dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Sei du selbst - Geschichte der Philosophie 3

Richard David Precht

 

Verlag Goldmann, 2019

ISBN 9783641159900 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

19,99 EUR


 

Einleitung


Was für ein Jahrhundert! Am Anfang steht der Staatsstreich des achtzehnten Brumaire des Jahres VIII. Napoleon, der Rückkehrer seines ägyptischen Feldzugs, wird Erster Konsul und damit Alleinherrscher Frankreichs. In wenigen Jahren wird er die Geografie des Alten Europa umpflügen und eine politische Dynamik auslösen, die jahrzehntelang mehr als den halben Kontinent in Atem hält. Als wären die politischen Umbrüche nicht schon genug, schwankt auch bei allen anderen Gewissheiten der Boden. Mitreißender, zerstörerischer und verheißungsvoller noch als die Galionsfiguren der Weltgeschichte sind die Wissenschaften. War das 18. Jahrhundert das Jahrhundert der Physik, so ist das 19. Jahrhundert das der Biologie. Das Leben hat nun nicht nur eine Naturgeschichte wie im Jahrhundert zuvor. Es bekommt eine Entwicklungsgeschichte. Die Welt, im Jahr 1800 nur wenige tausend Jahre alt, dehnt sich nach rückwärts aus in immer schwindelerregendere Tiefe. Am Ende des Jahrhunderts zählen die Jahre in Milliarden.

Aus einfachen dunklen Anfängen zum Menschen und dann – wohin? Die Zukunft wird vom Menschen geschrieben, so viel steht fest. Doch wer bestimmt den Text? Gehorcht die Kulturgeschichte den gleichen Gesetzen wie die Natur? Schreitet sie überhaupt gesetzmäßig voran? In »Stadien« wie bei Auguste Comte? Oder als dialektische Abfolge von Klassen wie bei Karl Marx? Worin genau liegt dann die Rolle der Menschen? Sind sie dienstfertige Werkzeuge einer Vorsehung ohne Gott? Glieder einer programmierten Maschinerie? Oder ist am Ende doch alles ungeschrieben, unklar, unsicher? Irrt die Menschheit vorwärts ohne Plan?

Ob der Lauf der Welt nun vorherbestimmt ist oder nicht, in jedem Fall liegt der Weg im Dunkeln. Kein Allmächtiger und kein Licht der Vernunft leuchten den Pfad aus, der vor der Menschheit liegt. Philosophieren im 19. Jahrhundert bedeutet fast immer: Philosophieren nach Gott! Und Philosophieren nach Gott heißt, in eine Welt hinein zu grübeln, die ganz offensichtlich nicht für den Menschen geschaffen worden ist. Eine verstörende Erkenntnis! Genau zu diesem Zweck hatten sie früher den Allmächtigen immer wieder in ihre Systeme gemogelt: Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke, Kant und Hegel. Hier formen die Bedürfnisse des Menschen noch das Universum und bestimmen den Gang einer wohlprogrammierten Geschichte. Das 19. Jahrhundert aber erkennt die exzentrische Stellung des Homo sapiens. In der Geschichte der Natur steht er nicht im Zentrum, sondern genau daneben, allein, verloren und ohne Obdach. Wer jetzt von »Gesetzen« der Natur und der Gesellschaft redet, erkennt sie nicht mehr als durchdachte Regeln für eine komfortable Heimstatt, sondern als unpersönlich und fremd. Und wer weiterhin das Wort »Gott« niederschreibt, wie Søren Kierkegaard, kennt keinen Gott als Weltbaumeister mehr und kein göttliches System. Niemand und nichts fügt sich irgendwo passend ein. Übrig bleibt allein der persönliche, der subjektive Gott.

Der Umbruch ist radikal. Wahrheiten kommen nun nicht mehr von der Kanzel, sondern stehen in Zeitungen oder ticken im Takt der Telegrafie. Wer die Bibel bisher wörtlich nahm, muss lernen, sie ernst zu nehmen: als Literatur von Unwissenden (David Friedrich Strauß), als menschliche Wunschprojektion (Ludwig Feuerbach) oder als epische Verkleidung dunkler Triebe (Sigmund Freud).

Gott ist tot und mit ihm alle alte Metaphysik. Auf diese nackte Leinwand malt das 19. Jahrhundert nach und nach die Koordinaten der Moderne. Vielleicht braucht die Gesellschaft noch den Kitt der Religion, wie für den späten Henri de Saint-Simon und seinen Schüler Comte. Aber diese »Zivilreligion« betet keinen Schöpfer mehr an, sondern die erlesensten unter den menschlichen Geschöpfen. Sie mögen genial sein, kreativ und vorausblickend, wie die besten der Wissenschaftler. Aber sie sind keine Engel und fallen nicht vom Himmel. Geschaffen wurden sie wie alle Menschen aus einfachen Keimen. Der Gedanke, im 18. Jahrhundert geboren, bei Pierre Louis Moreau de Maupertuis und Denis Diderot, wird 1811 zum ersten Mal systematisch: in Jean-Baptiste de Lamarcks Philosophie zoologique (Zoologische Philosophie). Sie bietet die neue Blaupause für eine evolutionäre Gesellschaftstheorie, lange bevor Darwins Selektionstheorie dazukommt. Gesellschaften und ihre Ziele lassen sich von nun an ohne Gott erklären. Aber damit zugleich ihre »optimale« Ordnung und ihre »richtige« Moral?

Was auch immer diese passende Ordnung ist, sie muss vor allem mit dem Fortschritt vereinbar sein, mit stetigem Wirtschaftswachstum und neuer Technik. Denn deren Wunderwerke machen die Menschen schneller gottlos als alle Philosophen der Aufklärung zusammen es vermocht hatten. Die Technik zaubert Neues in die Welt und ersetzt damit Glaube, Aberglaube und Magie. In kürzester Zeit wird sie selbst zum wild umtanzten Fetisch. Auf der Leinwand erscheinen Höllenmaschinen; Eisenbahnen und Dampfschiffe zuerst, am Ende des Jahrhunderts noch Flugzeuge und das Automobil. Hochöfen schwärzen den Himmel der immer schneller wachsenden Großstädte. Die Technik ist überall. Uhren messen in der Anzugweste die Zeit nahe beim Herzen. Die Elektrifizierung beleuchtet und beschleunigt die Welt seit den 1880er-Jahren. Das Leben wird getaktet, Fahr- und Arbeitspläne bestimmen den Rhythmus. Auf den Feldern explodieren derweil die Erträge, die Nahrungsmittelchemie bereitet den Weg, Kunstdünger befeuert den Ertrag. Mehr, schneller, höher, weiter. Die Bevölkerung Europas steigt, trotz Krankheiten und Epidemien, von unter zweihundert Millionen im Jahr 1800 auf über vierhundertzwanzig Millionen im Jahr 1900. Es ist das einzige Jahrhundert, in dem sich die Bevölkerung des Kontinents mehr als verdoppelt.

Es scheint, als sei die Welt eine einzige Maschinerie geworden. Was Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein Weltprozess zum Höheren war, ist nun das Werk von Maschinen. Fortschritt wird in Fabriken fabriziert. Aber ersetzen sie wirklich den dialektischen Fortschritt zu einer immer besseren Gesellschaftsordnung? Stehen Maschinen für ein gelingendes Leben? Die Frage treibt die Maschinisten der historischen und naturalistischen Logik hervor. Die einen sehen das Gute im Kapitalismus gleichsam verkörpert, von den Klassikern der britischen Nationalökonomie bis zu Herbert Spencer. Die anderen dagegen fordern seine zügige Überwindung, wie William Godwin, Saint-Simon, Charles Fourier und Marx und Engels. Sie skizzieren, jeder auf seine Weise, einen zwingenden Weg in eine alternative Zukunft. Wenn moderne Fahrzeuge Zeit und Raum überwinden, die moderne Kommunikation alle mit allen verbindet, wenn Umwälzung das Zeichen der Zeit ist – warum überwindet man nicht auch die bisherigen Besitzverhältnisse, verbindet die Menschen als Gleiche unter Gleichen und wälzt nicht die Gesellschaftsordnung um?

Revolutionen in der Technik und in der Wirtschaft sind überall. Und in den Köpfen? Tatsächlich befeuern Wandel, Disruption und Fortschritt das Denken in alle Himmelsrichtungen, nach rechts und nach links. Was der Mensch ist, seine wahre Natur, ist nach dem Tod Gottes unergründlich. Es gibt keine »Universalien« mehr, keine feste Definition des Humanen. Wo früher »Natur« drüberstand, steht jetzt »Kultur«. Was der Mensch ist, erklärt sich durch die Antworten, die er auf seine Umwelt findet. Menschen leben nicht in einer vorgefundenen Welt, sondern sie stellen sie her, von Kontext zu Kontext verschieden. Braucht es da noch eine alles ergründende Philosophie? Die Frage nach dem Was beantwortet eine neue Disziplin, die Soziologie, die Frage nach dem Warum eine andere – die Psychologie.

Die Soziologen streben nach ganz oben: Sie schwingen sich auf zur Vogelschau der Gesellschaft, wie bei Georg Simmel, Émile Durkheim und Max Weber. Die Psychologen dagegen blicken nach unten in die Tiefe der Seele: Friedrich Eduard Beneke, Johann Friedrich Herbart, Carl Gustav Carus, Wilhelm Wundt, William James und Sigmund Freud. Die Perspektiven, die sie eröffnen, und die Theorien, die sie entwerfen, beschäftigen ihre Wissenschaften bis heute. Dabei ist ihr politischer Blick oft seltsam verengt. Wie so viele ihrer Zeitgenossen bewegen sich die Pioniere der empirischen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in einem weiten Feld bis heute nicht ausgestorbener Ismen: dem Nationalismus, dem Kommunismus, dem Sozialismus, dem Konservativismus, dem Liberalismus, dem Rassismus. Die Ismen springen ein, wo sich der Mensch des 19. Jahrhunderts seiner philosophischen Wesensbestimmung nicht mehr sicher sein kann. Sie sind »Ideologien«. Mochte Antoine Louis Claude Destutt de Tracy, der Vater des Begriffs, in der idéologie noch den Zauber einer »einheitlichen Wissenschaft der Vorstellungen und Wahrnehmungen« sehen – ihre Unmöglichkeit macht sie zum Schimpfwort. Als zweckdienliche Verkürzungen stecken die Ismen das Terrain ab, bündeln das zunehmend überfordernde Leben zu Überzeugungen, legitimieren Hass, Angst und Wut und rastern dadurch die Leinwand des 19. Jahrhunderts. Das Dynamit, das sie in sich tragen, wird bald hochgehen, fast jede dieser »Weltanschauungen« im 20. Jahrhundert eskalieren.

Das Schema von rechts und links, Restauration und Revolution, Pessimismus, Kulturpessimismus und Fortschrittsglaube – die DNA des 20. und noch des frühen 21. Jahrhunderts wird hier festgelegt. Und die neue Lohnarbeits- und Leistungsgesellschaft bildet vom frühen 19. Jahrhundert an für mindestens zweihundert Jahre die Matrix des Lebens und Zusammenlebens in Europa und Nordamerika. Erst...