungen, scheinbar aus dem Nichts heraus, verwunderten die Männer, die am Morgen nicht in Hörweite marschiert waren. Während ihre Arme die Sensen schwangen, den Weizen schnitten, die Sonne aufging und sie verbrannte, Blasen unter ihren Schwielen anschwollen und hölzerne Fingerschützer an hölzernen Griffen knarrten und klapperten, gab er immer neue Ausschmückungen zum Besten. Dann verwandelt er dein Blut in Staub. Dann streckt er dich nieder. Er wandert deinen Rücken empor und bleibt in deinem Gehirn stecken. Und die ganze Zeit über schwieg Ettore, obwohl er den Vergleich dumm fand. Schließlich könnte man den Schuh einfach ausziehen und den Stein herausschütteln.

Den Hunger kann er aber nicht aus sich herausschütteln, so wenig wie er aufwachen könnte, wenn Paola ihn nicht wecken würde. Sie rüttelt ihn grob und schlägt ihn – spitze Fingerknöchel an seiner knochigen Schulter –, wenn er nicht gleich wach wird. In der Dunkelheit vor dem Morgengrauen bewegt sie sich ebenso forsch und energisch wie am Ende des Tages. Es ist ihm ein Rätsel, wie sie das macht. Woher sie die Energie dazu nimmt und wie sie im Dunkeln so gut sehen kann. Andere Männer, die von klein auf daran gewöhnt sind, wachen von allein um drei, vier Uhr auf, spätestens um fünf, doch dann ist die Aussicht auf Arbeit schon mager – wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und die Schlangen sind lang. Andere Männer brauchen nicht von ihren Schwestern geweckt zu werden wie Ettore. Ohne Paola würde er einfach weiterschlafen, tief und fest. Er würde den ganzen Tag verschlafen. Verhängnisvoll. Ein paar Augenblicke lang liegt er noch still und verlangt nichts von seinem Körper. Nur ein paar Sekunden noch ruhen in der Finsternis, die so vollkommen schwarz ist, dass er kaum sicher sein kann, ob er die Augen geöffnet hat oder nicht. Es riecht nach müder Luft, nach Erde und dem fauligen Gestank des Nachttopfs, der geleert werden muss. Im selben Moment, in dem Ettore das auffällt, hört er draußen den Sammler – die Hufe eines Maultiers klappern langsam auf dem kleinen Hof, Karrenräder quietschen.

»Scia’ scinn!«, ruft der Sammler müde und heiser. »Scia’ scinn!« Beeilt euch! Kommt herunter! Mit einem scharfen Seufzen vergewissert sich Paola, dass der hölzerne Deckel fest auf dem Keramiktopf sitzt. Dann hebt sie den schweren prisor hoch und trägt ihn hinaus. Der Gestank wird stärker. Im Dunkeln können die Nachbarn wenigstens nicht zuschauen, wenn man den Topf in das riesige Fass auf dem Karren kippt, sagt Paola. Doch wo der Karren vorbeifährt und über das unebene Pflaster rumpelt, hinterlässt er stets eine glitschige, stinkende Spur menschlicher Ausscheidungen.

Paola schließt vorsichtig die Tür hinter sich und schleicht durchs Zimmer. Das tut sie nicht aus Rücksicht auf ihren Bruder oder auf Valerio, sondern einzig, um ihren Sohn Iacopo nicht aufzuwecken. Es ist ihr lieber, die Männer sind schon weg, wenn er aufwacht, damit sie ihn in Ruhe stillen kann, aber das kommt selten vor. Das Kratzen und Zischen eines Streichholzes und das sanfte Licht einer einzelnen Kerze reichen, um das Baby aus dem Schlaf zu reißen. Er gibt einen überraschten Laut von sich und quengelt dann leise und protestierend, doch er ist vernünftig und heult nicht. Heulen ist anstrengend. Der Ammoniakgestank in dem beengten Raum kommt zum Teil von dem Kind. Es gibt kein Wasser, mit dem sie ihn oder seine Decken waschen könnte, und so wird man den Gestank nicht los. Er riecht auch ein wenig säuerlich nach Erbrochenem. Sobald Paola allein ist, wird sie ihn mit einem feuchten Lappen säubern. Ettore weiß es, aber sie passt auf, dass Valerio sie nicht dabei erwischt. Er hütet ihren Wasservorrat geradezu eifersüchtig.

Livia. Ettore verschließt die Augen vor der Kerzenflamme und sieht ihr Abbild rot in seinem Kopf auflodern. Das ist die Reihenfolge seiner Gedanken, jeden Tag: Hunger, der Unwille aufzustehen und dann Livia. Im Grunde eher Impulse als Gedanken – Livia ist genauso instinktiv mit seinem Körper verbunden, und weniger mit seinem Geist, wie die beiden anderen. Livia. Das ist eher ein Gefühl als ein Wort, unauslöschlich verbunden mit Erinnerungen an Gerüche und Berührungen, Geschmack und Verlust. Gutem und Schlechtem – Sorglosigkeit, ein paar Augenblicke lang, der Verlust von Verantwortung, von Angst und Zorn, alles weggewaschen von der schlichten Freude an ihr. Der Verlust von Zweifeln und Elend. Der Geschmack ihrer Finger, nachdem sie einen Tag lang Mandeln geschält hat – wie etwas Grünes, Reifes, in das man hineinbeißen möchte. Die Art, wie sie ihn zu nähren schien, sodass er seinen Hunger vergaß, solange sie zusammen waren. Er kann die Haut an ihren Waden noch genau vor sich sehen, dann weiter oben die Kniekehlen, weich und zart wie Aprikosen. Und da ist der Verlust von Livia wie eine klaffende Wunde, ein Riss mit zerfetzten Rändern. Er fühlt sich an wie prasselnder Hagel bei einem Sommergewitter: schmerzhaft, eiskalt, tödlich. Livia … verloren. Die Muskeln um seine Rippen ziehen sich zusammen und zittern.

»Aufstehen, Ettore! Wag es ja nicht, wieder einzuschlafen.« Auch Paolas Stimme ist hart und kalt, nicht nur ihr Gesicht und ihre Bewegungen. Alles an ihr ist hart geworden, von ihrem Körper über ihre Worte bis hin zu ihrem Herzen. Nur wenn sie Iacopo auf dem Arm hält, wird der Ausdruck in ihren Augen weich wie der letzte Schimmer nach dem Abendrot.

»Du bist der Stein in meinem Schuh, den ich nicht ignorieren kann«, sagt er, steht auf und streckt die Muskeln, die sich wie steife Taue seinen Rücken hinabziehen.

»Dein Glück«, erwidert Paola. »Wenn ich nicht wäre, würden wir alle verhungern, während du daliegst und träumst.«

»Ich träume nicht«, sagt Ettore.

Paola würdigt ihn keines Blickes. Sie geht zur anderen Seite des Zimmers, wo Valerio in einem Alkoven in der Wand schläft. Sie berührt ihn nicht, um ihn zu wecken, sondern sagt laut und nah an seinem Ohr: »Es ist schon nach vier, Vater.«

Wenn Valerio wach ist, merken sie das daran, dass er zu husten beginnt. Er rollt sich auf die Seite, krümmt sich zusammen wie ein Kind und hustet und hustet. Dann flucht er, spuckt aus und schwingt die Beine aus dem Bett. Paola starrt finster vor sich hin.

»Heute wieder Vallarta, wenn wir Glück haben, mein Junge«, sagt Valerio zu Ettore. Seine Stimme dringt rasselnd aus seiner Brust. Paola und Ettore wechseln einen kurzen, vielsagenden Blick.

»Dann beeilt euch besser«, sagt Paola. Sie schenkt beiden einen Becher Wasser ein und hebt den großen, angeschlagenen Krug dabei mit einer solchen Leichtigkeit an, dass er kaum mehr halb voll sein kann. Paola muss auf den festgelegten Tag warten, bis sie mehr Wasser vom Brunnen holen darf – entweder das, oder sie müssten das Wasser von einem Händler kaufen, und das können sie nicht. Nicht zu diesen Preisen.

Die Masseria Vallarta ist das größte Gut in der Umgebung von Gioia, gut tausendzweihundert Hektar. Selbst jetzt zur Erntezeit gehört es zu den wenigen Landgütern, die jeden Tag Arbeiter beschäftigen. Vor dem Krieg war dies die einzige Zeit im Jahr, in der allen Arbeit sicher war, wochenlang. Die Männer schliefen meist draußen auf den Feldern, statt jeden Morgen hin- und am Abend wieder zurückzulaufen. Sie erwachten mit Erde in den zerknitterten Kleidern, Tau auf dem Gesicht und scharfkantigen Steinen unter ihren schmerzenden Knochen. Endlich konnten sie die Schulden des vergangenen Winters hereinarbeiten und zurückzahlen – die Miete für ihre erbärmlichen Wohnungen, Geld für Essen und Trinken, Spielschulden. Aber jetzt garantiert nicht einmal mehr die Ernte ihnen Arbeit. Die Gutsbesitzer sagen, sie könnten sich die Tagelöhner nicht leisten. Sie behaupten, nach der Dürre im vergangenen Jahr und den Wirren des Krieges liefen ihre Geschäfte sehr schlecht. Wenn Ettore und Valerio heute Arbeit auf der Masseria Vallarta bekommen, werden sie zehn Kilometer weit laufen, um bei Sonnenaufgang mit der Arbeit zu beginnen. Es gibt nichts zu essen – sie haben gestern Abend alles aufgegessen. Wenn sie aufs Gut geholt werden, bekommen sie dort vielleicht etwas zu essen, das ihnen am Ende des Tages vom Lohn abgezogen wird. Die Männer steigen stampfend in ihre Stiefel und knöpfen die abgetragenen Westen zu. Ettore tritt hinaus in den kühlen Morgen, in die alterslosen Schatten des kleinen Innenhofs und der schmalen Straßen zur Piazza Plebiscito, wo sie nach Arbeit...